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Interview: 'Unsere gemeinsame Zukunft formen - Gefahren und Möglichkeiten'

Mit dem Physiker und Pugwash-Beauftragten Hans-Peter Dürr sprach anläßlich der 42. Pugwash-Konferenz im Herbst 1992 in Berlin Gert Lange.

Die erste der „Konferenzen über Wissenschaft und Weltangelegenheiten“ wurde im Juli 1957 auf Initiative von Forscherpersönlichkeiten wie Albert Einstein und Bertrand Russell in dem Dorf Pugwash in der kanadischen Provinz Neuschottland abgehalten – daher der inoffizielle, aber bekannte Name. Themenschwerpunkt war stets die globale Sicherheit, wenn auch wesentliche Beiträge zu Problemen der Entwicklung, des Bevölkerungswachstums und der Naturzerstörung erarbeitet wurden. Die 42. Pugwash-Konferenz befaßte sich jedoch mehr als die bisherigen mit ökologischen und ökonomischen Aspekten unserer Zukunft. Eine Abkehr von den Abrüstungsbemühungen, weil die Ost-West-Konfrontation fortgefallen ist?



Nein. Das Motto der jetzigen Konferenz – „Shaping our common future: dangers and opportunities“, das ja auch Leitthema dieses Gesprächs sein soll – lenkt nicht ab von den eigentlichen Zielen der Pugwash-Bewegung, nämlich der Friedenssicherung durch Abrüstung. Solange es nukleare, chemische und biologische Waffen gibt, solange die Rüstungsetats noch so hoch sind, wird diese internationale Gemeinschaft engagierter Wissenschaftler weiter auf Reduzierung drängen.

Aber es macht wenig Sinn, sich allein auf vertragliche Friedensinitiativen zu konzentrieren. Wir müssen die Wurzeln der Spannungen in der Welt selbst angehen. Ich bin davon überzeugt, daß wir Friedenssicherung, die ökologischen oder die Nord-Süd-Probleme nicht in den Griff bekommen, wenn wir nicht die Rahmenbedingungen der Wirtschaft ändern. Deshalb haben wir die nachhaltige, gerechte, lebenswerte Welt zum Thema gemacht.



Das Ziel nachhaltige Entwicklung – ein zentraler Begriff des sogenannten Erdgipfels Anfang Juni 1992 in Rio de Janeiro – legt den Industrieländern nahe, auf unbedachten Verbrauch und luxuriöse Gewohnheiten zu verzichten. Bedeutet das nicht auch Verzicht auf bestimmte Wissenschaftsaktivitäten?



Ich versuche nach Möglichkeit, das Wort Verzicht zu vermeiden. Man kann es so nennen; es gibt Wissenschaftler, die dieser asketischen Naturbetrachtung anhängen. Ich finde aber, daß sie nicht das Wesentliche erfaßt. Wir streben nicht Verzicht an, sondern eine andere Wertung dessen, was Qualität ist.

Unser derzeit übliches Leben ist voller Verzicht auf Lebensqualität. Wer einigermaßen bei Sinnen ist, leidet darunter; wir leiden auch unter den Folgen der Üppigkeit. Es sind jedoch Lebensziele denkbar, die das vermeiden und die ökologisch nachhaltig sind. Deshalb möchte sich die Pugwash-Bewegung nicht darauf beschränken, düstere Szenarien zu malen, die wir bekommen, wenn wir die Entwicklung – wie man sagt – „realistisch“ einschätzen. „Realistisch“ hat für mich nicht die Bedeutung von etwas, was real sein wird. Der realistische Standpunkt bewertet die Zukunft durch den Rückspiegel; das ist keine brauchbare Perspektive. Wir alle wissen, daß die Zukunft nicht die lineare Fortsetzung des Vergangenen ist. Die Geschehnisse in und mit der Sowjetunion beispielsweise sind, so betrachtet, gänzlich irreal gewesen. So etwas hatte sich im Rückspiegel nicht ereignet, und deshalb konnte sich das auch niemand vorstellen.

