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Hirnchirurgie: Tief im Schädel

Einen Tumor im Innern des Gehirns zu operieren, hatte früher oft schwere neurologische Störungen bis hin zu Lähmungen zur Folge. Endoskope verletzen weniger Gewebe, doch die Orientierung in der grauen Masse fällt schwer.


Das Gehirn, so formulierte der Sachbuchautor Jürgen Thorwald 1986, ist das "zerbrechliche Haus der Seele." Manche Forscher sehen darin prosaischer eine komplexe Schaltzentrale für sämtliche vitalen Funktionen bis hin zum Bewusstsein. Liegt in der Tiefe dieses Gebildes ein Tumor, eine Zyste oder sonst ein krankhafter Prozess, muss der Chirurg oft darin eindringen, auch wenn er dabei Schaden anrichtet: Der kompakte Hirnmantel und alles im Weg zum Zielort liegende Nervengewebe wird gespalten, um das Operationsgebiet freizulegen. Erkrankungen in den tiefer im Hirn liegenden Hirnkammern oder im Hirnstamm, der elementare Körperfunktionen steuert, erfordern oft mehr als fünf Zentimeter tiefe Schnitte und ein Auseinanderdrücken des gespaltenen Hirns mit Spateln. Als Folge können wichtige Hirnfunktionen ausfallen, sodass die Patienten fortan unter Lähmungen, Sprach- oder Sehstörungen oder epileptischen Anfällen leiden; manche kommen gar nicht mehr zu Bewusstsein.

Weniger riskant sind Eingriffe in Tiefen unter zwei Zentimetern, mitunter bieten auch schon vorhandene Spalträume wie die große mittlere Hirnfurche einen Zugang. In diesen Fällen operiert der Mikrochirurg Tumoren, Hirngefäßmissbildungen, Entzündungsherde und Blutungen unter einem Operationsmikroskop, das Gewebe etwa 8- bis 10fach vergrößert zeigt und so feinstes Arbeiten ermöglicht; zudem lenkt das Gerät über seine Optik auch Licht in das Operationsgebiet. Im Zentrum des Gehirns, etwa in den flüssigkeitsgefüllten Hirnkammern, erweist sich dieses Hilfsmittel als weniger hilfreich, denn nur ein Bruchteil der Beleuchtung erreicht den Krankheitsprozess, und der Tiefenschärfebereich ist so schmal, dass der Chirurg ständig nachfokussieren muss.

Hier bietet die endoskopische Operationstechnik große Vorteile: Sie verlagert das Auge des Arztes in die Tiefe – bei optimaler technischer Ausstattung sieht er den Krankheitsherd vor der Spitze des Endoskops, und zwar scharf von zwei Millimeter bis mehrere Zentimeter Abstand und das in einem Gesichtsfeld von mehr als 140 Grad. Nach den ersten Anwendungen in der Urologie bei Erkrankungen von Harnblase oder Harnleiter erprobten amerikanische Ärzte deshalb bereits Anfang des 20. Jahrhunderts Endoskope zur Behandlung des damals weit verbreiteten Wasserkopfes. Doch die Komplikationen überwogen die Vorteile, eine Folge nicht nur ungenügender optischer Qualität und mangelhafter Beleuchtung: Der Chirurg musste das Zielgewebe mit dem bloßen Auge beobachten, das Instrument bot keinen ausreichenden Schutz gegen Infektionen.

Den entscheidenden Durchbruch in der Neurochirurgie Anfang der 1990er Jahre verdankt dieses Verfahren deshalb vor allem der Videotechnik; hinzu kommt die verbesserte Optik und Beleuchtung sowie die Computersteuerung von Instrumenten. Seitdem erscheint das Operationsgebiet auf einem Monitor, der Chirurg manipuliert sein Endoskop sowie dadurch eingeführte Instrumente mit sterilen Handschuhen oder sogar nur indirekt über einen Roboter. Die Infektionsgefahr ist damit ebenso gering wie bei der Arbeit mit dem Mikroskop.

Manche Bandscheiben und Verengungen der Handnerven beim Karpaltunnelsyndrom lassen sich auf diese Weise behandeln, aber auch Krankheitsherde im gesamten Schädelinnenraum und an dessen Basis. Im letzteren Fall kann das Endoskop manchmal sogar von unten durch die Nase an die Schädelbasis oder in den Schädel geführt werden.

