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Atomphysik: Umordnung der Atomhülle in Zeitlupe

Veränderungen in der Elektronenhülle eines Atoms laufen in unvorstellbarem Tempo ab. Mit extrem kurzen Röntgenblitzen gelang es jetzt, das Auffüllen eines Loches in einer inneren Elektronenschale gleichsam in Zeitlupe zu verfolgen.


Ein Atom ist ein geordneter Mikrokosmos, in dem negativ geladene Elektronen, säuberlich aufgereiht in übereinander liegenden Schalen, einen positiven Kern umhüllen und dessen Ladung gerade kompensieren. Diese friedliche kleine Welt gerät aus den Fugen, wenn ein Photon (Lichtquant) ein Teilchen aus der Hülle schlägt. Für kurze Zeit ist das Gleichgewicht der Kräfte dann empfindlich gestört. Es kommt zu einem Gerangel unter den verbliebenen Elektronen: Sie arrangieren sich so lange um, bis eine neue stabile Anordnung hergestellt ist.

Solche Vorgänge spielen bei der Einwirkung ionisierender Strahlung auf Materie eine große Rolle, weshalb sich nicht nur Atomphysiker dafür interessieren. Sie sind allerdings nicht nur hochkomplex, sondern laufen auch extrem schnell ab. Deshalb gelang es bisher nicht, sie experimentell im Detail aufzuklären.

Ultrakurze Röntgenblitze

Sichtbares Licht kommt für solche Untersuchungen nicht in Frage. Erstens reichen die Energien optischer Photonen bestenfalls aus, um ein locker gebundenes Elektron im Außenbereich der Atomhülle in einen etwas energiereicheren Zustand anzuheben; mit einem stark vereinfachten Bild ausgedrückt, entfernen sie sich dadurch ein klein wenig weiter vom Kern, bleiben aber daran gebunden. Zweitens dauern solche Lichtblitze viel zu lang: Aus fundamentalen physikalischen Gründen können sie nämlich nicht kürzer sein als die Schwingungsperiode der verwendeten Strahlung – und die beträgt bei Photonen aus dem sichtbaren Spektralbereich etwa zwei Femtosekunden (10-15 Sekunden). Das Rearrangement der Elektronen vollzieht sich aber bis zu tausendmal schneller: in einer Zeitspanne von Attosekunden (10-18 Sekunden).

Will man diesen Vorgang im Einzelnen verfolgen, benötigt man Pulse entsprechend kurzer Dauer. Die aber lassen sich nur mit Photonen im extremen Ultraviolett- oder Röntgenbereich erzeugen, die mehr als tausendmal kleinere Schwingungsperioden haben. Außerdem sind derart kurzwellige Lichtquanten energiereich genug, auch solche Elektronen, die sich auf inneren Schalen dicht am Kern befinden, aus der Atomhülle herauszuschlagen.

Seit Wilhelm Conrad Röntgen 1895 seine "X-Strahlen" entdeckte, sind viele unterschiedliche Wege gefunden worden, sie zu erzeugen. Doch erst vor zwei Jahren gelang es einem Team von Physikern an der Universität Bielefeld und der Technischen Universität Wien, dem ich angehöre, eine Methode zu entwickeln, mit der sich einzelne Röntgenblitze von nur 650 Attosekunden Dauer herstellen und nachweisen lassen. Es handelt sich um die kürzesten bislang erzeugten elektromagnetischen Einzelpulse; selbst ultraschnelle moderne Mikroprozessoren brauchen für einen einzigen Taktzyklus eine Million Mal länger.

Der Trick besteht darin, sehr starke infrarote Laserpulse von ungefähr sieben Femtosekunden Dauer in ein Gas – beispielsweise Neon – zu fokussieren. Im Brennpunkt treten dabei Strahlungsintensitäten auf, die das Milliardenfache derjenigen auf der Sonnenoberfläche betragen. Die Gasatome werden dadurch ionisiert und die freigesetzten Elektronen im elektrischen Feld des Laserlichts auf hohe Geschwindigkeiten beschleunigt.

Wie winzige Geschosse rasen sie dann durch das Medium. Wenn sie dabei mit enormer Wucht erneut auf ein Gasatom prallen, entsteht ein Strahlungsblitz aus Photonen, die um ein Vielfaches kurzwelliger sind als das eingestrahlte Laserlicht: Ihre Energie erreicht bis zu einige hundert statt der rund 1,6 Elektronenvolt der ursprünglichen Laserquanten. Zugleich sind diese Pulse extrem kurz und dauern nur wenig mehr als eine halbe Femtosekunde.

