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Trends in öffentlicher Gesundheit: Übergewicht: ein Zivilisationsproblem?

Weitverbreitete Beleibtheit und die gesundheitlichen Folgen werden zum kostenträchtigen Problem in wohlhabendne Ländern. Die Ursachen sind keineswegs klar. Insbesondere die biologischen Wurzeln dieser vielschichtigen Ernährungsstörung beginnen Wissenschaftler erst jetzt aufzudecken.

Stattliche Leibesfülle galt in früherer Zeit meist als Zeichen von körperlichem, finanziellem und sozialem Wohlergehen. Inzwischen verkörpert sie geradezu die Kehrseite des Überflusses, wird zu einer immer stärkeren gesundheitlichen Bedrohung in den Wohlstandsgesellschaften überall auf der Erde. Nach den neuesten Definitionen von Normalgewicht fielen etwa in den USA 59 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in die Kategorie Übergewichtiger (siehe Kasten auf gegenüberliegender Seite), konstatiert ein 1995 erschienener Bericht des Instituts für Medizin in der Bundeshauptstadt Washington. In der Bundesrepublik sieht es – zumindest für die Altersgruppe ab Mitte 30 – nicht viel anders aus (Bilder 2 und 3). Mit dieser geradezu epidemische Ausmaße annehmenden Ernährungsstörung gehen vielfältige Gesundheitsrisiken einher, darunter für Koronarerkrankungen samt Herzinfarkt, Altersdiabetes, Bluthochdruck, Gallensteine und sogar Krebs (Bild 4).

Die Behandlung von Übergewicht und seinen Folgen verschlingt Unsummen. Nach vorsichtigen Schätzungen von Epidemiologen der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) beliefen sich die Kosten dafür allein in den USA 1990, dem letzten Erhebungsjahr, auf 45,8 Milliarden Dollar – indirekte Kosten durch Arbeitsausfälle in Höhe von 23 Milliarden Dollar kommen hinzu. Im selben Jahr, so ein Komitee des Kongresses, gaben US-Bürger etwa 33 Milliarden Dollar für Schlankheitsmittel sowie Kurse und Kuren zum Abmagern aus. Dennoch starben ungefähr 300000 Männer und Frauen vorzeitig (gemessen an der normalen Lebenserwartung) an den Folgeschäden von Überernährung und Bewegungsarmut.

Ein ebenso frustrierendes wie ernstzunehmendes Problem ist die mangelnde Nachhaltigkeit schneller und einfacher Abspeckmethoden. Ob Akupressurbehandlung, Schlankheitsdrinks, Gruppensitzungen zur gegenseitigen Motivation, appetitzügelnde "Aromasticks" oder der immer neu gefaßte Vorsatz, schlichtweg weniger zu essen und sich mehr zu bewegen – allesamt haben solche Ansätze in sorgfältig kontrollierten Studien langfristig weitgehend versagt. Nur einem kleinen Bruchteil der Abnehmwilligen gelang eine Gewichtsreduktion um mindestens 10 Prozent für die Dauer von fünf Jahren, was die Lebenserwartung erwiesenermaßen drastisch steigert.

Pressemeldungen im Sommer vergangenen Jahres über die Entdeckung eines "Sättigungshormons" bei Mäusen hatten die Hoffnung auf eine rasch wirksame Patentlösung genährt (es vermag bei Tieren mit einem entsprechenden erblichen Defekt die resultierende schwere krankhafte Fettsucht zu beheben). Sie schwand jedoch wieder dahin, nachdem sich bei Folgestudien keine vergleichbaren Mutationen des Hormon-Gens im Erbgut fettleibiger Menschen hatten finden lassen. Allerdings ist die Entdeckung des Leptin genannten Hormons nur einer von vielen bedeutenden Fortschritten der letzten Jahre und Monate, die völlig neue Einblicke in die Ursachen der Fettsucht wie auch in die Gewichtsregulation an sich erbracht haben.

Medizinisch wird Adipositas – so die Fachbezeichnung – bislang entweder als reine Folge übermäßiger Nahrungsaufnahme eingestuft oder als Symptom von Stoffwechselerkrankungen. Die Unterscheidung gilt allerdings als problematisch. Mit modernen molekularbiologischen und gentechnischen Verfahren suchen Wissenschaftler gegenwärtig nach physiologischen Hintergründen für einige der merkwürdigen Aspekte des Trends zum Übergewicht. Warum verstärkt er sich in fast allen reichen Ländern? Wieso bleiben manche Menschen trotz Diät dick, während andere essen können, soviel sie wollen, ohne auch nur ein einziges Kilogramm zuzulegen? Warum ist es so schwer, beträchtlich abzunehmen, und fast unmöglich, das neue Niveau dann zu halten? Viel wichtiger aber noch – wie ließe sich der Trend verlangsamen und schließlich umkehren?

Die überkommene Vorstellung, Leibesfülle sei gewöhnlich einfach die wohlverdiente Strafe für Trägheit und Gefräßigkeit, hat nicht zu hilfreichen Antworten und manchmal sogar zu falschen beigetragen. Die Wissenschaft sollte nun endlich bessere liefern.

Ein evolutionäres Erbe?

Anders, als man gemeinhin denkt, sind die Bürger der großen Industriestaaten keineswegs führend beim Übergewicht; auf Westsamoa und mehreren anderen Inseln im Pazifik ist es wesentlich verbreiteter. Paradebeispiel sind die 7500 Bewohner von Nauru, einem rund 20 Quadratkilometer großen Inselchen Mikronesiens.

