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Unfallforschung mit Crashtest-Dummys



Prallt ein Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde auf ein festes Hindernis, wird es abrupt verformt und abgebremst. Aufgrund seiner Massenträgheit bewegt sich aber ein Insasse zunächst weiter, bis Rückhaltesysteme wie Sicherheitsgurt und Airbag oder Teile des Fahrzeuginnern – häufig Lenkrad, Armaturenbrett, Lenksäule, Pedale oder Windschutzscheibe – ihn aufhalten. Innere Organe sind indes noch länger unterwegs, bis sie auf bereits gestoppte Körperstrukturen stoßen, beispielsweise das Gehirn gegen den Schädel. All dies geschieht in weniger als 200 Millisekunden (|tausendstel Sekunden|), wobei der Schwerpunkt des Fahrzeugs mit mehr als 20 g – also mit mehr als dem Zwanzigfachen der Erdbeschleunigung – abgebremst wird. Auf den Menschen jedoch, der keinerlei Knautschzone hat, können in diesem Szenario über 50 g, auf einzelne Körperteile sogar bis zu 200 g wirken. Schwere Verletzungen sind dann die Folge.

Unfälle, die in der Realität stattgefunden haben, werden im Crashtest-Labor rekonstruiert, um den Schutz von Fahrzeuginsassen durch Aufklärung der Verletzungsmechanismen weiter zu verbessern (|Bild 1|). Dabei setzt man auch – sofern Schäden ausgeschlossen sind – Probanden ein, um das Verhalten des menschlichen Körpers beim Aufprall allgemein zu untersuchen; insbesondere interessieren Bewegungsabläufe und Veränderungen von Funktionen wie Muskelanspannung, Blut- oder Lungendruck.

Ferner nutzt man Tiere, insbesondere wenn betroffene Körperteile den menschlichen ähneln. Die Gefährdung des Zentralnervensystems etwa läßt sich am Menschenaffen, die der Organe des Bauchraums an Ferkeln abklären. Des weiteren ermöglichen mathematische Modelle von Körper, Fahrzeug und Unfallszenario Computersimulationen. Damit kann man Parameter einer Konstruktion noch während der Produktentwicklung auf ihre Risikofaktoren oder ihren Wert als Schutzvorrichtung prüfen und notfalls ändern.

Unentbehrlich für den Schutz der Lebenden sind schließlich Aufprall-Untersuchungen mit Leichen, denn nur damit vermag man anatomische Verletzungen nach Art und Schweregrad sehr genau zu bestimmen; physiologische Schäden sind so freilich nicht zu analysieren. Die Kadaver werden zu diesem Zweck eigens präpariert. Beispielsweise erzeugt man einen künstlichen Blutdruck durch die Infusion einer Salzlösung, denn lebendes Gewebe besteht nun einmal aus flüssigen und festen Komponenten; die Elastizität und die Fähigkeit zur Energieaufnahme des Körpers werden davon entscheidend geprägt.

Besondere Bedeutung haben Kadaver-Experimente und die dabei gewonnenen Daten für die Validierung von Crashtest-Dummys. Im allgemeinen sind das mechanische, dem menschlichen Körper nachgebaute Puppen, die mit Sensoren ausgestattet werden.

Nicht für alle Tests braucht man ein hochentwickeltes oder detailliertes Modell. So reicht es häufig, nur jene Körperteile zu modellieren, die beim Unfall mit einem Fahrzeugteil Kontakt hätten (|Bild 2 links|); die Widerstandsfähigkeit von Automobilkomponenten wiederum ist schon in einfachen Belastungstests zu ermitteln, etwa indem man einen Kolben auf ein Lenkrad prallen läßt. Sicherheitsprüfungen vollständiger Schutzsysteme oder kompletter Fahrzeuge erfordern jedoch eine weitgehend getreue Nachbildung des Menschen hinsichtlich Größe, Form, Trägheit und Reaktion auf den Aufprall.

