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Die neuen Kriege (Teil II): Unsichtbare Wunden

Erst in den letzten Jahren haben Wissenschaftler damit begonnen, die psychischen Kriegsfolgen unter Zivilisten zu erforschen.


Die Roten Khmer hatten ihre ganze Familie ermordet, sie selbst bewusstlos geschlagen und inmitten der Leichname ihrer Liebsten zurückgelassen. Als meine erste kambodschanische Patientin mir ihre Leidensgeschichte erzählte, war meine erste Reaktion, dass das einfach nicht wahr sein könne. Alles erschien so irreal – wie Szenen aus einem Horrorfilm. Mein Instinkt sagte mir: Das darfst du nicht glauben!

Solche Reaktionen wie meine damalige spontane Abwehrhaltung sind durchaus typisch, wenn man mit menschlicher Grausamkeit und seelischem Leid konfrontiert wird. Zudem stellen sie einen Grund dafür dar, warum Politiker, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und sogar Psychiater immer wieder daran scheitern, die Tiefen von kriegsbedingten Traumata richtig einzuschätzen. Die gängige Einstellung ist: Krieg ist zwar die Hölle, aber die Betroffenen werden schon wieder in den Alltag zurückfinden, wenn der Konflikt erst einmal beigelegt ist. Körperliche Verletzungen bestehen zwar fort, aber Beklemmung und Angst, Begleiter aller lebensbedrohlichen Ereignisse, werden verschwinden, sobald die unmittelbare Gefahr vorüber ist. Die Einstellung der breiten Öffentlichkeit ist hier im Großen und Ganzen einheitlich. Unterm Strich lautet die Parole an die Kriegsopfer: Seid hart! Das steht ihr schon durch!

Dies war in der Tat die typische Auffassung in Bezug auf die meisten traumatischen Ereignisse, angefangen von Kindesmisshandlung bis hin zu Vergewaltigung. Heute weiß man es jedoch besser. Furchtbare Erlebnisse können Schäden hinterlassen, die keineswegs immer von selbst abklingen. Häufig brauchen die Opfer Beratung, medizinische Hilfe und finanzielle Unterstützung. Posttraumatische Belastungsstörungen (Post-Traumatic Stress Disorder, PTSD) wurden 1980 in den USA offiziell als Erkrankung anerkannt, nicht zuletzt auf Grund von Erfahrungen mit US-Veteranen aus dem Korea- und dem Vietnamkrieg. Aber erst in den letzten zwanzig Jahren haben Wissenschaftler damit begonnen, die sozialen und emotionalen Folgen von Krieg für die Zivilbevölkerung in ihrer Gesamtheit zu erforschen.

Mit Unterstützung des Weltbundes für geistige Gesundheit (World Federation for Mental Health) sandte unsere Arbeitsgruppe 1988 ein Team von Psychiatern zu Lager Nummer zwei, dem größten kambodschanischen Flüchtlingscamp an der thailändisch-kambodschanischen Grenze. Dort interviewten wir 993 Flüchtlinge, die insgesamt von 15 000 verschiedenen traumatischen Ereignissen berichteten – Entführungen, Inhaftierungen, Vergewaltigungen, Folter und ähnlichem. Die internationalen Behörden, die für den Schutz und die Versorgung des Lagers zuständig waren, hatten jedoch keine auch noch so einfache Vorkehrung für die psychische Versorgung dieser Menschen getroffen – und solche Versäumnisse kennzeichnen auch andere Flüchtlingshilfe-Projekte weltweit. Nach und nach wurde mir der Grund dafür bewusst: Die seelischen Verletzungen ganzer Gesellschaftsteile sind unsichtbar.

Einfach ausgedrückt: Es ist leichter, Leichen und verlorene Extremitäten zu zählen als verwundete Seelen. Physisch Verwundete suchen aus eigenem Antrieb einen Arzt auf, aber seelische Defekte sind so stark tabuisiert, dass die Betroffenen es meist um jeden Preis verhindern wollen, einen Psychiater aufzusuchen. Ebenfalls beigetragen zu dem genannten Versäumnis haben der Mangel an standardisierten Kriterien für psychische Störungen sowie die kulturellen Unterschiede. Die Diagnosen eines lokalen Volksstammes sind allzu oft inkompatibel mit den Krankheitsklassifizierungen westlicher Medizinforschung. Häufig behalten die Überlebenden kriegerischer Auseinandersetzungen ihre Gefühle für sich; sie fürchten, auf Unverständnis zu stoßen – und leider ist ihre Angst begründet.