Mächtige Ablagerungen aus Guano bedeckten einst 80 Prozent seiner Fläche. Abbau und Export dieses phosphatreichen organischen Düngers – entstanden aus Exkrementen von Seevögeln – haben der Inselrepublik eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt beschert. Den Grundstückseigentümern zahlt die Regierung Lizenzgebühren. Viele brauchten nicht mehr zu arbeiten; zugleich gaben sie ihre traditionelle Kost aus viel Fisch und Gemüse auf und ernähren sich statt dessen mit Importprodukten wie Dosenfleisch, Kartoffelchips und Bier. Im Laufe nur einer Generation rächte sich die ungesunde Lebensweise: Im Jahre 1987 waren rund zwei Drittel aller Männer und Frauen übergewichtig, und ein Drittel litt an Diabetes.

In zahlreichen Ländern, ob nun Industrienation oder nicht, geht der Trend in dieselbe Richtung, und das erschreckend schnell. Mit geänderten Ernährungsgewohnheiten allein läßt sich das nicht erklären: Studien zufolge (manche zugegebenermaßen von zweifelhafter Genauigkeit) ist der Anteil der Nahrungsfette an der Gesamtenergiezufuhr in den USA seit den achtziger Jahren um 8 Prozentpunkte auf 34 Prozent gesunken. Im annähernd selben Zeitraum stieg aber die Häufigkeit von Übergewicht um einen ähnlichen Wert. In Großbritannien verringerte sich nach amtlichen Schätzungen die durchschnittliche Gesamtenergiezufuhr (nicht nur die von Fett) zwischen 1980 und 1991 um 10 Prozent, die Anzahl Schwergewichtiger verdoppelte sich jedoch.

Einen Teil dieser Ungereimtheiten scheinen Erhebungen zu klären, wonach in einigen Ländern der Treibstoffverbrauch und die vor dem Fernseher verbrachte Zeit (beides Indizien für Bewegungsarmut) in etwa gleichem Maße wachsen wie der Prozentsatz Übergewichtiger. Tiefere Hintergründe allerdings fördert wohl die Evolutionsbiologie zutage. James V. Neel von der Universität von Michigan in Ann Harbor unterbreitete schon 1962 die Hypothese, infolge natürlicher Selektion hätten sich bei unseren frühen Vorfahren gleichsam haushälterische Gene angereichert; die damals vorteilhafte Fähigkeit, bei jeder nicht zu knappen Mahlzeit Fett als Reserve für die nächste bevorstehende Hungerperiode zu speichern, würde sich aber heute – angesichts des relativen Überflusses – in einen Nachteil verkehren.

Nicht nur das Beispiel der Nauruaner stützt seine Hypothese, auch das der Pima-Indianer. Ihre Stammesvorfahren hatten sich zur Zeit des europäischen Mittelalters in zwei Gruppen aufgespalten: Eine ließ sich im Süden Arizonas nieder, die andere zog nach Mexiko in die Berge der Sierra Madre. Um die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts hatten die meisten der in Arizona lebenden Pima ihre bäuerliche Lebensweise aufgeben müssen und sich in ihrer Ernährungsweise dem Durchschnitts-Amerikaner angeglichen, das heißt, sie bezogen 40 Prozent ihres Energiebedarfs aus Fett. Mittlerweile halten sie den Weltrekord, was den statistisch erfaßten Zugang an Fettsüchtigen anbelangt – er übertrifft den ihrer weißen Nachbarn bei weitem; und etwa jeder zweite erkrankt bereits zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr an Diabetes.

Eric Ravussin vom amerikanischen Nationalen Institut für Diabetes sowie Erkrankungen des Verdauungstrakts und der Nieren in Bethesda (Maryland) hat in einer Studie diese Pima-Indianer mit den in Maycoba (Mexiko) lebenden verglichen, die noch immer subsidiäre Landwirtschaft und Viehzucht betreiben (Bild 5). Obwohl sich beide Teilpopulationen genetisch sehr ähneln, bringen die Pima von Maycoba im Durchschnitt 26 Kilogramm weniger auf die Waage und sind etwa 2,5 Zentimeter kleiner. Nur wenige haben Diabetes. Sie konsumieren außerdem nur etwa halb so viel Fett wie ihre entfernten Verwandten in Arizona – obgleich sie mehr als 40 Wochenstunden körperlich arbeiten.

Ihre Schlankheit ist ein starkes Indiz dafür, daß die unter den Pima in den USA verbreitete Fettleibigkeit nicht allein auf einen erblichen Defekt zurückzuführen sein kann, sondern vielmehr von einer einstmals positiven genetischen Disposition herrührt – eben der für einen außerordentlich haushälterischen Stoffwechsel, und dieser wirkt sich nachteilig aus, wenn energiereiche Nahrung leicht verfügbar ist und kaum mehr hart gearbeitet werden muß.

Da sämtliche menschlichen Populationen diese Veranlagung zu haben scheinen, wenn auch in unterschiedlich starker Ausprägung, werde – mit weiter steigendem allgemeinem Lebensstandard -in den nächsten 25 Jahren der Anteil Übergewichtiger noch mehr anwachsen, prophezeit F. Xavier Pi-Sunyer, Direktor des Adipositas-Forschungszentrums am St. Luke's-Roosevelt-Hospital in New York: "Diese Gefahr ist in manchen Schwellenländern sogar besonders hoch; Prognosen zufolge werden zum Beispiel im Jahre 2025 mehr als 20 Prozent der Bevölkerung Mexikos (unter anderem deswegen) an Diabetes leiden."

