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THESIS - ein Netzwerk für Doktoranden


Der Berichterstattung in den Medien zufolge scheint die Wissenschaft sich in einer tiefen Krise zu befinden. Die einzelnen Disziplinen sollten sich, so die häufig gestellte Forderung, verstärkt interdisziplinär ausrichten; zugleich wird das Hochschulsystem in vieler Hinsicht als unzureichend erachtet. Mit diesen Klagen wird zumeist auch eine politische Lösung dieser Misere angemahnt.

Im Jahre 1991 beschloß eine Gruppe von Doktoranden, nicht länger auf Abhilfe von offizieller Seite zu warten, sondern selbst im Rahmen des Möglichen tätig zu werden. Ein Netzwerk – ein Verein ohne rigide Strukturen – sollte als Basis für eine Vielzahl von Aktivitäten dienen. Alle, die ihre Promotion bereits abgeschlossen haben, ihre Doktorarbeit schreiben oder erst noch damit beginnen wollen, sollten teilnehmen können.

Seit Januar 1992 besteht nun dieses Netzwerk namens Thesis, in dem sich mittlerweile mehr als 450 Doktoranden aus der Bundesrepublik, der Schweiz, Luxemburg und Österreich, aber auch aus Ländern wie Griechenland, Großbritannien, Polen und Marokko organisiert haben. THESIS gliedert sich in zwei Ebenen: Regional läßt sich leicht der persönliche Kontakt zwischen den Mitgliedern herstellen, während der übergeordnete Vorstand alle Aktivitäten koordiniert, die das gesamte Netzwerk betreffen. Die einzelnen Regionen stimmen dabei ungefähr mit den Bundesländern überein; für die Schweiz gibt es eine eigene Regionalgruppe.

Doch ist es für Doktoranden überhaupt sinnvoll, sich zu organisieren? Und welche Probleme sollten sich mit einem derartigen Netzwerk angehen lassen?

Gerade eine Promotion stellt besonders schwierige Anforderungen. Doktoranden müssen nach den einschlägigen Promotionsordnungen eine "eigenständige wissenschaftliche Leistung" erbringen. Dies hat zur Folge, daß sie mehrere Jahre lang ein sehr spezielles Thema bearbeiten, dessen komplexe Details oft nur sie allein verstehen. In die wissenschaftliche Gemeinschaft sind sie jedoch häufig (noch) nicht eingebunden, so daß ihnen der fachliche Kontakt und somit die Gelegenheit, Einzelaspekte ihrer Arbeit zu diskutieren, fehlen. Interdisziplinäres Arbeiten ist im allgemeinen schon deshalb nicht möglich, weil kein persönlicher Bezug zu anderen Fachrichtungen besteht und man mit deren Methoden und Ergebnissen nicht vertraut ist. Für externe Doktoranden, die bereits beruflich tätig sind und ihre Dissertation außerhalb der Hochschulen anfertigen, verschärft sich diese Situation sogar noch.

Schwierig ist indes auch der psychologische Aspekt einer Dissertation. Bei einer Arbeit, die auf einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren ausgelegt ist, bleiben Rückschläge, Selbstzweifel und entbehrungsreiche Phasen nicht aus. Schon die Erkenntnis, daß andere Doktoranden in derselben Situation sind, kann da eine wichtige Hilfe sein.

Schließlich sind auch organisatorische Fragen nicht zu unterschätzen: Die Finanzierung einer Promotion, die Zeitplanung und die Organisation von Arbeitsabläufen, die Suche nach Hilfsmitteln und deren Anwendung, stilistische Fragen beim Abfassen der Dissertation und deren Veröffentlichung sind nur einzelne Beispiele.

THESIS will derartige Probleme lösen oder zumindest mildern helfen, indem zunächst allen Mitgliedern die Adressen, Arbeitsplätze, Promotionsthemen sowie Angaben zu wissenschaftlichen und privaten Interessen der anderen übermittelt werden. Jedes Mitglied vermag dann selbst auf einfache Weise herauszufinden, ob jemand in einem ähnlichen Bereich arbeitet, oder bei interdisziplinären Promotionsthemen Kontakt zu Vertretern der betreffenden Fachbereiche aufzunehmen. Auf diese Weise läßt sich sowohl ein fachspezifischer als auch ein fachübergreifender Dialog in Gang bringen sowie ein Forum für den Austausch zwischen Theorie und Praxis etablieren. Von Anfang an wurde es als wesentlich erachtet, daß jene, die entweder aufgrund ihrer Ausbildung oder eigener Erfahrungen manche der erwähnten Schwierigkeiten für sich selbst bereits gelöst haben, ihr Wissen an andere weitergeben.

Des weiteren sucht THESIS in verschiedenen Projekten die Situation von Doktoranden und bereits Promovierten zu analysieren und diese Ergebnisse allgemein zugänglich zu machen. So wurden zum Beispiel eine Studie zu Berufschancen Promovierter und ein spezieller Ratgeber erstellt ("Promotionsratgeber". Von Stefan Engel und Andreas Preißner. Zweite Auflage, Oldenbourg-Verlag, München 1995); darauf aufbauend wird gegenwärtig eine Untersuchung zu Schlüsselqualifikationen von Promovierten durchgeführt.

Geeignete Foren zum Dialog bieten des weiteren die netzwerkeigene Zeitschrift "These" sowie eine moderierte Internet-Diskussionsgruppe. Hier werden beispielsweise Tips und Informationen zur Promotion und zur Berufsplanung, Veranstaltungshinweise, aber auch Forschungsergebnisse, Erkenntnisse und Methoden verschiedener Disziplinen sowie Erfahrungsberichte aus der Arbeitswelt vorgestellt. Im World Wide Web wurde zwischenzeitlich eine eigene home page eingerichtet (URL: http://www7.informatik.unierlangen.de/~nestmann/Thesis/index.html).

Besondere Veranstaltungen wie Workshops, Bewerber-Trainingsseminare und Regionaltreffen dienen ebenfalls dem Wissensaustausch. Gegebenfalls kann sogar ein Verlag für die kostengünstige Veröffentlichung der Dissertation vermittelt werden. THESIS leistet freilich keinerlei Unterstützung bei der Auswahl des Promotionsthemas, bei der Suche nach einem Doktorvater und schon gar nicht beim Erarbeiten der Dissertation.

Das Konzept des Doktoranden-Netzwerks hat sich in den vier Jahren seines Bestehens bewährt. Außer einer Fülle von fachlichen, aber auch persönlichen Kontakten ließ sich ein verstärkter interdisziplinärer Austausch auf hohem Niveau anregen – was gerade in Zeiten zunehmender Spezialisierung von besonderer Bedeutung ist.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1996, Seite 124
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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