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Tuberkulose - nach wie vor ein medizinisches und gesellschaftliches Problem

Mehr als 100 Jahre nach Entdeckung des Erregers ist die Tuberkulose noch immer eine der weltweit verbreitetsten und die am häufigsten tödlich endende Infektionskrankheit. Zahlreiche ungünstige Faktoren lassen eine erneute Ausbreitung auch in der Bundesrepublik befürchten.

In einem Bericht aus dem Jahre 1990 schätzte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Zahl der mit Tuberkelbakterien infizierten Menschen auf 1,7 Milliarden, also auf ein Drittel der Erdbevölkerung. Die Zahl der an aktiver Tuberkulose Erkrankten beträgt etwa 20 Millionen; jährlich erkranken acht Millionen neu, und drei Millionen sterben an der Infektion.

In Deutschland und den anderen Industriestaaten, in denen die Tuberkulose noch vor 100 Jahren eine vielfach tödliche Volksseuche war, ging die Zahl der Erkrankungen nach der Entdeckung des Erregers stetig zurück: Am 24 März 1882 hatte Robert Koch (1843 bis 1910, Nobelpreis 1905) vor der Physiologischen Gesellschaft in Berlin berichtet, wie er den Bazillus isolierte und kultivierte. Nur in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg brach infolge der Mangelernährung und der schlechten Hygiene nochmals eine größere Epidemie aus.

Gleichwohl ist – trotz AIDS – die Tuberkulose auch in Deutschland die führende Todesursache unter den Infektionskrankheiten geblieben. So starben 1990 in den alten Ländern der Bundesrepublik einschließlich Westberlins 810 Personen direkt daran und 213 an den Spätfolgen gegenüber 715 an AIDS. Die Zahl der Neuerkrankungen betrug 12184, das entspricht einer Inzidenz von 19,6 auf 100000 Einwohner. In der früheren DDR war die Inzidenz mit 15,2 etwas geringer; die Raten der Todesfälle bezogen auf die Neuerkrankungen waren jedoch 1988 mit 6,4 Prozent in der Bundesrepublik und 6,2 Prozent in der DDR praktisch identisch.

Ging bislang die Zahl der Neuerkrankungen in den Industrieländern jährlich um etwa 10 Prozent oder in einer Dekade um etwa die Hälfte zurück, so hat sich in den letzten Jahren dieser Trend verlangsamt oder gar umgekehrt. Besonders auffällig ist dies bei den offenen und damit ansteckenden Tuberkulosefällen.

In der Bundesrepublik war von 1987 bis 1990, wenn überhaupt, nur noch ein geringfügiger Abfall (von 6418 über 6254 und 6195 auf 6246 Fälle) zu registrieren. Hingegen hat in mehreren Ländern, die in Hygiene und Gesundheitsvorsorge vermeintlich wohlversorgt sind, die Zahl der Neuerkrankungen deutlich zugenommen – so in der Schweiz zwischen 1986 und 1990 um 33, in Italien zwischen 1988 und 1990 um 28 und in den USA zwischen 1986 und 1991 um 12 Prozent; in New York waren es sogar zwischen 1989 (2545 Fälle) und 1990 (3520 Fälle) 38 Prozent.

Betroffen ist dort vor allem die schwarze Bevölkerung, bei der die Inzidenz 13fach so hoch ist wie bei der weißen. Dies ist vor allem auf die stärkere Ausbreitung der HIV-Infektion zurückzuführen, die ein bedeutender Risikofaktor für die Tuberkulose ist: In den meisten Fällen handelt es sich um die Reaktivierung einer früher durchgemachten Tuberkulose infolge der Schwächung der Immunabwehr durch den AIDS-Erreger. In letzter Zeit werden jedoch auch vermehrt Neuinfektionen beobachtet.

In den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, wo Tuberkelbakterien fast jeden Einwohner vor oder während des frühen Erwachsenenalters befallen und in städtischen Zentren 5 bis 20 Prozent der sexuell aktiven Bevölkerung gleichzeitig mit HIV infiziert sind, besteht ein viel größeres, geradezu explosives Gefährdungspotential. Hilfe der Industrieländer ist dringlich und wäre relativ leicht möglich. Nach Beurteilung der Weltbank gehört die Tuberkulosebehandlung zu den Gesundheitsmaßnahmen mit höchster Kosteneffektivität; und die WHO hat erst im November 1993 erklärt, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen global 30 Millionen Todesfälle während der nächsten zehn Jahre zu gewärtigen seien – aber 12 Millionen wären zu verhüten, wenn die Etats für Behandlungsprogramme von derzeit 24 Millionen auf 160 Millionen Mark pro Jahr aufgestockt würden.

In Deutschland ist dagegen AIDS epidemiologisch im Zusammenhang mit der Tuberkulose noch nicht bedeutsam; jedoch erkranken auch hier ungefähr 4 Prozent aller HIV-Infizierten und 10 Prozent der AIDS-Kranken an diesem Lungenleiden.

Eine endgültige Prognose der künftigen Entwicklung läßt sich derzeit noch nicht stellen; aber das Risiko könnte sich stärker erhöhen als noch Mitte der achtziger Jahre angenommen, zumal weitere Faktoren hinzukommen. Einer ist ganz allgemein die Verschlechterung der sozialen Situation mit Zunahme der Sozialhilfeempfänger, der Nichtseßhaften, der Drogenabhängigen und der Alkoholkranken, denn in diesen Randgruppen ist die Inzidenz der Tuberkulose überdurchschnittlich hoch.