Studien wie die über die Pima und die Nauruaner sowie über Auswanderer, die im Gastland andere Ernährungs- und Lebensgewohnheiten angenommen haben, "scheinen allesamt darauf hinzuweisen, daß die Häufigkeit von mäßigem bis massivem Übergewicht bei verschiedenen Populationen weitgehend umweltbedingt ist", resümiert Ravussin. Einige Mediziner haben als Gegenmaßnahmen vorgeschlagen, eine Fettsteuer auf energiereiche Nahrungsmittel einzuführen oder die Kranken- und Lebensversicherungsbeiträge für Leute zu erhöhen, die nicht regelmäßig Sport treiben.

Wirtschaftliche und andere Sanktionen werden sich jedoch in Demokratien kaum durchsetzen lassen, zumal niemand weiß, ob sich dem Übergewicht auf diese Weise überhaupt wirksam begegnen ließe. Darum wenden sich die meisten Forscher wieder jenen Faktoren zu, die sie kontrollieren zu können glauben: den genetischen und biologischen Variablen, die manche Menschen unter Bedingungen zunehmen lassen, unter denen andere schlank bleiben.


Dickmacher-Gene?

Es ist eine altbekannte medizinische Erfahrung, daß die Neigung zum Dickwerden in der Familie liegen kann – der Grad der Erblichkeit ist indes noch umstritten. Zahlreiche Analysen eineiiger, aber getrennt aufgewachsener Zwillingspaare haben ergeben, daß genetische Faktoren (die bei solchen Zwillingen ja identisch sind) einen Großteil der Körperfettmenge kontrollieren.

Geschätzt wird dieses Energiedepot mit Hilfe des Körper-Masse-Index; man benutzt ihn gewöhnlich, um zu definieren, was als untergewichtig, normal, übergewichtig oder fettsüchtig anzusehen ist – bei uneinheitlichen Grenzen allerdings (siehe Kasten auf Seite 55). Einigen wenigen solcher Untersuchungen nach ist das Gewicht im selben Maße genetisch bedingt wie die Körpergröße, nämlich zu etwa 80 Prozent. In der Mehrzahl jedoch kam man auf einen nur etwa halb so großen Einfluß.

An den amerikanischen Nationalen Gesundheitsinstituten in Bethesda haben Wissenschaftler über einen Zeitraum von 43 Jahren mehr als 400 Zwillingspaare untersucht. Ihre Schlußfolgerung: "Kumulative genetische Effekte erklären großenteils den zeitlichen Verlauf beim Übergewicht" – einschließlich der Entwicklung von Schmerbäuchen im mittleren Alter. Dagegen hatten "jeweils für beide Zwillinge gleiche Umwelteinflüsse keinen signifikanten Effekt".

Untermauert wird dies von fünf weiteren Studien, bei denen man den Körper-Masse-Index adoptierter Kinder mit dem ihrer biologischen und ihrer Adoptiveltern verglich. Alle ergaben, daß sich aus dem familiären Umfeld – dem Essen im Kühlschrank, der Anzahl der Mahlzeiten, den gemeinsamen Unternehmungen der Familienmitglieder – kaum oder gar nicht vorhersagen läßt, welche Kinder dick werden. Anscheinend wirken sich nur drastische Unterschiede der Lebensgewohnheiten, wie die zwischen den beiden untersuchten Pima-Gruppen, signifikant auf das durchschnittliche Körpergewicht eines Volkes aus.

Welche unserer Gene nun aber auf welche Weise Eßverhalten, Stoffwechsel und körperliche Aktivität beeinflussen ist noch ungeklärt. Immerhin gibt es bereits einige vielversprechende Anhaltspunkte: mehrere Gene, die – wenn mutiert – bei Nagern Fettsucht hervorrufen können.

Obese, kloniert von der Arbeitsgruppe um Jeffrey M. Friedman an der Rockefeller-Universität in New York, trägt die Bauanweisung für das von Fettzellen erzeugte Hormon Leptin. Mäuse mit einer Mutation in beiden Exemplaren des Gens erzeugen entweder gar kein oder nur fehlerhaftes Leptin; sie setzen von klein auf rasch Fett an und erreichen dabei das Dreifache des Normalgewichts. Sie leiden an Fettsucht (Obesitas oder Adipositas).

Diabetes, im Dezember 1995 von einem Team des Pharma-Unternehmens Millennium in Cambridge (Massachusetts) kloniert, codiert für einen Rezeptor im Gehirn, der Leptin bindet. Er ist Teil eines Signalwegs, über den der Appetit gezügelt und der Stoffwechsel angekurbelt wird (Leptin drosselt im Gehirn die Synthese und Ausschüttung des stärksten bekannten Appetitanregers namens Neurotransmitter-Neuropeptid Y, dessen Rezeptor erst vor wenigen Monaten ebenfalls kloniert wurde). Bei Mäusen mit funktionsunfähigem Rezeptor bleibt das Leptin-Signal wirkungslos, und auch sie werden bereits in früher Jugend extrem fett. Die Folge ist Diabetes – deshalb die ursprüngliche Bezeichnung (neuere sind OB-R beziehungsweise Lepr).