Das heißt, wir müssen uns innerlich darauf vorbereiten, daß die Zukunft anders sein könnte als der „realistische“ Abklatsch der Vergangenheit, nur in größerer Dimension. Ich sehe darin überhaupt die einzige Überlebenschance. Und wenn man das Neue denkt, erhöht man die Wahrscheinlichkeit seiner Realisierung. Die Menschheit wird immer auch durch Visionen plötzlich stark verändert. Deshalb halte ich es für wichtig, Visionen zu entwerfen. Manche Leute nennen mich deshalb einen Idealisten. Das ist für mich nicht der Punkt, selbst wenn es ein Kompliment wäre. Wir müssen vielmehr das Unwahrscheinliche denken, eben weil wir wissen, daß der Schöpfungsprozeß nicht einfach das Normale fortschreibt, sondern – wie wir das auch von physikalischen Systemen kennen – weil es immer wieder Brüche und Sprünge gibt.



Es bleibt dennoch die Frage, ob wir nicht der Umwelt zuliebe auf bestimmte wissenschaftliche und technische Entwicklungen verzichten sollten, weil wir oft die negativen Folgen nicht abschätzen können. In der Diskussion auf der Berliner Konferenz wurde das Argument vorgebracht, der Natur ginge es immer dann gut, wenn nichts entwickelt würde.



Das Problem stellt sich meiner Meinung nach anders. Wenn wir die Entwicklung, die wir Menschen betreiben, vergleichen mit der Entwicklung, die sich in der Natur als erfolgreich herausstellt, dann sehen wir einen gravierenden Unterschied: Aufgrund der kurzfristigen Perspektive einer Generation sind wir immer geneigt, in gegebenen Situationen das Maximum zu verwirklichen. Wir maximieren einzelne Optionen, und dann sprechen wir von Nebenfolgen. Doch das sind im eigentlichen Sinne keine Nebenfolgen – wir lassen alternative Optionen außer Betracht und ziehen sie erst nach einem Defekt ins Kalkül.

Die Natur versucht nicht, gewisse Optionen zu maximieren, sondern die Zahl der Optionen; das befähigt sie auszuweichen, wenn sich äußere Umstände ändern. Die langfristig überlebende Natur ist auf Flexibilität eingerichtet – gegenüber der wir extrem ignorant sind. Genauer gesagt: Die Natur strebt diese Flexibilität nicht „absichtlich“ an, sondern was langfristig überlebt hat, mußte flexibel sein. Wir beziehen in unsere wissenschaftliche und technische Planung diese Ignoranz gegenüber dem Gesamtsystem nicht ein. Hinzu kommt, daß wir das System überhaupt nicht gut genug kennen. Das müßte bei technischen Innovationen stärker bedacht werden – Wissen um unser Unwissen!



Das ist fast wörtlich ein Satz des Sokrates und erinnert sehr an die Philosophie Karl Poppes.



Ja, aber vielleicht gehe ich noch einen Schritt weiter. Wenn wir sagen: Wissen über das Unwissen, so unterstellen wir, daß ein Wissen möglich wäre. In bezug auf die Zukunft aber ist das absolut offen. Niemand weiß, was künftig passiert. Demzufolge muß unsere ganze Lebensweise so sein, daß sie auf eine offene Zukunft anwendbar ist.



Wissenschaftler und Techniker erweisen sich oft – nicht im detaillierten Bemühen, aber in ihren Grundhaltungen – als konservativ. Was müßte in diesen Kreisen bewegt werden, damit sie den so skizzierten Anforderungen gewachsen sind, das heißt neue Werte finden, weitergeben, in nachhaltige Technologien umsetzen?



Was wir künftig entwickeln müssen ist, bildlich gesprochen, eine T-Intelligenz: Daß wir nicht nur auf einem ganz kleinen Gebiet vertikal in die Tiefe gehen, sondern auch einen Horizontalbalken haben. Verantwortung kann ich nur übernehmen, wenn ich meine Position in der allgemeinen Landschaft ansiedeln kann. Sage ich einem Wissenschaftler oder Techniker, er müsse Verantwortung übernehmen, antwortet er mir oft: Das kann ich gar nicht, ich forsche ja auf einem Gebiet, das ich noch längst nicht überblicke. Selbstverständlich kann er es in vielen Fällen nicht; aber ich muß von ihm verlangen, daß er die Situation als Ganzes wahrnimmt, damit er abschätzt: Begebe ich mich in ein Lawinenfeld? Gehe ich einen gefährlichen Grat oder eine breite Landstraße, oder schlendere ich nur einen Wiesenpfad entlang? Das kann der Wissenschaftler oder Techniker aber nur, wenn er sein eigenes Wissen einbettet in größere Zusammenhänge.

