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Ungeplante Siedlungen/Non-planned Settlements. Charakteristische Merkmale - Wegesystem, Flächenteilung


Eine Anzahl bedeutender Städte dokumentiert in ihrem Aufbau Absichten eines Planers wie zum Beispiel Übersichtlichkeit oder Ausrichtung auf ein Zentrum. Die meisten menschlichen Ansiedlungen, vor allem die weniger bekannten, sind dagegen in einem ungeplanten, interaktiven Besiedlungsprozeß entstanden. Jeder hat dieses Phänomen sicherlich schon im Urlaub erlebt oder sogar bei der Inbesitznahme eines Stücks Strand durch die obligatorische Sandburg selbst Hand angelegt. Trotz ihrer chaotischen Entwicklung vermitteln ungeplante Siedlungen häufig den Eindruck eines harmonischen Ganzen.

Bildet sich auch hier, wie so oft in der natürlichen Umwelt, aus der Interaktion einer Vielzahl von Beteiligten eine übergeordnete Struktur? Welche Kräfte haben beim Entstehen einer Siedlung gewirkt und sind noch heute an der äußeren Gestalt ablesbar? Eda Schaur vom Institut für Leichte Flächentragwerke der Universität Stuttgart hat diese Fragen mit Methoden untersucht, die bislang in völlig anderem Zusammenhang – vor allem im Bereich natürlicher statischer Konstruktionen – eingesetzt wurden.

Das Buch ist aus einer Dissertation hervorgegangen, was sich auch im wissenschaftlichen Stil niederschlägt. Eda Schaur verlangt von ihren Lesern fachliche Vorbildung oder eine erhebliche Hartnäckigkeit, gibt ihnen aber auch Gelegenheit, mit dem gut dokumentierten, auf zahlreichen interessanten Luftaufnahmen basierenden Quellenmaterial selbständig und kritisch umzugehen.

Ausgewählte Siedlungen aus Afrika, Asien und Europa werden in einem Ab-straktionsprozeß reduziert auf ein Netz aus Teilflächen, Verbindungswegen und Knoten, das heißt Kreuzungen oder Gabelungen. Gleichartige Netze finden sich bei natürlichen Strukturen wie Mustern von Blattadern oder Porzellanrissen und bei aus physikalischen Experimenten hervorgegangenen Netzwerken.

So wird eine Kiste, in deren Boden Löcher gebohrt sind, mit Sand gefüllt. Der ausströmende Sand hinterläßt Krater; die zwischen diesen stehenbleibenden Grate bilden das Modell einer Flächenbesetzung nach dem Prinzip der Revieraufteilung.

Ein anderes Modell ist das Blasenfloß: Ein Gebilde aus Seifenblasen wird zwischen zwei waagerechten Glasplatten eingeschlossen. Die Struktur minimiert die Gesamtfläche der Flüssigkeitslamellen unter Beibehaltung der einzelnen Teilvolumina. Wenn alle Blasen beiderseits an die Glasplatten angrenzen, stehen ihre Grenzflächen senkrecht auf den Platten und bilden dort ein Muster von Linien. In der Projektion läuft das darauf hinaus, daß die Gesamtlänge dieser Linien unter Beibehaltung der einzelnen von ihnen umschlossenen Flächeninhalte minimiert wird. Das Muster ist einem besonders kurzen Straßennetz ohne Sackgassen analog.

Die Untersuchung beruht vorwiegend auf topologischen Merkmalen wie der Anzahl von Nachbarflächen eines Flächenstücks (der Nachbarschaftszahl) und der in einem Knoten zusammentreffenden Wege (der Knotenzahl) sowie deren Häufigkeitsverteilungen. In einer zusammenfassenden zweidimensionalen Graphik mit den Koordinaten mittlere Nachbarschaftszahl und mittlere Knotenzahl sind die Siedlungen gemeinsam mit den Modellstrukturen und regelmäßigen Flächenteilungen eingetragen. Es zeigen sich zwei auffallende Häufungen. Die meisten Siedlungen haben eine geringe Knoten- und eine hohe Nachbarschaftszahl. Sie liegen auch in der Nähe der meisten (natürlichen oder experimentell erzeugten) Vergleichsstrukturen. Ausnahmen bilden die einzige untersuchte geplante Siedlung (die altrömische Stadt Timgad) und ein sehr dünn besiedeltes afrikanisches Streudorf. Offenbar bildeten sich im letzten Fall die Wege nicht als Negativbild einer Flächenbesetzung, sondern relativ unbehindert nach dem „Prinzip der minimierten Umwege“.

Ein eigens dafür entwickeltes physikalisches Modell kommt der Realität recht nahe: Punkte auf einer Fläche werden durch Fäden, die etwas Spiel haben, miteinander verbunden. Durch kurzes Eintauchen in Wasser bündeln sich die Fäden ein wenig aufgrund der Oberflächenspannung. Das Experiment realisiert einen Kompromiß zwischen zwei widerstreitenden ökonomischen Prinzipien: Direkte, geradlinige Wege minimieren den Aufwand bei der Benutzung, die Bündelung hingegen die Energie zum Aufbau des Wegenetzes.

Allerdings sollte man sich nicht zu sicher sein, daß die Häufung eine wesentliche Aussage über den Entstehungsprozeß der Siedlungen beziehungsweise der Vergleichsstrukturen macht. Ein Teil der Regelmäßigkeit wird nämlich bereits durch eine mathematische Beziehung, den – im Buch nicht erwähnten – Eulerschen Polyedersatz, erzwungen: Für jede zusammenhängende ebene Struktur aus K Knoten, V Verbindungslinien und F Flächenstücken gilt K+F=V+2 und damit K/(2V)+F/(2V)=1/2+1/V. Für große Anzahlen von Verbindungslinien ergibt die links vom Gleichheitszeichen stehende Summe der Kehrwerte von mittlerer Knotenzahl und mittlerer Nachbarschaftszahl also recht genau 1/2. Tatsächlich liegt dieser Wert bei allen untersuchten Siedlungen zwischen 0,4770 und 0,5168. Abweichungen vom Wert 1/2 erklären sich aus der besonderen Behandlung des Umlands und von Plätzen.

Mein Eindruck ist, daß hier ein interessantes Forschungsgebiet erschlossen wurde. Vielleicht werden eines Tages auch andere Disziplinen die erarbeiteten Methoden aufgreifen und die formgebenden Einflüsse klären helfen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1993, Seite 122
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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