Geschichtlicher Hintergrund

Anthropomorphe, also dem menschlichen Körper nachgebildete Testsysteme wurden erstmals Ende der vierziger Jahre bei der Entwicklung von Schleudersitzen in der Luftfahrt eingesetzt. In den sechziger Jahren folgten in den USA die Typen Very Important People und Sierra für Kraftfahrzeug-Crashtests. Mit dem 1972 entwickelten Hybrid II wurde dann geprüft, ob Automobile den gesetzlichen Vorschriften genügten; man spricht von Compliance-Tests.

Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre galt das Interesse in Europa hauptsächlich Rückhaltesystemen, insbesondere Gurten und Kindersitzen. Speziell dafür entstanden die Modelle Oliver und Pinocchio, die – obzwar nie in größerem Umfang eingesetzt – Grundlagen weiterer Entwicklungen boten (|Bild 3|). Der erste in Europa genormte Dummy für Compliance-Tests von Gurtsystemen war der TNO-10 (|Bild 2 Mitte|); er ist nach wie vor im Einsatz.

Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Puppen für verschiedene Unfallsituationen, beispielsweise für Frontal- oder Seitenaufprall und für Unfälle mit Fußgängern. Stets erfordert ihr Entwurf einen interdisziplinären Ansatz, denn das Verhalten des menschlichen Körpers unter bestimmten Bedingungen muß mit den letztlich doch beschränkten Mitteln der Mechanik und Elektronik verläßlich und reproduzierbar nachgebildet werden. Viele Anforderungen sind dabei konträr und erfordern wiederholtes Abstimmen.

Entwurf, Konstruktion und technische Prüfung

Drei Phasen der Entwicklung lassen sich grob unterscheiden, wenngleich sie meist überlappen dürften: Auf die Definition grundlegender Merkmale und die Konstruktion folgen die Validierung des Prototyps, die gewährleistet, daß der menschliche Körper genau nachgebildet ist, und schließlich die Prüfung, ob sich der Dummy überhaupt als Meßinstrument eignet.

Die Art des geplanten Tests bestimmt Konfiguration und Merkmale. Folgende Eigenschaften sind zu definieren:

– Welche Bevölkerungsgruppe soll der Dummy repräsentieren?

– Welcher Belastung wird er unterworfen?

– Welche Körperteile sind wahrscheinlich gefährdet?

– Welche Fahrzeugstruktur oder welches Sicherheitssystem sind zu testen?

– Welche Körperteile und Gelenke müssen modelliert sein?

– Welche Meßdaten sind zu erheben?

In dieser frühen Phase wird die instrumentelle Ausstattung entsprechend den benötigten Daten festgelegt. Die am häufigsten eingesetzten Sensoren messen Beschleunigung, Kraft oder den Versatz von Körperteilen (|Bild 4|). Zusätzlich werden Bewegungsabläufe auf Hochgeschwindigkeits- oder Videofilm aufgezeichnet.

Sodann gilt es, Design- und Reaktionsmerkmale zu spezifizieren, die den Dummy zu einem wirklichkeitsgetreuen Modell machen. So sollte er die anthropometrischen Merkmale wie Größe, Form, Haltung, Masse und Masseverteilung der zu modellierenden Bevölkerungsgruppe aufweisen. Weil die wenigen diesbezüglichen Datensätze derzeit noch sehr lückenhaft sind, muß jeder Entwurf immer wieder anhand von Kenntnissen der menschlichen Anatomie geprüft werden.

Erwachsene werden meist durch einen Mann der 50. Perzentile repräsentiert, was bedeutet, daß die Hälfte der männlichen Erwachsenen anthropometrische Merkmale oberhalb und die andere Hälfte solche unterhalb dieser Spezifikationen aufweisen (Bild 5). Im Jahre 1976 wurde beispielsweise Hybrid-III – Nachfolger von Hybrid-II – als Modell dieser Personengruppe für Frontalaufpralltests spezifiziert (|Bild 2 rechts). Vollständig ausgerüstet verfügt er über mehr als 60 Meßwertaufnehmer und kostet etwa 260||000 Mark.

Für sehr große Männer beziehungsweise sehr kleine Frauen werden der 95.-Perzentile-Mann und die 5.-Perzentile-Frau verwendet. Denn mitunter muß man auch Extreme in der erwachsenen Bevölkerung berücksichtigen.