Im letzten Jahr ist es zudem Wissenschaftlern am Jackson-Laboratorium in Bar Harbor (Maine) gelungen, zwei weitere interessante Gene zu klonieren: fat (fett) und tubby (mollig). Bei einem Defekt in dem einen oder anderen setzen Mäuse nach und nach Speck an – also eher wie Menschen (Bild 6). Das fat-Gen trägt die Bauanweisung für ein Enzym, das Insulin bearbeitet. Das Hormon wird von der Bauchspeicheldrüse nach einer Mahlzeit ausgeschüttet und regt Zellen an, vermehrt Glucose aus dem Blut aufzunehmen. Das vom tubby-Gen codierte Protein ähnelt keinem bekannten; seine Funktion ist deshalb noch unklar – ebenso wie die Gründe, warum Mäuse mit Mutationen in diesen Erbfaktoren oder einem weiteren, bereits vor mehreren Jahren entdeckten Gen (agouti yellow) mit der Zeit dick werden.

Obwohl Pendants all dieser Gene auch in der Erbsubstanz des Menschen vorkommen, "konnten wir bislang keine Mutationen bei Übergewichtigen entdecken", berichtet L. Arthur Campfield, Leiter einer Gruppe bei Hoffmann-La Roche in Nutley (New Jersey); der Pharmaziekonzern hat sich die Rechte an Millenniums Erkenntnissen über den Leptin-Rezeptor gesichert. Klinische Studien haben sogar ergeben, daß der Organismus schwergewichtiger Menschen – anders als der von Mäusen mit gestörten obese- oder diabetes-Genen – in der Regel normale Mengen an Leptin erzeugt, gemessen an der Menge ihres Körperfettes. Zumindest auf den ersten Blick scheint mit ihrem Leptin-System alles in Ordnung zu sein.

All das überrascht die meisten Adipositas-Forscher nicht. Sie vertreten schon lange die Ansicht, die individuelle Neigung zum Dickwerden müsse auf dem Zusammenspiel mehrerer Gene sowie von solchen Veranlagungen mit ökonomischen und psychischen Bedingungen beruhen. Zwar ist es bedeutend schwieriger, ineinandergreifende Gene bei einer Störung zu identifizieren, als wenn nur ein einzelnes verantwortlich wäre. Doch einige Laboratorien sind bei Mäusen in dieser Hinsicht vorangekommen. So kreuzte David West vom Pennington-Forschungszentrum für Biomedizin in Baton Rouge (Lousiana) Mäuse eines Stammes, der bei fettreicher Ernährung drastisch zunimmt, mit solchen eines nahe verwandten Stammes, der bei gleicher Kost vergleichsweise schlank bleibt. Anhand des Erbgangs konnte er nachweisen, daß bis zu vier dominante Gene an der Neigung zu verfetten beteiligt sind. Außerdem vermochte er die Chromosomen-Abschnitte einzukreisen, auf denen diese liegen könnten; interessanterweise befindet sich das tubby-Gen auf einem davon.

Irgendwann sollte es gelingen, auch die an der Gewichtsregulation des Menschen beteiligten Gene dingfest zu machen. Danach kommt aber erst der eigentliche, schwierigere Teil der Aufgabe: die physiologische Rolle all dieser Erbfaktoren beziehungsweise ihrer Proteine im lebenden Organismus aufzuklären, damit man weiß, wo bei behandlungsbedürftigem Übergewicht anzusetzen wäre. Als erstes muß ein für allemal die alte Streitfrage geklärt werden, ob es ein vorbestimmtes Sollgewicht gibt, bei dem sich der Körper am wohlsten fühlt, und ob es sich verändern läßt.


Hormone aus Fettgewebe

Ein typischer US-Bürger legt im Alter zwischen 25 und 55 Jahren etwa 9 Kilogramm zu. Bei einer Energiezufuhr von bis zu 4 Millionen Kilojoule im Jahr bedeutet das, hochgerechnet auf drei Dekaden, daß "nur wenige Promille davon tatsächlich in zusätzliche Fettdepots umgemünzt werden – ein außergewöhnliches Maß an Kontrolle und Ausbalanciertheit", erläutert Rudolph L. Leibel, Ko-Direktor des Stoffwechsel-Labors der Rockefeller-Universität.

Für relativ stabiles Körpergewicht sorgen mehrfache Rückkopplungsschleifen zwischen Gehirn, Verdauungstrakt, Muskelgewebe und – wie sich herausgestellt hat – Fettgewebe, wobei die Signale über Blutbahn und vegetatives Nervensystem laufen. Bis vor kurzem sah man Fettgewebe nur als passives Speichermedium an. In Wirklichkeit sei es, so Ronald M. Evans vom Salk-Institut in La Jolla (Kalifornien), "eine Art endokrines Gewebe; es entsendet Signale – in Form von Hormonen wie Leptin – und spricht auf solche von anderen Zellen an".

Im Dezember 1995 hatte Evans die Entdeckung eines neuen Hormons vermeldet, das in Fettzellen hergestellt wird und zumindest bei Kindern die Bildung neuer auszulösen scheint. Es trägt die dürre Bezeichnung 15d-PGJ2. Jedes Medikament, das dieses Hormon an der Bildung neuer Fettzellen hindern würde, wäre wahrscheinlich nur bei Kindern wirksam, meint Evans, weil die Fettzellen dicker werdender Erwachsener sich gewöhnlich nur vergrößern und nicht vermehren. Eine bestimmte synthetische Verbindung, die 15d-PGJ2 biochemisch imitiert, scheint allerdings gegen Typ-II-Diabetes wirksam zu sein, der häufig im Zusammenhang mit Übergewicht auftritt; Troglitazon, so der Name, signalisiert nämlich auch den Muskelzellen, normal auf Insulin zu reagieren (Bild 8).


