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Überraschender Winkelzug in der Proteinbiosynthese

Ein fehlendes Stoppsignal in der RNA-Anleitung für den Aufbau eines Proteins löst in einer Bakterienzelle einen ungewöhnlichen Vorgang aus. Ein neuentdecktes Molekül, das Eigenschaften von Transfer- und Boten-RNAs in sich vereint, springt ein und bewirkt eine Art Nothalt. Zugleich markiert es das entstandene Protein als sofort wieder abzubauendes Ausschußprodukt.

Die Proteinbiosynthese des Darmbakteriums Escherichia coli dürfte unter Biologen nicht als Feld gelten, auf dem es noch fundamental Neues zu entdecken gäbe. Ihr Mechanismus ist im wesentlichen aufgeklärt (Spektrum der Wissenschaft, März 1996, Seite 21), und die noch ausstehenden molekularen Details sollten am Gesamtbild wenig ändern. Doch nun haben Nachforschungen über die Ursachen einer zufälligen Beobachtung wieder einmal gezeigt, daß man in der Wissenschaft nie vor Überraschungen sicher ist.

Mitarbeiter der Arbeitsgruppe von Richard J. Simpson am Ludwig-Institut für Krebsforschung in Parkville (Australien) wollten das Mäuse-Protein Interleukin-6 von Darmbakterien herstellen lassen. Dieses heute alltägliche Verfahren lieferte jedoch unerwartet ein Gemisch verschiedener Proteinmoleküle mit durchweg zu geringen Molekulargewichten. Als die Forscher die Abfolge der Aminosäurebausteine von den beiden Enden her bestimmten, fanden sie außerdem, daß die unterschiedlich langen Polypeptidketten paradoxerweise dieselben Anfangs- und Endsequenzen aufwiesen. Wie die genauere Analyse ergab, war die Synthese von Interleukin-6 vorzeitig abgebrochen und an das Ende der verkürzten Kette ein fremdes Stück aus elf Aminosäuren angehängt worden.

Die letzten zehn dieser elf Aminosäuren entsprechen einem in E. coli vorhandenen Gen namens ssrA. Tatsächlich hängen Mutanten, denen dieses Gen fehlt, das Elferpeptid nicht an. Robert T. Sauer und seine Mitarbeiter am Massachusetts Institute of Technology vermuteten in dem Schwanzstück ein Abbausignal – ähnliche Markierungspeptide waren bereits bekannt, darunter das umfassend erforschte Ubiquitin (Spektrum der Wissenschaft Januar 1996, Seite 70).

Zur Überprüfung veränderten sie die Gene zweier Proteine von E. coli so, daß die Elfersequenz das normale Ende darstellt. Tatsächlich wurden beide Eiweißstoffe in weniger als fünf Minuten abgebaut, während analoge Konstrukte mit anderen Aminosäuren in den letzten beiden Positionen durchschnittlich mehr als eine Stunde überdauerten ("Science", Band 271, Seiten 990 bis 993).

Doch wie bringt ssrA die Markierung zustande? Beim Ablesen eines Gens wird generell zunächst eine RNA-Abschrift (mRNA) davon angefertigt; sie dient dann Ribosomen, die daran entlanggleiten und die dreibuchstabigen Wörter des genetischen Codes entziffern, als Anleitung für den Aufbau des zugehörigen Proteins. Das RNA-Transkript von ssrA sieht allerdings äußerst merkwürdig aus. Seine beiden Enden falten sich zu einem Gebilde, das stark an die Kleeblattstruktur von Transfer-RNA-Molekülen erinnert (für jede Aminosäure gibt es eine tRNA, die sie aufnimmt und bei einem Ribosom abliefert, so daß sie in die wachsende Proteinkette eingebaut werden kann). Tatsächlich läßt sich die ssrA-RNA mit der Aminosäure Alanin beladen. Alanin aber ist genau die erste Aminosäure des Elferpeptids und zudem nicht in dem Mittelabschnitt der ssrA-RNA codiert. Dieses fehlende Glied war das Schlüsselindiz, aus dem Sauers Team mit kriminalistischem Spürsinn das mutmaßliche Geschehen in E. coli ableitete.

Demnach handelt es sich um ein Drama in sechs Akten (Bild): Damit die Proteinbiosynthese nach den Anweisungen einer Boten-RNA ordnungsgemäß abgeschlossen werden kann, muß diese ein Stoppsignal enthalten, das im Zusammenspiel mit speziellen Freisetzungsfaktoren die Ablösung des fertig synthetisierten Proteins vom Ribosom einleitet. Erreicht das Ribosom das Ende einer Boten-RNA, ohne vorher auf ein solches Signal zu treffen (zum Beispiel, weil der hintere Teil des RNA-Strangs zufällig abgebrochen ist), dann bleibt es dort stecken (1).