Die dynamischen Reaktionen eines Dummys sollten ebenfalls das biologische Vorbild getreulich simulieren. Diese biofidelity läßt sich durch Vergleich mit Daten von Probanden, Tieren oder Leichen bei entsprechenden Belastungen beurteilen. Und zwar müssen Teile der Puppe beim Aufprall nicht nur beispielsweise gleiche Steifigkeit und Dämpfung wie die korrespondierenden Körperteile haben, sie sollen am Fahrzeug auch dieselben Schäden hinterlassen, die bei echten Unfällen oder bei Tests mit Leichen festzustellen sind.

Mit Seitenaufprall-Dummys hat man dazu relativ einfach konzipierte Fall- und Aufpralltests, aber auch kompliziertere Schlitten- und Gesamtsystemtests durchgeführt. Für alle Hauptkörperteile – also Kopf, Nacken, Schultern, Brustkorb, Bauchbereich und Becken – wurden die Auswirkungen auf menschliche Testsubjekte, zumeist Leichen, gemessen (|Bild 7|). Da jeder Mensch anders als andere gebaut ist, müssen diese Daten normiert werden, so daß sie einen Durchschnitt repräsentieren. Dann kann man eine oder mehrere erlaubte Reaktionsbandbreiten für Modelle oder Teilsysteme festlegen. Liegen die Meßergebnisse innerhalb dieser Grenzen, gelten die Dummys als getreuliche Nachbildungen. Der nach diesen Vorgaben konstruierte Europäische Seitenaufprall-Dummy (|Eurosid-1|) wird deshalb für Simulationen dieser speziellen Unfallsituation am häufigsten verwendet (|Bild 8|).

Im dritten Schritt der Entwicklungsphase werden die derart optimierten Konstruktionsentwürfe realisiert. Häufig nutzt man dabei mathematische Modelle, computergestützte Verfahren und Rapid Prototyping, also direktes Umsetzen von Konstruktionsdaten in ein Modell (|Spektrum der Wissenschaft, April 1995, Seite 90|). An einem Prototyp läßt sich dann anhand strikter Kriterien beurteilen, ob er als Testinstrument geeignet ist:

– Bei wiederholten Tests sollen dieselben Reaktionen gemessen werden. (|Während Menschen verletzt würden, muß ein Dummy für weitere Einsätze intakt bleiben, dabei aber den Grad der Überlastung messen.|)

– Ein anderer Dummy desselben Modells muß dieselben Reaktionen zeigen; nur dann ist die Forderung nach Reproduzierbarkeit erfüllt.

– Auf Veränderungen der Testbedingungen, die sich auf das Verletzungsrisiko auswirken können, sollte das Gerät empfindlich reagieren, auf andere jedoch möglichst wenig.

– Der Dummy muß auch bei hohen Belastungen viele Male verwendbar sein, damit der Aufwand nicht maßlos wird.

Alle Schritte der Entwurfsphase unterliegen freilich gewissen Beschränkungen durch Herstellungsverfahren, Werkstoffe und Kosten sowie benutzerspezifische Anforderungen. So ist es mitunter nicht sinnvoll, die verschiedenen Qualitätskriterien gänzlich auszureizen. Ein Beispiel für einen solchen Kompromiß ist der erwähnte TNO-10 zum Test von Erwachsenen-Gurtsystemen. Gemessen werden nur deren Festigkeit und Deformationen am Modell etwa durch Versatz des Brustbeins. Die Puppe besteht deshalb lediglich aus den wichtigsten Körperteilen und Gelenken; sie sind aber anthropometrisch korrekt, lassen sich häufig verwenden und gewährleisten hohe Reproduzierbarkeit, wenngleich sie nur begrenzte biofidelity haben.