Konservativ sind die Leute deshalb, weil sie sich nur nach dem einen Vertikalbalken ausrichten und in bezug auf Entwicklung überhaupt nichts Neues einbringen – oder wenn, dann nur etwas aus ihrem eigenen Fachgebiet, was sich häufig als nicht paßfähig erweist. Wir müssen also unsere Ausbildung an den Schulen und Universitäten wesentlich ändern, damit die individuelle Selbstverantwortlichkeit gestärkt wird, Selbstverantwortung auch in dem Sinne, daß jeder fähig ist, sich in der Gesellschaft zu orientieren. Und Orientierung ist, wenn Sie so wollen, orthogonal – quer – zur Präzision. Wenn beispielsweise ein Maler ein Gemälde fertigt, muß er mit dem Pinsel oder Spachtel umgehen können; will er aber wissen, ob er das Beabsichtigte auch tut, muß er zurücktreten. Das ist eine orthogonale Betrachtungsweise. Die muß in der modernen Wissenschaft wieder geübt werden: Etwas öfter weg von dem fokussierenden, analytischen, begrenzten, auf Handeln orientierten wissenschaftlichen und hin zu einem mehr betrachtenden, sensiblen, Gestalt wahrnehmenden Denken!



Wie könnten Ansätze eines nachhaltigen, das heißt auf kommende Generationen bedachten Weltmodells heutzutage verwirklicht werden?



Die Schwierigkeit besteht derzeit weniger darin, neue Weltmodelle zu entwickeln, als vielmehr die primitivsten Verbesserungen, die eine Zerstörung der Welt aufhalten und schließlich verhindern, in die Gesellschaft einzubinden. Man müßte, man sollte – das führt zu nichts. Und oft fehlt auch den Wissenschaftlern, die ein horizontales Verantwortungsgefühl ausgeprägt haben, die Erfahrung der Praktikabilität.

Nehmen wir als Beispiel das Kohlendioxid-Problem, die Verstärkung des atmosphärischen Treibhauseffekts. Da kann man die Pro-Kopf-Immission der einzelnen Länder in eine Tabelle eintragen, den Durchschnitt ermitteln und danach die Welt in Schuldner und Gläubiger einteilen. Und nun sagt man: Es müßte ein Ausgleich geschaffen werden. Die Schuldner zahlen etwas an die Gläubiger; das wäre zugleich eine gute Entwicklungshilfe.

Wie will ich das in diese Welt einführen? Wer ist die Instanz, die ein gerechtes Schuldenabkommen zustande bringt und kontrolliert? Die einer Nation sagt: Ihr fühlt euch zwar nicht als Schuldner, doch ihr seid es und habt deswegen zu zahlen. Ich müßte eine Macht etablieren. Aber weil Macht nur von denjenigen eingebracht wird, die schuldig sind, nämlich von den Industrieländern, die durch ihren immensen Verbrauch von fossilen Brenn- und Kraftstoffen, Tropenholz und Rindfleisch und manches mehr über die Kohlendioxid-Bilanz und zudem über die Entwicklungsrichtung in der Dritten Welt entscheiden, fehlt dieser Idee die Praktikabilität.

Meine Erfahrung sagt, daß Vorschläge, die sofort auf Weltabkommen zielen, zum Scheitern verurteilt sind. Sie binden nur Kräfte, indem Diplomaten und Experten in aufreibenden Wortgefechten darüber verhandeln; aber man kommt der globalen Lösung nicht näher. Eher machbar erscheinen mir Lösungen, die sozusagen lokal eingepflanzt werden können, die aber die Eigenschaft haben, daß sie, wenn sie ein kritisches Maß überschreiten, evolutionär in das Gesamtsystem hineinwachsen.

Genau so verfährt ja die Natur mit ihrer Artenvielfalt. Da sagt kein Gott: Im Januar 1995 wird eine neue Art eingeführt, bitte seid ein bißchen vorsichtig, die ist noch schwach auf den Beinen. Sondern: Die Natur bildet zum Beispiel gewisse Nischen aus, die etwas geschützter sind, so daß sich eine neue Art entwickeln kann. Auch die Systemtheorie hat den Einfluß der Randzonen auf Änderungen im Zentrum beschrieben.



Könnte auf den Grundlagen der Konferenz für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen nicht ein System geschaffen werden, das doch auf gewissen Feldern globale Lösungen erlaubt? Die Veranstaltung in Rio de Janeiro sollte ja einen Prozeß einleiten.