Viele Tumoren der dort gelegenen Hirnanhangdrüse (Hypophyse) und einige krankhafte Knochenveränderungen der Basis können so behandelt werden, ohne das Gehirn zu verletzen oder auch nur zu berühren. Hingegen ist der "intrakranielle" Raum nur über ein wenige Millimeter großes Bohrloch zugänglich. Dabei durchdringt das Endoskop die verschiedenen Hirnhäute, den von ihnen umschlossenen, mit Hirnflüssigkeit gefüllten Zwischenraum und den Hirnmantel. Eines der Hauptprobleme dieser Endoskopie ist deshalb die Blutstillung – Blut, das sich in der Hirnflüssigkeit verteilt, erschwert die Sicht.

Die schwierigste Aufgabe aber ist die Navigation des Geräts im Schädelinnern. Es fehlen deutlich unterscheidbare Orientierungsmarken wie etwa Knochenstrukturen. Einen Lösungsansatz bot zu-nächst die Stereotaxie. Bei diesem zum Beispiel für die Entnahme von Gewebeproben aus Hirntumoren entwickelten Verfahren wird ein Rahmen am Schädel des Patienten befestigt. Die Schrauben zeichnen sich im Computertomogramm ab, sodass sich ein eindeutiger Bezug zwischen dem Koordinatensystem des Röntgengeräts und den Achsen des Rahmens ergibt. Anhand dieser Transformation planen wir im Tomogramm den Eingriff und schieben dann das am Rahmen befestigte Endoskop im richtigen Winkel millimetergenau ans Ziel.

Im Blindflug durch den Schädel

Da der Rahmen das Endoskop zwar führt, aber gleichzeitig auch in seiner Manövrierbarkeit vor dem Krankheitsprozess behindert, verwenden wir heute vor allem die so genannte Neuronavigation: Bei diesem Verfahren werden Position und Richtung des Endoskops im Raum ständig durch Infrarotmarker geortet. Die Planung des Eingriffs erfolgt virtuell anhand der Daten des Kernspin- oder Computertomografen. Auf einem Bildschirm lässt sich dann der geplante und der reale, gemessene Weg des Geräts steuern, sei es von Hand, sei es von einem Roboter. Der Chirurg ähnelt dabei einem Piloten, der trotz dichter Wolkendecke im Blindflug sicher die Landebahn erreicht.

Um möglichst wenig Schaden im gesunden Hirngewebe anzurichten, verwenden wir starre Endoskope mit Durchmessern von weniger als vier Millimetern, die Lichtzuführung ist darin bereits eingeschlossen.

Es gibt Systeme, die das Licht über Glasstäbe leiten; zwischen diesen liegen Hohlräume, die als Linsen aus Luft fungieren. Der Vorteil dieser so genannten Hopkins-Optik im Vergleich zum herkömmlichen Lichtweg aus Luft mit Glaslinsen sind die höhere Lichtstärke und der größere Blickwinkel von mehr als 140 Grad. Andere Geräte schauen nicht geradeaus, sondern in einem Winkel von 30 oder 70 Grad zur Seite. Einige Endoskope können sogar 120 Grad ums Eck, also hinter das Endoskop blicken. Derartige Geräte mit abgewinkelter Blickrichtung führen das Licht meist über zusätzliche Glasfasern; dann bieten sich auch Xenon-Kaltlichtquellen zur Beleuchtung an; sie erreichen Sonnenlichtqualität. Die Fasern nehmen aber einigen Platz weg, sodass eine punktförmige Lichtführung über zwei kleine Glasstäbe vor allem dann verwendet wird, wenn auch Instrumente durch das Endoskoprohr zwischen den Glasstäben geschoben werden müssen.