Beurteilung von Verletzungsrisiken

Auf Entwurf, Konstruktion und technische Prüfung folgt die Validierung, also die Untersuchung der Vergleichbarkeit von Modell und Mensch. Zunächst sind alle verfügbaren Daten von Tests mit Leichen beziehungsweise Probanden oder von Unfällen zu erfassen und Verletzungen nach ihrem Schweregrad zu bewerten. Dabei verwendet man häufig eine vereinfachte Skala, die abbreviated injury scale (|AIS|), die Schäden nach der Gefährdung des Lebens klassifiziert; sie reicht von 1 für geringfügiges Risiko bis 6 für sehr geringe Überlebenswahrscheinlichkeit. Bei Untersuchungen zur Unfallsicherheit von Fahrzeugen wird gewöhnlich ein AIS-Wert von 3 – schwere Verletzung – als Übergang von einem akzeptablen zu einem nicht mehr akzeptablen Risiko betrachtet.

Sodann belastet man das Modell und vergleicht Sensor- und Referenzdaten. Daraus wird eine Beschreibung der Verletzungsmechanik abgeleitet, sei es ein einfacher Parameter wie die erlaubte Maximalbeschleunigung eines Körperteils, sei es eine Formel, die mehrere Meßwerte verknüpft. Schließlich quantifiziert man den Zusammenhang von Dummy-Parameter und Verletzungsgrad beim Menschen durch statistische Analyse (|Bild 8|).

Aktuelle und künftige Entwicklungen

Neue Sicherheitstests und Testgeräte werden derzeit entwickelt oder sind bereits genormt, zum Beispiel

– Vorrichtungen, die Kopf, Oberschenkel und Bein eines Fußgängers simulieren. Mit ihnen soll untersucht werden, wie stark die Frontpartie von Fahrzeugen diese am wenigsten geschützten Verkehrsteilnehmer verletzen würde.

– Mit dem Anthropomorphen-Motorrad-Testgerät sollen Motorradunfälle untersucht werden.

– Ein spezieller Dummy wird helfen, die Auswirkungen eines Heckaufpralls bei niedriger Geschwindigkeit, etwa das Schleudertrauma der Halswirbelsäule, zu erforschen.

– Besonders schwierig ist die Entwicklung von Kinder-Dummys, weil es bislang nur sehr wenige biomechanische Daten dieser Bevölkerungsgruppe gibt. Dabei ist gerade sie aufgrund der altersabhängigen Körpergrößen und -proportionen sehr heterogen, und es wären mehr unterschiedliche Puppen erforderlich, um sie modellhaft zu erfassen. Seit 1981 gilt in Europa die ECE-Verordnung 44 für Zulassungsprüfungen von Kindersicherungssystemen; sie spezifiziert die Baureihe TNO-P oder gleichwertige, wobei P wiederum für Pinocchio steht (|Bild 6|). Die Konstruktion berücksichtigt insbesondere die Bewegungen von Körperteilen gegeneinander, aber kaum mögliche Deformierungen; zur sensoriellen Ausstattung gehören dementsprechend Geschwindigkeits- und ein Nacken-Kraftmesser. Die neuere Q-Reihe soll mit besseren Meßvorrichtungen und originalgetreuerem Verhalten helfen, insbesondere Kindersicherungssysteme gegen Frontal- und Seitenaufprall zu optimieren.

– Das Verbesserte-Anthropomorphe-Testgerät ist ein neuer Frontalaufprall-Dummy für Forschungszwecke, der 200 Meßwerte kontinuierlich zur Verfügung stellt.

Doch auch Crashtests selbst bilden die Wirklichkeit immer besser nach, so daß es möglich wird, frontale und seitliche oder sogar vertikal wirkende Belastungen gleichzeitig zu simulieren. Folglich müssen künftige Dummys in mehreren Raumrichtungen korrekt reagieren.

Biomechanische Untersuchungen machen mittlerweile einsichtig, wie die Verletzungsmechanismen bei Unfällen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ differieren. So sollte sich mit Hilfe von Dummys die Wahrscheinlichkeit mindern lassen, daß bei einem Aufprall von hinten mit gewisser Energie die Halswirbelsäule bricht, aber auch aufklären lassen, wie Zerrungen von Muskulatur, Bändern und Nervenfasern beim Schleudertrauma entstehen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1997, Seite 90
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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