Fixer Wert?

Das regulatorische Netzwerk kontrolliert außer dem Kurzzeitappetit auch jene Faktoren, die sich – wie Fett- und Kohlenhydratspeicher – über Tage oder Wochen verändern können. Seine Entwirrung bringt Forscher allmählich der Lösung der Frage näher, wie all die Signale beim Aufrechterhalten des Körpergewichts zusammenwirken. Hauptsächlich zwei Hypothesen stehen derzeit im Widerstreit: die eine, ältere postuliert einen vorgegebenen Sollwert für das Körpergewicht, die andere dagegen einen sich nach den Umständen einstellenden Gleichgewichtszustand.

Der Sollwert-Hypothese nach sucht das Gehirn den Stoffwechsel fortwährend so anzupassen und das Eßverhalten so zu modulieren, daß ein bestimmtes individuelles Sollgewicht möglichst gehalten wird. Zwar könne sich der Sollwert mit dem Alter ändern, aber nur gemäß einem genetischen Programm. Durch Diät und körperliche Betätigung ließe sich zwar das aktuelle Gewicht gegenüber dem Sollwert – zumindest für gewisse Zeit – verschieben, er selbst sei jedoch nicht veränderbar.

Letztes Jahr schlossen Leibel und seine Kollegen Michael Rosenbaum und Jules Hirsch, drei der überzeugtesten Vertreter dieser Hypothese, eine aufwendige, streng kontrollierte Studie ab, deren Ergebnisse ihre Argumente zu stützen scheinen. Ihre 66 freiwilligen Versuchspersonen mußten etwa drei Monate in der Klinik der Rockefeller-Universität verbringen. Alle – ob dick oder seit jeher schlank – hatten ihr Gewicht seit mindestens einem halben Jahr gehalten. Während der ersten Wochen erhielten sie nur Flüssignahrung, deren Menge so austariert wurde, daß sich nichts veränderte. Nach einer Vielzahl von Tests (bestimmt hat man beispielsweise Energieumsatz und Anteil des Körperfetts; Bild 7) wurde eine Gruppe auf eine flüssige Reduktionsdiät gesetzt, während die andere ihre Energiezufuhr steigern mußte. Sobald eine Person um 10 oder 20 Prozent zugenommen hatte, erhielt sie Flüssignahrung, die nun wieder so austariert wurde, daß das neue Gewicht konstant blieb. Dann durchlief sie die Testbatterie noch einmal. Entsprechend verfuhr man mit Probanden der ersten Gruppe nach einer Abnahme um 10 Prozent.

Die Ergebnisse widerlegten so manche überkommene Meinung – etwa, daß schlanke Menschen Nahrung einfach nur schlechter verwerten würden. Ebenso erwies sich die Vorstellung vom sogenannten überschießenden Jo-Jo-Effekt als falsch – nach einer Abmagerungskur zeige die Waage bald mehr als zuvor oder man brauche dann zumindest weniger Kalorien zum Erhalt des alten Ausgangsgewichts. Außerdem erwies sich, daß übergewichtige Menschen, sofern sie ihr Gewicht halten, nicht bedeutend mehr essen als schlanke mit derselben Muskelmasse, aber weniger Körperfett.

Der eigentliche Zweck der Versuche war jedoch herauszufinden, wie sehr sich der Organismus gegen ein Abweichen von seinem lange Zeit gehaltenen Gewicht (dem physiologischen Sollwert) sperrt. Gleich ob dicke oder schlan-ke Versuchspersonen abnahmen, stets "schien dies im Stoffwechsel zahlreiche Alarmreaktionen auszulösen", berichtet Leibel. Der Organismus schaltete rasch auf Sparflamme um – sein Energieumsatz verringerte sich um 15 Prozent, bezogen auf die fettfreie Körpermasse. Überraschenderweise scheint solches Beharren auch für eine Gewichtszunahme zu gelten. Selbst Dicke, nicht nur Dünne, müssen etwa 15 Prozent mehr an Kalorien als gewöhnlich zu sich nehmen, um deutlich über ihrem Sollgewicht zu bleiben.

Wenn der Körper wirklich einem individuell vorgegebenen Wert zustrebt, wie erklärt sich dann, daß immer mehr Menschen Übergewicht haben? "Selbstverständlich müssen sich dazu Sollwerte nach oben verschieben, genau wie die Menschen hierzulande mit jeder Generation größer werden", sagt Rosenbaum. "Soweit wie wir es übersehen, ist das Sollgewicht aber im Erwachsenenalter nicht mehr veränderbar. Also muß es irgendwann in der Kindheit eine Phase geben, während der die Umwelt es beeinflußt", spekuliert er. "Wenn sich herausfinden ließe, wann und wie das geschieht, könnte man vielleicht die familiären Umstände dann eben so einrichten, daß die eigenen Kinder nicht zu fetten Zwanzig- oder Dreißigjährigen heranwachsen."

Das wird freilich so lange Wunschdenken bleiben, bis es den Befürwortern der Sollwert-Hypothese zu zeigen gelingt, wie der Körper sein Gewicht zentral steuert. Bislang können sie allenfalls vermuten, so Louis A. Tartaglia, Wissenschaftler bei Millennium, "daß dieser Regelmechanismus einem Thermostaten vergleichbar ist" – Lipostat haben manche ihn genannt – und daß Leptin sein zugehöriges Thermometer darstellt.