Der italienische Schriftsteller Primo Levi beschrieb die Phantasien, die er in Auschwitz hatte. Er träumte davon, seine Familie wiederzusehen, fürchtete sich aber gleichzeitig davor: "Es ist eine enorme Freude, geradezu physisch spürbar und unaussprechlich – zu Hause zu sein unter lieben Menschen und so viele Dinge zu berichten; aber ich muss auch registrieren, dass meine Zuhörer mir nicht folgen. Tatsächlich – sie sind völlig teilnahmslos und sprechen unbeirrt von anderen Dingen, ganz so, als wäre ich gar nicht da. Meine Schwester schaut mich an, steht auf und verschwindet wortlos – die Vorstellung ist unerträglich."

Ungläubigkeit und Desinteresse sind leider bei den meisten Menschen sehr reale Reaktionen. Sie spiegeln das Problem wider, das wir alle haben, wenn wir versuchen, das Böse zu verstehen: Wie können Menschen so grausam gegen Menschen sein? Hierzu gibt es keine einfache Antwort, und im Versuch, eigene Schuldgefühle zu unterdrücken, wechseln wir schnell das Thema.

Als internationale Organisationen endlich begannen, sich mit der psychischen Gesundheitslage von Kriegsopfern auseinander zu setzen, suchten sie zunächst nach einfachen Maßnahmen. Aber die seelische Gesundheit zu versorgen ist weitaus schwerer als Straßen wieder aufzubauen oder Malaria zu behandeln.

Sechs grundsätzliche Erfahrungen weisen den Weg

Als erstes ist da die Häufigkeit schwerer psychischer Störungen unter überlebenden Zivilisten. Fortschritte in psychiatrischer Epidemiologie – Zufallsproben aus repräsentativen Gruppen, Einsatz von Laienbefragern und Entwicklung standardisierter Diagnosekriterien, auch kulturenübergreifend – lieferten hier unlängst zuverlässige Zahlen. Unsere Studie mit kambodschanischen Flüchtlingen offenbarte akute klinische Depression in verschiedenen Graden bei 68 Prozent und PTSD bei 37 Prozent aller Untersuchten. Vergleichbare Zahlen wurden bei bhutanischen Flüchtlingen in Nepal und bosnischen Flüchtlingen in Kroatien gefunden. Zum Vergleich: In nichttraumatisierten Gruppen würde eine Rate von zehn Prozent bei Depressionen und acht Prozent bei PTSD (jeweils über die gesamte Lebenszeit bemessen) bereits als sehr hoch eingestuft.

Zweitens haben Forscher festgestellt, dass die Art der Traumata durchaus streng zu erfassen ist. Immer schon waren Psychiater besorgt, dass das Angehen der traumatischen Erfahrungen ihrer Patienten eine zu große seelische Belastung darstellen könnte. Daneben befürchteten sie, die Patienten könnten unrichtige Informationen liefern – bestenfalls Übertreibungen, schlimmstenfalls krasse Unwahrheiten. Anfang der 80er Jahre sorgten dann Aktivitäten von Gruppen wie Amnesty International innerhalb der Medizin für neue Bewegung. Experten für Menschenrechte entwickelten ein systematisches Verfahren, die Richtigkeit der Angaben zu überprüfen – eine Methode, die verschiedene Arten klinischer Untersuchungen mit einschließt.

Beispielsweise fand unser klinischer Dienst heraus, dass Psychiatriepatienten aus Indochina, die eine entsetzliche Brutalität erfahren hatten, unfähig waren, diese in einem standardisierten psychiatrischen Interview mit offenen Fragen zu artikulieren. Daher versuchten wir es mit einem einfachen Raster, das in Fachkreisen unter der Bezeichnung Hopkins Symptom Checklist hinlänglich bekannt ist und seit den 50er Jahren allgemein eingesetzt wird. Man benötigt ungefähr 15 Minuten, um die Liste auszufüllen; gefragt wird beispielsweise, ob man sich kraftlos fühlt, Einschlafprobleme hat oder Selbstmordgedanken hegt. Als wir den Patienten eine Version dieser Liste in ihrer Sprache vorlegten, konnten sie ihre Emotionen ohne große Bedrängnis wiedergeben. Eine modifizierte Fassung, der Harvard-Traumata-Fragebogen, zielt speziell auf traumatische Ereignisse und Symptome von PTSD ab. Mittlerweile liegt er in 25 Sprachen vor, jeweils zugeschnitten auf die kulturellen Kontexte und empirisch getestet.

