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Sicherheitstechnik: Tunnelbrände: Wirbel für rauchfreie Zonen

Bei Tunnelbränden kann sich ein simples System als lebensrettend erweisen: Es verhindert, dass Rauch die Sicht versperrt.


Achtlos wirft ein Autofahrer eine Zigarettenkippe aus dem Fenster. Die verwirbelten Funken setzen einen Margarine-Laster in Brand. Im darauf folgenden Flammeninferno kommen 41 Menschen ums Leben. So geschehen am 24. März 1999 im Montblanc-Tunnel zwischen Frankreich und Italien. Zwei Monate später: Nach einem Unfall brennt es im österreichischen Tauerntunnel. Zwölf Menschen sterben. Das Feuer in der Kitzsteinhornbahn vom November 2000 fordert 155 Menschenleben. Die Bilanz eines Brandes im St.-Gotthard-Tunnel am 24. Oktober 2001: elf Tote.

Jetzt fährt die Angst mit in die Röhre. Die Bilder der rauchenden Tunneleingänge und der machtlosen Rettungskräfte, die zur Untätigkeit verurteilt sind, solange sich die Gluthitze nicht abgekühlt hat, stehen vor aller Augen. Und auch die Fragen: Lassen sich solche Unglücksfälle verhindern? Wie können sich Menschen retten, die einige Kilometer tief im Berg gefangen sind?

Angesichts dieser Serie von Katastrophen versteht es sich, dass alle betroffenen Tunnelanlagen vor ihrer erneuten Inbetriebnahme nach neuesten Erkenntnissen mit zusätzlichen Sicherheitssystemen versehen werden:

- Gefahrguttransporte wie Tank- und Chemikalienlastkraftwagen dürfen viele Tunnel nicht mehr passieren,
– Geschwindigkeitsbeschränkungen sollen das Unfallrisiko senken und die Unfallfolgen mindern,
– einspurige Verkehrsführung in getrennten Röhren – oder per Ampel im Richtungswechsel – soll das Risiko frontaler Kollisionen ausschließen,
– Luftschächte und Gebläse sollen Rauch aus der Tunnelzone abziehen,
– Parallel- und Rettungsstollen sollen Personen die Flucht ermöglichen und der Feuerwehr Zugang zum Brandherd verschaffen,
– Brände sollen per Sprinkleranlage und Feuerlöschstationen vor Ort mög-lichst rasch eingedämmt werden,
– Fluchtwege werden deutlich und leuchtend markiert, damit sie auch bei Rauchentwicklung eine Orientierung ermöglichen.

All dies sind wichtige Fortschritte. Doch sie lösen nicht das fatale Problem, das in den ersten Minuten eines Tunnelbrandes die meisten Opfer fordert, sagt Wolfram Klingsch, Brandschutzexperte an der Bergischen Universität Wuppertal: Innerhalb von wenigen Sekunden füllt sich die Röhre mit dichtem Rauch, der den Menschen erst die Sicht und kurz darauf auch den Atem nimmt.

Simulierte Katastrophen

Klingsch, der die Feuersicherheits- und Fluchtsysteme für den neuen Düsseldorfer Flughafen, für Bahnhöfe und Hochhäuser entworfen hat, und sein Kollege Rüdiger Detzer von der Hamburger In-genieurfirma Imtech Deutschland haben nun ein Konzept der aktiven Tunnelentrauchung entwickelt, das künftig viele Leben retten könnte. Denn es bietet allen Unfallbeteiligten nach dem Crash wertvolle erste Minuten, sich aus eigener Kraft in Sicherheit zu bringen.

Wie brisant das Problem der Verrauchung ist, zeigt sich im Labor. Dort können Klingsch und seine Partner eindrucksvoll das Geschehen in den ersten Minuten nach Entstehung eines Tunnelbrandes simulieren: In einer fünf Meter langen Plexiglasröhre von sechzig Zentimetern Durchmesser, die einen zweispurigen Straßentunnel nachbildet, steht ein Lkw im Maßstab 1:20. Die vom Modell ausströmende Rauchmenge kann von außen stufenlos gesteigert werden. So lässt sich vom Reifen- bis zum Vollbrand jedes Szenario unter reproduzierbaren Bedingungen simulieren.