Damit sich hinter dem blockierten En-de nicht viele weitere Ribosomen aufstauen, die dann für die Zelle nutzlos wären, tritt in dieser Situation die ssrA-RNA auf den Plan. Der mit einem Alanin-Molekül beladene, tRNA-ähnliche Teil des Moleküls besetzt die A(kzeptor)-Stelle des Ribosoms (2) und vermag dieses offenbar zu täuschen. Obwohl keine Anweisung für den Einbau des Alanins vorhanden ist, wird es ganz normal an das wachsende Polypeptid angefügt.

Nach der Translokation befindet sich die Pseudo-tRNA mit dem um ein Alanin verlängerten Peptid in der P-Stelle, und ihr Mittelteil wird nunmehr als Boten-RNA behandelt. Das erste Codewort (GCA) steht wiederum für ein Alanin, das diesmal von einer ganz normalen tRNA in der A-Stelle deponiert (3) und an das Peptid angehängt wird (4). Nach dem zehnten Codon enthält die ssrA-RNA ein Stoppsignal (UAA), das in Kooperation mit dem Entlassungshelfer für den ordnungsgemäßen Abschluß der Proteinbiosynthese sorgt (5). Das fertigsynthetisierte Protein enthält dann hinter der Abbruchstelle das erwähnte Elferpeptid, das in E. coli als Abbausignal wirkt (6).

Das überzählige Alanin ist insofern das entscheidende Indiz, als es ausschließt, daß die ssrA-RNA bereits vor der Proteinsynthese an die Boten-RNA angehängt oder das Schwanzstück erst danach auf chemischem Wege mit dem fertig synthetisierten Proteinbruchstück verknüpft wird – wie das beim Ubiqui-tin und allen anderen bislang bekannten Abbausignalen geschieht. In diesem Falle ließe sich die Herkunft des Alanins nämlich nicht erklären, und die Fähigkeit der ssrA-RNA, Alanin anzulagern, wäre sinnlos.

Zur Überprüfung des theoretisch abgeleiteten Mechanismus bauten Sauer und seine Mitarbeiter in ein Protein-Gen ein Signal ein, das dessen Transkription vor dem Stopp-Codon beendete, so daß die resultierenden Boten-RNAs alle ein offenes Ende hatten. Tatsächlich wurde ihr Proteinprodukt innerhalb von wenigen Minuten abgebaut, sofern die Zellen ein funktionierendes ssrA-Gen besaßen. War dieses Gen inaktiviert, entstand dagegen ein Proteinbruchstück ohne Elferpeptid, das relativ lange überdauerte. In Zellen, die zwar das ssrA-Gen, aber nicht die für den Abbau benötigten Enzyme besaßen, ließ sich das Protein mitsamt dem angehängten Elferpeptid nachweisen. All diese Versuchsergebnisse stehen in Einklang mit dem vorgeschlagenen Mechanismus.

Aufregend an der Entdeckung ist, daß sie gleich mit drei fundamentalen Neuheiten bei einem vermeintlich lückenlos geklärten Vorgang aufwartet. So ist nie zuvor beobachtet worden, daß ein Ribosom gezielt eine bestimmte Aminosäure ohne entsprechende Anweisung auf der Boten-RNA in ein Peptid einbaut. Überraschend ist des weiteren, daß die Sequenzinformation zum Aufbau eines Polypeptids von verschiedenen Boten-RNAs stammt, das Ribosom also praktisch von einer RNA zu einer anderen überwechselt. Bisher hatte man nur festgestellt, daß es in seltenen Fällen Abschnitte innerhalb einer Boten-RNA überspringt. Äußerst ungewöhlich ist schließlich, daß ein und dasselbe Molekül als Transfer- und Boten-RNA zugleich zu fungieren vermag.

Gerade dieser Befund könnte aber auch neue Einsichten in die Evolution der Proteinbiosynthese eröffnen. Beim Übergang von jener reinen RNA-Welt, die vermutlich am Beginn der Entwicklung des Lebens stand, zu der heute existierenden Arbeitsteilung zwischen DNA, RNA und Proteinen müssen sich Adapter-Moleküle entwickelt haben, die als Vorläufer der modernen tRNAs die Verbindung zwischen RNA und Aminosäuren herstellten. Moleküle mit Doppelfunktion wie die ssrA-RNA könnte man sich gut in dieser Rolle vorstellen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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