Auch die wesentlich größeren Erkrankungsraten unter Einwanderern und Asylbewerbern aus Ländern mit hoher Tuberkulose-Inzidenz könnte sich ungünstig auswirken; derzeit ist die Rate an Neuerkrankungen von Ausländern zweieinhalb- bis dreifach so hoch wie die der einheimischen Bevölkerung.

Des weiteren hat die demographische Entwicklung einen Effekt: Von den Deutschen sind diejenigen im Alter über 70 Jahren doppelt so oft betroffen wie die jüngeren, und auch die Sterbefälle sind im hohen Alter erheblich häufiger.

Ein verstärktes Risiko haben schließlich Patienten mit Diabetes mellitus, Magenleiden, eingeschränkter Leber- und Nierenfunktion, Steinstaublunge und anderen Grund- oder Begleiterkrankungen sowie solche, die mit Immunsupressiva behandelt werden.

Paradoxerweise liegt auch im bisherigen Rückgang der Tuberkulose durchaus die Gefahr eines erneuten Anstiegs, weil die entsprechenden Kenntnisse insbesondere der jüngeren Ärztegeneration in Diagnostik, Therapie und Prävention zwangsläufig abnehmen. So fällt in neueren Berichten über Sektionsergebnisse aus verschiedenen Industrieländern die relative Zunahme der klinisch unentdeckt gebliebenen Tuberkulosen auf. Oft sind auch nicht mehr genügend sachkundige Ärzte für die Tuberkulosefürsorge zu gewinnen.

Dennoch sind routinemäßige Reihenuntersuchungen der gesamten Bevölkerung nicht mehr beziehungsweise noch nicht wieder vertretbar, da Nutzen und Aufwand in keinem vertretbaren Verhältnis stehen. Wohl aber sollten gezielt die Gruppen mit erhöhtem Infektionsrisiko untersucht werden. Bei Tuberkulinnegativen genügt dabei zur Überwachung in der Regel der Tuberkulin-Hauttest.

Der Nachweis der Tuberkelbakterien, der bei den hochinfektiösen Formen der Erkrankung sofort unter dem Mikroskop und bei nur geringer Ausscheidung im Auswurf innerhalb von sechs bis acht Wochen in der Kultur geführt wird, ist mittlerweile dank moderner Techniken einfacher geworden. So kann das kulturelle Wachstum mittels einer radiometrischen Methode bereits nach acht bis zehn Tagen festgestellt werden. Eine sehr empfindliche und genaue Identifikation des Mycobacterium tuberculosis versprechen Gensonden, die mittels Polymerase-Kettenreaktion einen Nachweis bereits innerhalb von 48 Stunden ermöglichen.

In der Behandlung stehen inzwischen bestimmte Antibiotika ganz im Vordergrund; diese Medikamente sind in zahlreichen kontrollierten Studien so gut untersucht worden wie sonst keine gegen andere Infektionskrankheiten. Wichtig ist selbstverständlich die gleichzeitige adäquate Therapie von Grund- und Begleitkrankheiten; diese sind auch häufig Ursache von Problemen in der Chemotherapie durch eine größere Nebenwirkungsrate und ungenügende Mitarbeit des Patienten wie bei Alkoholkrankheit, im höheren Alter und bei Diabetes mellitus.

Führende Medikamente sind Isoniazid, Rifampicin und Pyrazinamid, ferner weitere wie Ethambutol und Streptomycin. Anfangs ist eine Behandlung mit mindestens dreien dieser Wirkstoffe notwendig. Sie sollte auf jeden Fall etwa sechs Monate durchgehalten werden, da sonst das Risiko eines Rückfalls zu hoch wäre.

Wichtig ist, die Empfindlichkeit der Tuberkulosebakterien gegenüber den erwogenen Medikamenten zu ermitteln. Immerhin ist mit einer primären Resistenz in etwa 5 Prozent der Fälle, bei Ausländern sogar in mehr als 10 Prozent zu rechnen. Die Zunahme multiresistenter Stämme – also von Bakterien, die gegen mehrere Medikamente unempfindlich geworden sind – birgt eine zusätzliche Gefahr.

Hier liegen besondere Schwierigkeiten in den Entwicklungsländern und in dissozialen Bevölkerungsschichten. Wünschenswert wäre es, die Medikamenteneinnahme der Patienten zu überwachen, sorgfältig den Heilungsverlauf zu beobachten und auch Kontaktpersonen (die entweder als Ansteckungsquelle oder als Infizierte in Betracht kommen) zu untersuchen; doch sind solche Maßnahmen aufwendig und schwer durchzusetzen, und es fehlt dafür an medizinischem Personal.

Die größte Ansteckungsgefahr geht von hustenden Kranken mit offener Lungentuberkulose aus, die noch nicht erkannt ist. Ist die Diagnose gesichert, muß möglichst rasch mit der Chemotherapie begonnen werden; in der Regel ist damit zu rechnen, daß dann spätestens nach vier Wochen kein Risiko einer Übertragung mehr besteht. Kontaktpersonen, bei denen eine Übertragung des Erregers aufgrund einer positiv gewordenen Tuberkulin-Reaktion wahrscheinlich ist, sollten eine präventive Chemotherapie erhalten, sofern eine aktive Erkrankung mittels Röntgenaufnahme ausgeschlossen ist. Eine BCG-Schutzimpfung kommt als präventive Maßnahme nur bei den bereits erwähnten Risikogruppen in Betracht.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1994, Seite 115
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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