Die Zirkulation der bei einem Tunnelbrand entstehenden Rauchpartikel folgt festen Gesetzmäßigkeiten. Vom brennenden Fahrzeug aus steigt der Rauch zusammen mit der erhitzten Luft zur Tunneldecke auf. Dort breitet er sich nach den Seiten aus und kühlt ab. Durch den am Brandherd auftretenden Unterdruck entsteht ein Sog, der die Rauchmassen an den Tunnelwänden hinab führt. Bodennah strömen sie zum Brandherd zurück und steigen erneut nach oben. Mit jeder Runde heizt sich der entstehende Wirbel weiter auf und gewinnt an Tempo. Innerhalb der ersten Minute wird der Rauch im Bereich des Brandorts so dicht, dass man dort buchstäblich nicht mehr die Hand vor Augen sehen kann. Die maßstabsgetreuen Fußgängermodelle im Simulationstunnel verschwinden für den Beobachter draußen im Nu im dichten Qualm.

Ab einer Partikelkonzentration von 40000 ppm (parts per million) ist die Sicht völlig blockiert. Anhand des Modellexperiments kann Klingsch die Geschwindigkeit errechnen, mit der sich eine Rauchwolke solcher Dichte vom Brandherd ausbreitet: Innerhalb von vier Minuten hat sie den Tunnel über eine Strecke von etwa 500 Metern ins Dunkel getaucht. In diesem Bereich können sich Menschen nicht mehr an Pfeilen oder Lichtsignalen orientieren. Aus eigener Kraft ist ein Entkommen durch feuersichere Türen in einen Rettungsstollen nicht mehr möglich.

In jenen kritischen ersten Minuten kommt es aber zu einer weiteren dramatischen Entwicklung, die auch jede Rettung von außen verhindert: Treibstoffe explodieren und gehen in Flammen auf. Gemeinsam mit Kunststoffen der Autoausstattung und Ladungsgütern entwickeln diese brennenden Substanzen Temperaturen von mehr als 1000 Grad Celsius und setzen toxische Gase frei. Die leidvolle Erfahrung hat gezeigt, dass es nun Tage dauern kann, bis Rettungsmannschaften zum Unglücksort vordringen können.

Das neue Konzept der aktiven Entrauchung von Klingsch und seinen Partnern sorgt dafür, dass sich der Rauchwirbel in der oberen Tunnelhälfte fängt. Mit der Verlegung des neuen Zyklon-Entrauchungssystems unter die Tunneldecke bleibt der bodennahe Fluchtweg weitgehend rauchfrei. Dadurch können sich Menschen rechtzeitig in Sicherheit bringen. Zugleich bleibt der Unfallort auch für Rettungseinsätze zugänglich.

Rauchentzug mit Drall

Grundlage dieser Brandraucherfassung ist eine technisch gelenkte Drallströmung. Ein solches Verfahren wird bereits seit Jahren in der Industrie genutzt, um schädliche Emissionen aus der Atemluft zu entfernen, wie sie etwa bei der Produktion von Aluminium oder beim Einsatz von flüchtigen Lösungsmitteln auftreten. Aufsteigende Rauch-, Wärme- und Dampfemissionen werden dabei oberhalb des Atembereichs mit einer Einrichtung erfasst, die einer Dachrinne ähnelt. Diese Rinne fängt die von der Decke absinkende Emission in der gewünschten Höhe auf. In ihr entsteht der Drall, ein Strömungsfeld, das mit Geschwindigkeiten bis zu 250 Kilometern pro Stunde rotiert. Im Zentrum dieses Strömungsfeldes entsteht – wie im Auge eines Wirbelsturms – ein Unterdruck. Dieser "saugt" die Schadstoffe zum Drallzentrum und führt sie von dort über die Rinne ab.

Die aktive Tunnelentrauchung funktioniert auf die gleiche Weise. Hier leiten zwei Raucherfassungsanlagen entlang beider Tunnel-Längsseiten den Qualm und die erhitzte Luft nach draußen. Was Klingsch’ Laborversuche auf eindrucksvolle Weise demonstrieren, könnte künftig im großen Maßstab in Straßen-, Eisenbahn- und U-Bahn-Tunneln eingesetzt werden. In einigen Jahren werden wir also möglicherweise regenrinnenähnliche Gebilde unter der Tunneldecke hängen sehen. Was der Laie dann vielleicht als Auffangvorrichtung für Tropfwasser interpretieren mag, werden die Betroffenen im Fall der Fälle als effektives Lebensrettungssystem zu schätzen wissen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2002, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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