"Wenn man zunimmt", führt Friedman aus, "erzeugt man mehr Leptin. Das zügelt den Appetit, erhöht den Energieverbrauch des Organismus und startet zweifelsohne noch andere Vorgänge, die das Körpergewicht wieder zu seinem Sollwert zurückbringen. Wenn man dagegen sehr an Gewicht verliert, sinkt der Leptinspiegel; daraufhin ißt man mehr, verbrennt weniger Energie, und wieder kehrt das Körpergewicht zum Ausgangswert zurück. Da wir mittlerweile das Gen und sein Produkt kennen, können wir diese einfache Hypothese nun auch testen."

Amgen, ein Biotechnologie-Unternehmen in Thousand Oaks (Kalifornien), soll der Rockefeller-Universität bis zu 100 Millionen Dollar für das Recht zur Produktion von Leptin geboten haben. Inzwischen laufen damit erste klinische Tests an fettleibigen Menschen. Ziel sei, so Rosenbaum, den Körper zur Kooperation zu überlisten, damit ein reduziertes Körpergewicht gehalten werde. Dabei gaukele man ihm vor, er sei dicker als tatsächlich.

Aber der Organismus läßt sich womöglich nicht so leicht täuschen. Im Mai 1996 berichteten Wissenschaftler der Universität von Washington in Seattle, daß eine Ausschaltung des Gens für das Neuropeptid-Y (NPY), den erwähnten wirksamsten Appetitanreger überhaupt, bei Mäusen nichts gebracht habe. Leptin drosselt bekanntlich die NPY-Produktion, und auf diese Weise, dachte man, würde es eben den Hunger unterdrücken. Mäuse ohne NPY nehmen jedoch nicht ab; irgendwie wird sein Fehlen ausgeglichen.

Kritiker der Sollwert-Hypothese argumentieren ferner, sie könne die hohe Fettsucht-Rate bei den Nauruanern und den Pima-Indianern aus Arizona nicht erklären. Mehr noch – würde die Menge an Körperfett wirklich zentral gesteuert, sollte die mit der Nahrung aufgenommene Fettmenge wenig Einfluß auf das Gewicht haben. Zahlreiche Studien haben jedoch das Gegenteil erbracht, darunter eine neuere an rund 11600 Schotten: Übergewicht war bei denen mit dem höchsten Fettverzehr dreimal so häufig wie bei denen, die ihre Energie zum Großteil aus Kohlenhydraten bezogen.


Fett im Fließgleichgewicht

Auf einer Konferenz im Jahre 1995 sichteten Forscher die gesamten bisherigen Befunde und kamen zu der Überzeugung, daß die Sollwert-Hypothese zwar nicht widerlegt sei, aber der moder-nen Fließgleichgewicht-Hypothese mehr "biologischer Wert" zukäme. Ihr zufolge wird das Gewicht gehalten, wenn die verschiedenen Rückkopplungsschleifen im Stoffwechsel – fein abgestimmt durch welche genetischen Veranlagungen auch immer – in ausgeglichener Wechselwirkung mit den Umwelteinflüssen stehen. Ökonomische und kulturelle Veränderungen können dieses Gleichgewicht nach oben verschieben und treiben dann immer mehr Menschen, wenn sie aufgrund ihrer Veranlagung dafür anfällig sind, in die Fettleibigkeit.

Die Hauptschuld an einer solchen Entwicklung wird wiederum den Nahrungsfetten angelastet. Seit Jahren ist bekannt, daß Versuchspersonen von einer fettreichen Mahlzeit ungefähr diesselbe Menge verzehren wie jene, die eine kohlenhydratreiche erhalten. Da Fett pro Gramm etwa doppelt so viele Kalorien (Joule) enthält wie Kohlenhydrate oder Proteine, erhält der Körper damit leicht mehr Energie, als er verbrennen kann.

Einen Grund für diesen sogenannten passiven Mehrverzehr vermutet John E. Blundell von der Universität Leeds (England) in den Regelsystemen, die Hunger und Sättigung kontrollieren. Sie sprechen auf Kohlenhydrate und Proteine rasch an, auf Fett hingegen zögerlich – zu langsam, als daß man eines fettreichen Mahls überdrüssig würde, bevor man zuviel davon gegessen hat.

Auch die Abbausysteme scheinen auf Kohlenhydrate (zu denen Zucker und Stärke gehören) reger zu reagieren. Nach einem Teller Nudeln etwa beschleunigt sich wenig später die Kohlenhydratverbrennung; nach etlichen Streifen Frühstücksspeck zum Ei hingegen beschleunigt sich die Fettveratmung – der oxidative Abbau von Fettsäuren aus Lipiden – kaum, erläutert Jean-Pierre Flatt, Biochemiker an der Medizinischen Fakultät der Universität von Massachusetts in Worcester. Das meiste aufgenommene Fett werde direkt in körpereigenes Depotfett überführt und später nur dann verbrannt, wenn die Kohlenhydratreserven unter einen bestimmten Schwellenwert sinken, der von Mensch zu Mensch jeweils verschieden ist.

Es gibt einen anderen Weg, die Lipid-Oxidationsrate zu steigern: Zunehmen. Mehr Körperfett läßt mehr Fettsäuren in der Blutbahn zirkulieren. Dies wiederum kurbelt deren oxidativen Abbau an, so daß schließlich wiederum ein Fließgleichgewicht erreicht wird, bei dem jegliches aufgenommene Fett auch verbrannt wird – das Gewicht stabilisiert sich. Zahlreiche genetische und biologische Faktoren können die Lipid-Oxidationsrate im Organismus beeinflussen und deshalb den für ein bestimmtes Umfeld geltenden persönlichen Gleichgewichtszustand beeinträchtigen.