Schnappschüsse der Energieverteilung

Die aus der Fotografie entlehnte Vorstellung, dass sich jede noch so schnelle Bewegung scharf abbilden lässt, wenn das verwendete Blitzlicht nur kurz genug aufflammt, ist griffig – aber in unserem Fall irreführend. Die Quantenmechanik lässt es nämlich nicht zu, den Ort eines Elementarteilchens, dessen Energie bekannt ist, durch Beobachtung präzise zu bestimmen. Wir werden also nie eine räumlich aufgelöste Zeitlupenaufnahme der Elektronenbewegung in der Atomhülle zu sehen bekommen.

Sehr wohl erlaubt ist es aber, Änderungen der Energieverteilung eines Teilchen-Ensembles mit beliebig hoher zeitlicher Auflösung zu verfolgen. Außer dem blitzartigen Anregungspuls, der ein Elektron aus der Atomhülle katapultiert, braucht man dafür freilich einen "Kameraverschluss", der die Umordnung der Elektronen zu einem definierten späteren Zeitpunkt abfragt. Da mechanische Verschlüsse viel zu träge wären, dient zur Abfrage ein zweiter Blitz aus sichtbarem Licht, der mit einer gewissen Verzögerung auf den Röntgenpuls folgt.

Durch das Herausschlagen eines Elektrons aus der inneren Atomhülle entsteht zunächst ein "Loch". Es verschwindet aber gleich wieder, weil ein weniger stark gebundenes Elektron aus einer äußeren Schale sofort auf den energetisch günstigeren Platz wechselt. Die dabei freigesetzte Energie wird auf ein weiteres Elektron übertragen, das als "Auger-Elektron" – benannt nach dem französischen Physiker Pierre Victor Auger (1899-1993) – mit einer charakteristischen Bewegungsenergie aus dem Atom entweicht. Dieser "Zerfall" folgt gemäß der Theorie einem universellen Gesetz, das den Prozentsatz von Atomen, die noch kein solches Auger-Elektron ausgesandt haben, als Funktion der Zeit beschreibt.

Meine Kollegen und ich konnten diese so genannte Zerfallsfunktion nun zum ersten Mal mit der gerade beschriebe-nen Anregungs- und Abfragemethode an Kryptonatomen messen. Dazu feuerten wir einen 900 Attosekunden langen Röntgenpuls in das Gas und schickten in unterschiedlichen Abständen einen infraroten Laserpuls von sieben Femtosekunden Dauer hinterher. Der Röntgenpuls setzte den oben geschilderten Zerfallsprozess in Gang, und der Laserpuls fragte ab, wann das Auger-Elektron entwich. Dieses tauscht nämlich, wenn bei seiner Aussendung ein starkes Lichtfeld anwesend ist, Energie mit ihm aus. Je nachdem ob das Wechselfeld in dem Moment gerade in die gleiche oder die entgegengesetzte Richtung zeigt, in die sich das Teilchen bewegt, wird es beschleunigt oder abgebremst. So kann man aus Vorzeichen und Ausmaß der Energieänderung auf den Moment der Aussendung des Auger-Elektrons relativ zum Lichtpuls schließen. Der Zeitabstand von Röntgen- und Laserpuls lässt sich sehr genau einstellen, sodass eine Sequenz von Energiespektren bei schrittweise ansteigender Verzögerung eine Art energetischer Zeitlupenaufnahme des Zerfallsvorgangs ergibt.

Da es sich um ein Quantenphänomen handelt, erfolgt die Energieänderung des Auger-Elektrons allerdings nicht kontinuierlich, sondern stufenweise – in Quanten der Energie des Laserphotons von 1,6 Elektronenvolt. Dadurch erscheint im Energiespektrum der ausgesandten Auger-Elektronen vorübergehend eine zusätzliche Linie, die um 1,6 Elektronenvolt verschoben ist. Gleichzeitig schwächt sich die ursprüngliche Auger-Spektrallinie ab. Während der Abstand zwischen Röntgen- und Laserpuls vergrößert wird, nimmt die Intensität der neuen Linie zunächst zu und verringert sich dann wieder. Interessant ist, wann sie ihr Maximum erreicht. Denn daraus lässt sich die Halbwertszeit des untersuchten Auger-Zerfalls bestimmen. Wie sich zeigte, ist sie sehr kurz: Sie beträgt nur 5,5 ± 0,7 Femtosekunden.

Mit unserem Experiment konnte dieser Wert erstmals für einen Auger-Zerfall direkt gemessen werden. Der Theorie zufolge sollten viele ähnliche Prozesse in anderen Atomen sogar noch schneller ablaufen und schon nach wenigen hundert Attosekunden abgeschlossen sein. Auch sie lassen sich mit der neuen Methode im Prinzip verfolgen. Die dafür nötigen stärkeren Lasersysteme werden derzeit entwickelt. Sie liefern energiereichere Röntgenphotonen und machen so noch tiefere Schalen der Elektronenhülle zugänglich. Zugleich steigt die Zeitauflösung: Die durch die Schwingungsperiode definierte prinzipielle Grenze beträgt bei den härteren Röntgenphotonen nur noch zehn Attosekunden.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2003, Seite 20
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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