Ich hoffe, daß ich mit meiner Skepsis unrecht habe, aber ich mußte erfahren, wie wir jahrelang in Abrüstungskommissionen saßen, die eigentlich nichts gebracht haben – außer daß der einen Seite, wenn die andere ein gewisses Waffenniveau hatte, auf dasselbe Niveau zu kommen erlaubt wurde. Eine echte Abrüstungsinitiative ist bisher nicht verwirklicht worden. Daß man jetzt einiges aus den nuklearen und konventionellen Arsenalen vernichtet, weil die politische Situation es nicht mehr erfordert, ist eine andere Sache. Deshalb befürchte ich, daß auch Umweltgespräche nach der Konferenz von Rio de Janeiro nur zur Folge haben, daß alle sozusagen die Umwelt gleichmäßig kaputt machen dürfen und daß die Naturzerstörung unter Umständen noch beschleunigt wird.

Viele sind mit den Ergebnissen von Rio de Janeiro unzufrieden. Aber es sind doch die für das Desaster verantwortlichen Mächte wie die USA, die einfach blockieren, wenn ihnen etwas nicht gefällt – stets mit dem Argument, daß sonst das Wirtschaftswachstum nicht in genügend hohem Maße gewährleistet sei. Deshalb sage ich: Solange wir ein Wirtschaftssystem haben, das nur überlebensfähig ist, wenn es unaufhörlich wächst, hat es wenig Sinn, Nachhaltigkeit zu erwarten. Wir müssen erst die Mechanismen dieser Wirtschaft ändern, so daß sie selber nachhaltig wird. Das ist der Hauptpunkt. Zur Zeit hängt Profit von Nicht-Nachhaltigkeit ab.

Sehen Sie: Wir haben doch eine Bankraub-Mentalität. Unsere Investitionen stecken wir gewissermaßen in Schweißgeräte, damit wir den Naturtresor besser aufschweißen können. Und die Mächte, die Profiteure, sind selbstverständlich nicht interessiert, wenn man ihnen sagt: Naturtresore dürfen nicht mehr ausgeräubert werden. Von einer Bankraubgesellschaft zu erwarten, daß sie Bankraub verbietet – ich habe den Eindruck, da sind die Chancen gering. Statt dessen sollten wir Prozesse in Gang bringen, die sich von diesem eingeschliffenen Verhalten abkoppeln. Diejenigen, die nicht Bankraub betreiben oder unter Umständen nicht betreiben wollen, müssen eine bessere Lebensweise aufbauen.



Neubewertung der Werte, damit nicht mehr Kapital und Expansion an oberster Stelle stehen, sondern Lebenserhaltung, wurde in diesem Zusammenhang auf der Pugwash-Konferenz in Berlin gefordert. Ist das im gegenwärtig dominierenden Wirtschaftssystem überhaupt möglich? Die Maschine ist konstruiert. Es fällt mir schwer, an ein nachhaltiges Umstrukturieren zu glauben.

Darauf antworte ich gern mit einem Gleichnis: In alten Zeiten konnte ein Schiffer nur vor dem Wind segeln. Wenn er in eine andere Richtung wollte, mußte er warten und konnte erst weiter, wenn sich der Wind gedreht hatte. Schließlich kam jemand auf die Idee, dem Boot einen Kiel zu geben. Damit konnte er gegen den Wind kreuzen.

Unsere Gesellschaft unterliegt einer Eigendynamik, das können wir gar nicht ändern. Die Frage ist: Gibt es eine Kiellösung? Das ist die einzige Hoffnung: die dynamischen Kräfte nutzen und trotzdem auf Gegenkurs gehen. Und das kann ich auch lokal machen. Der Bootsbauer, der den Kiel – vielleicht nach längerem Probieren – erfunden hat, wird auch nicht bestimmt haben: Jetzt bauen wir alle Kiele. Er hat es allein gemacht. Doch jene, die ihn beobachteten, erkannten: Er ist zwar vor dem Wind etwas langsamer, aber er hat an Flexibilität gewonnen. Sie begannen, ihn nachzuahmen. Der Wind hat sich deshalb nicht geändert, er ist nur nützlicher geworden.

Nun muß ich allerdings mein Bild nicht überinterpretieren. Ein wissenschaftliches, technisches, ökonomisches System reagiert anders. Da könnte es geschehen, daß zwar immer mehr auf Gegenkurs gehen, aber sich auch der Wind dreht. Dann wird sich die Gesellschaft darauf einstellen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1993, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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