Hirnwasser auf neuen Wegen

Je nach Anwendung können das dünne Kanülen von zwei Millimetern Durchmesser sein, die Hirnwasser ableiten, oder bis zu drei Millimeter starke Zangen, Scheren, Koagulationsinstrumente und Führungen für Laserfasern, um Tumoren bis zwei Zentimeter Durchmesser zu zerstören. Das technische Repertoire ergänzen weniger als drei Millimeter dünne Endoskope mit Glasfaser-Bildübertragung. Zwar bringen sie geringere Auflösung, kleinere Blickwinkel und schwächere Beleuchtung, doch sie sind biegsam und lassen sich somit um Kurven durch enge Kanäle in Hirn und Rückenmark führen. Oft werden diese flexiblen Endoskope zunächst durch ein starres Endoskop geführt, um ihre Bewegung zu kontrollieren und Hirngewebe vor Verletzung zu schützen. Die Bildgebung erfolgt dabei über zwei kleine hochauflösende, an beiden Geräten befestigte Videokameras mit Darstellung auf einem geteilten Monitor.

Das Endoskop kann aber auch dazu benutzt werden, um bei der Operation mit dem Mikroskop zusätzlich in die Tiefe oder ums Eck zu schauen (endoskopisch assistierte Mikrochirurgie). Eine Elektronik spiegelt das Bild in das Okular des Mikroskops ein.

Immer dann, wenn ein Krankheitsprozess in der Tiefe des Gehirns nicht mehr als zwei bis drei Zentimeter misst und nicht zu stark durchblutet ist, steht die Endoskopie in Konkurrenz zur bis-herigen Mikro-Neurochirurgie. Kommt der Arzt mit einem Operationsgebiet aus, das sich auf das Innere eines in der Praxis etwa sechs bis acht Millimeter starken Rohres beschränkt, durch das er dann dünnere Geräte und Instrumente einbringt, und verletzt dieses Führungsrohr funktionell wichtige Hirnregionen weniger als die mikrochirurgische Spaltung, ist die Endoskopie das Mittel der Wahl.

Deshalb ist sie bereits Standard bei der Behandlung des so genannten Verschluss-Hydrozephalus. Diese Form des Wasserkopfes entsteht dann, wenn das Hirnwasser nicht gut abfließen kann, weil ihm irgendwo in den Hirnkammern oder am Austritt daraus ein Hindernis den Weg versperrt, etwa eine Narbe oder ein Tumor. Dann kann man mit dem Endoskop einen Umgehungskreislauf anlegen. Häufig befindet sich das Hindernis zwischen der 3. und 4. Hirnkammer im "Aquädukt". Dann öffnet der Chirurg am Boden des 3. Ventrikels endoskopisch ein Loch nach außen.

Auf gleiche Weise lassen sich andere flüssigkeitsgefüllte, krankhafte Prozesse im Hirn wie zystische Tumoren oder Fehlbildungen sowie Druck ausübende Zysten an der Hirnoberfläche durch Anschluss an den Hirnwasserkreislauf beseitigen. Ist aber die Aufnahme des Liquors an der Hirnoberfläche in die Hirnblutleiter gestört (Hydrocephalus mal-resorptivus), dann lässt sich das Problem nicht endoskopisch lösen. Stattdessen wird ein Katheter in die Hirnkammer eingelegt – eventuell besonders präzise mit dem Endoskop – und der Liquor über einen Schlauch mit Ventil beispielsweise zum Bauchraum ableitet. Das ist allerdings nicht der Weisheit letzter Schluss, denn dieser Eingriff hat häufig Komplikationen zur Folge.

Meine Zunft setzt große Hoffnungen in die Endoskopie: Verbesserte Instrumente wie das Wasserstrahlskalpell werden uns helfen, krankes Gewebe schonender zu entfernen, vor allem aber hoffen wir auf effektivere Methoden zur Blutstillung, verfeinerte Formen der Computersteuerung und neue Methoden, um künstliche Hohlräume zu schaffen. Allerdings ist das Endoskop kein Zauberstab, der in der Hand des Uneingeweihten Wunder vollbrächte. Im Gegenteil: Unachtsames Präparieren in der Tiefe des Gehirns kann Gefäße verletzen und sogar den Patienten töten. Die endoskopische Hirnchirurgie erfordert daher ein intensives Training – auch mittels computergestützter Simulationen – und sollte nur von sehr erfahrenen Mikrochirurgen angewandt werden.

Literaturhinweis


Im zerbrechlichen Haus der Seele. Die große Odyssee der Gehirnchirurgie. Von Jürgen Thorwald. Droemer-Knaur, München 1986.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2002, Seite 93
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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