Ein künstliches Fett, das Anfang 1996 von der amerikanischen Nahrungs- und Arzneimittelbehörde freigegeben wurde (allerdings zunächst nur für Kartoffelchips und ähnliche Knabbereien), könnte diese Rate ebenfalls ändern. Olestra, so der Name, schmeckt nicht besonders ungewöhnlich, passiert den Körper jedoch, ohne verdaut zu werden (bewirkt aber oft Verdauungsbeschwerden). Eine vorläufige Studie – durchgeführt von George A. Bray, einem der Direktoren des Biomedizinischen Forschungszentrums in Baton Rouge – deutet darauf hin, daß sich mit dem Fettersatzstoff vielleicht der passive Mehrverzehr gewissermaßen kurzschließen ließe. Zwei Wochen lang ersetzte Bray das natürliche Fett in den Mahlzeiten seiner Versuchspersonen durch Olestra. Der dadurch verringerte nutzbare Energieinhalt "wurde nicht durch erhöhten Mehrverzehr kompensiert". Aber, so fügte er hinzu, "noch bleibt abzuwarten, ob dies auch in Langzeitstudien der Fall sein wird".

Das Fettgleichgewichtsmodell erklärt teilweise, warum das Körpergewicht von Personen, die zuviel Fett mit der Nahrung zu sich nehmen, sich auf jeweils verschiedenem Niveau einpendelt: Einige verbrennen es bereits bei ihrem normalen Gewicht effizient, andere hingegen so lange zuwenig, bis zusätzliche Pfunde die Oxidationsrate in die Höhe treiben. Damit wird jedoch noch nicht verständlich, warum manche Menschen einfach nie zuviel essen. Flatt sucht das mit einer Glykogen-Hypothese zu erklären.

Der menschliche Organismus kann ungefähr eine Tagesreserve an Kohlenhydraten in Form von Glykogen, tierischer Stärke, speichern. Mit jeder Mahlzeit ergänzt man den Vorrat teilweise, füllt ihn aber selten völlig auf. Die Spannweite zwischen "leer" und "voll" scheint sich nach individuellen Vorlieben zu richten, und diese wiederum hängen von Umständen ab wie Abwechslungsreichtum und Bekömmlichkeit der vorhandenen Nahrung, gesellschaftlichen Gepflogenheiten sowie familiären oder persönlichen Essensgewohnheiten. Flatt meint, daß Menschen, die mit geringen Glykogenreserven vorliebnehmen oder sie durch körperliche Betätigung oft aufbrauchen, Fett rascher verbrennen als jene, die ihre Glykogentanks gerne voll haben. Aber er räumt ein, daß die "entscheidende Verbindung von Glykogenreserven und Appetit noch nachgewiesen werden muß".

Überhaupt sind noch mehr Belege erforderlich, um entweder die Sollwert- oder die Fließgleichgewicht-Hypothese zu verifizieren – oder nachzuweisen, daß beide ergänzungsbedürftig oder gar falsch sind. James O. Hill vom Health Science Center der Universität von Colorado in Boulder hat mit der Erhebung einiger solcher kritischer Daten begonnen. Er stellt ein Verzeichnis der für die Adipositas-Forschung wertvollsten Ressourcen zusammen: jener Personen, die stark abgenommen hatten und seit mehreren Jahren ihr neues Gewicht ohne Rückfall halten konnten. Ungefähr 1000 hat er bereits rekrutiert und einige nach biochemischen Kriterien zu untersuchen begonnen, die Aufschluß über die Ursachen des Erfolgs geben könnten.

Den gegenwärtigen Modellen der Gewichtsregulation zufolge bleibt allerdings wenig von freiwilligen bewußten Entschlüssen zum Abnehmen zu erhoffen, weil sämtliche beteiligten Stoffwechselkreisläufe unterbewußt gesteuert werden. Zumindest die Fließgleichgewicht-Hypothese aber läßt vermuten, daß radikale Veränderungen der Lebensweise den Körper dazu bringen dürften, sich auf ein neues Gewicht einzupendeln. Hinreichende Umstellungen sind jedoch ohne permanente Unterstützung offensichtlich zu quälend – Millionen von Diätwilligen haben sich kasteit und sind gescheitert.


Hilfe von der Medizin

Insbesondere amerikanische Fachwissenschaftler vertreten zunehmend die Ansicht, wohl am wirksamsten sei mit Medikamenten zu helfen. "Die Behandlungsstrategie der vergangenen 40 Jahre, den Patienten eine andere Ernährungsweise und ein anderes Eßverhalten beizubringen, taugt einfach nicht dazu, der weltweit epidemischen Ausbreitung von Übergewicht bis hin zur Fettsucht zu begegnen", konstatiert Barbara C. Hansen, Direktorin des Adipositas-Forschungszentrums an der Medizinischen Fakultät der Universität von Maryland in Baltimore. Die Bemühungen, die zugrundeliegenden biologischen Vorgänge zu entwirren, haben eine Fülle neuer Ansatzpunkte für die Entwicklung von Wirkstoffen erbracht, was wiederum Dutzende pharmazeutischer Unternehmen auf den Plan rief (Bild 8). Das Marktpotential ist nach Ansicht von Experten riesig – und das nicht nur, weil Übergewicht so häufig vorkommt und weiter zunimmt, sondern auch, weil selbst ein ideales Medikament lebenslang eingenommen werden müßte. "Fettsucht ist nicht heilbar", sagt Bray, "sie läßt sich mit Bluthochdruck vergleichen: Nach Absetzen der senkenden Medikamente bleibt er nicht vermindert. Und wenn man nicht die Medikamente gegen viel zu hohes Körpergewicht weiter nimmt oder sonst etwas dagegen tut, bleibt es eben auch nicht vermindert."

Die Folgen einer Langzeitbehandlung sind freilich noch unbekannt. Immerhin stellen sich die Vorteile einer medikamentösen Therapie inzwischen deutlicher dar, beispielsweise gegenüber einem drastischen operativen Eingriff, der Verkleinerung des Magens, obwohl man damit in Schweden erstaunlich gute Erfahrungen gemacht hat. So ergab dort eine Langzeitstudie an 1150 fettsüchtigen, vielfach an Diabetes und Bluthochdruck leidenden Patienten, daß sie in den beiden Jahren nach der Operation im Schnitt 30 Kilogramm abnahmen – oder 40 Kilogramm, wenn der Eingriff ausgedehnter war. Eine Diätbehandlung anderer ebenfalls fettsüchtiger Patienten brachte hingegen keine wirkliche Gewichtsreduktion. Die operative Maßnahme heilte auch mehr als zwei Drittel der Diabetiker in ihrer Gruppe, die diätische hingegen nur 16 Prozent in der Kontrollgruppe; im Falle von Bluthochdruck war die Operation mit einer Erfolgsquote von 43 Prozent doppelt so wirksam wie die Diät.


Vorbeugen – die beste Medizin

Außer den üblichen Risiken aller größeren operativen Eingriffe birgt die Magenverkleinerung auch gewisse langfristige – im wesentlichen treten häufig Verdauungsbeschwerden auf. Die Behandlung mit Medikamenten könnte vielleicht günstiger sein. Vorbeugung allerdings wäre wohl immer noch die beste Methode; dies jedenfalls legen Barbara Hansens Untersuchungen an Rhesusaffen nahe. Ihr Team arbeitet an einem Langzeitversuch mit jungen, aber ausgewachsenen Rhesusaffen, die zu Beginn in ihrer körperlichen Reife in etwa 20 Jahre alten Männern entsprachen. Sie erhielten fortan gerade so viel Futter, daß sie weder zu- noch abnahmen. "In den bislang zehn Jahren gelang es uns, sowohl der Fettsucht als auch dem Typ-II-Diabetes 100prozentig vorzubeugen", berichtet die Forscherin. "Von der Kontrollgruppe, der wir gestatteten, von demselben Futter nach Belieben zu fressen, ist nun etwa die Hälfte diabetisch. Da alles, was wir bislang über Übergewicht beim Menschen wissen, auch auf andere Primaten zutrifft, wird uns hier die Wirksamkeit der Gewichtskontrolle schlagend vor Augen geführt."

Aufklärung der Bevölkerung, wie Übergewicht vorzubeugen sei, hatte indes bislang wenig greifbare Erfolge. Die Forschungsetats sind zudem der Situation nicht angemessen. "Vielen Leuten scheint noch nicht klar zu sein, was für ein Gesundheitsproblem Übergewicht heute schon darstellt und wie sehr es sich in Zukunft noch ausweiten wird, vor allem infolge der zunehmenden Übergewichtigkeit von Kindern", sagt Susan Z. Yanovsky, Direktorin eines Schulungsprogramms des amerikanischen Nationalen Instituts für Diabetes sowie Erkrankungen des Verdauungstrakts und der Nieren. Weil dicke Heranwachsende gewöhnlich fette Erwachsene werden, "haben wir in den nächsten 20 bis 30 Jahren immense Schwierigkeiten zu gewärtigen", fügt sie hinzu.

Ein umfassendes Projekt an amerikanischen Grundschulen verringerte den Anteil jener, die im späteren Jugendalter übergewichtig wurden, immerhin um einige paar Prozentpunkte: Das Mittagessen war weniger fettreich, den Kindern wurden körperlich anstrengende Freizeitaktivitäten geboten, und ihre Eltern klärte man über Maßnahmen zur Gewichtskontrolle auf. "Wir müssen sehr vorsichtig sein, Kinder auf strenge Diät zu setzen," warnt Susan Yanovsky. "Aber wir können mehr tun, um sie vom Fernseher wegzulocken und zu mehr Sport anzuregen oder dazu, das Rad zu nehmen, statt sich mit dem Auto fahren zu lassen." Falls die Bevölkerung aber nicht zu bewegen sei, sich schlank zu halten, müsse sie mit enormen künftigen Kostensteigerungen im Gesundheitswesen rechnen.

Literaturhinweise

- Weighing the Options: Criteria for Evaluating Weight-Management Programs. Herausgegeben von Paul R. Thomas. National Academy Press, 1995.

– Regulation of Body Weight: Biological and Behavioral Mechanisms. Herausgegeben von C. Bouchard und G. A. Bray. John Wiley & Sons, 1996.

– Nationale Verzehrstudie. Herausgegeben von H. J. v. Anders, J. Rosenbauer und B. Matiaske. Bonn 1991.

– Ernährungsbericht 1992. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Frankfurt/Main 1992.

– Ernährungsmedizin und Diätetik. Von Heinrich Kasper. Urban und Schwarzenberg, 1991.

– Weitere Informationen in englischer Sprache einschließlich eines ausführlichen Literaturverzeichnisses stehen im World Wide Web unter http://www.sciam.com/0896issue/0896gibbs. html zur Verfügung.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1996, Seite 54
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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