Drittens haben medizinisch ausgebildete Anthropologen nicht-westliche Konzeptionen psychischer Störungen codifiziert. In vielen Gesellschaften sind traditionelle Heiler oder Stammesälteste – keineswegs aber Fachärzte nach westlichem Verständnis – die wichtigsten medizinischen Therapeuten und insbesondere verantwortlich für die seelsorgerische und psychologische Versorgung der Menschen. Nicht wenige Patienten fallen dabei durch die Systemlücken: Traditionelle Heiler können ihnen nicht helfen, und Fachärzte vermögen nicht, ihre vagen somatischen Beschwerden als Symptome einer unterschwelligen psychischen Erkrankung zu erkennen. Mit Hilfe einer extensiven Feldarbeit in Kambodscha, Uganda und Simbabwe gelang es nun, das breite Spektrum von Volkskrankheiten, die mit seelischen Leiden einhergehen, systematisch zu erfassen. Für Kambodscha erstellte unser Team einen Katalog der entsprechenden Diagnosen, mit dessen Hilfe westliche Ärzte psychische Störungen unter Verwendung lokaler Dialekte identifizieren können.

Viertens führen bestimmte traumatische Erlebnisse eher zu Depressionen und zu PTSD als andere. Zu den schlimmsten Erfahrungen der kambodschanischen Flüchtlinge in Lager Nummer zwei zählten Schläge gegen den Kopf, andere Folterungen, Kerkerhaft und das Mit-ansehen-Müssen des Mordes oder des Hungertodes eines Kindes. Fehlendes Obdach und das Beobachten von Gewalt gegen andere Erwachsene hatten dagegen keine derart gravierenden Auswirkungen.

Fünftens verursachen einige extreme Erfahrungen dauerhafte organische Veränderungen im Gehirn. Anfang der 60er Jahre entdeckten der norwegische Forscher Leo Eitinger und seine Kollegen bei Überlebenden von NS-Konzentrationslagern eine Verbindung zwischen Kopfverletzungen und psychiatrischen Symptomen. Jüngeren Studien zufolge führten Schläge, die amerikanische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg sowie im Korea- und Vietnamkrieg erlitten, ebenfalls in einer Vielzahl von Fällen zu bleibenden Gehirnschäden. Ganz ähnlich hatten von 200 zivilen Folterüberlebenden, die der dänische Forscher Ole Rasmussen untersuchte, 64 Prozent neurologische Defekte davongetragen.

Selbst in Abwesenheit einer direkten physischen Ursache können seelische Störungen zu Gehirnveränderungen führen. Die wenigen verfügbaren Untersuchungen von Patienten mit PTSD haben gezeigt, dass bestimmte Strukturen im Gehirn – beispielsweise der Hippocampus – infolge von Traumata geschrumpft sind. Neurowissenschaftler haben nun damit begonnen, diese ersten Ergebnisse mit den bleibenden und entkräftenden Symptomen von PTSD in Verbindung zu bringen.

Die sechste und letzte Entdeckung betrifft die Beziehung zwischen psychischer Störung und sozialer Dysfunktion. Letztes Jahr habe ich mit meinen Kollegen bei bosnischen Flüchtlingen in Kroatien schwere soziale Beeinträchtigungen analysiert, die mit psychiatrischen Störungen einhergehen. Eine von vier Personen war nicht mehr in der Lage, einer geregelten Arbeit nachzugehen, ihre Familie zu versorgen oder andere sozial produktive Tätigkeiten auszuüben.

Die dauerhaften Auswirkungen dieser Erscheinungsformen psychischer Krisen sind noch immer unbekannt; nur wenige Langzeitstudien wurden bislang erstellt. Eine neue Untersuchung mit einer niederländischen Gruppe zeigt, dass Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung eine deutlich erhöhte PTSD-Rate in den nachfolgenden 50 Jahren aufwiesen. Es gibt sogar generationenübergreifende Auswirkungen: Noch bei den Kindern von Holocaust-Überlebenden wurden höhere PTSD-Raten gefunden als in einer jüdischen Vergleichsgruppe. Die Beziehung von Ursache und Wirkung bleibt jedoch unklar. Führte der Nazi-Terror direkt zu PTSD, machte er die Überlebenden anfällig für Folgetraumata, oder ist die Korrelation auf das Zusammenspiel noch weiterer Faktoren zurückzuführen? Um die späten Folgen von Krieg verstehen zu lernen, führen wir derzeit eine Langzeitstudie in Bosnien durch.

Festzuhalten ist: Obwohl nur ein geringer Prozentsatz der Überlebenden von Massengewalt ernste psychische Erkrankungen aufweist, die eine sofortige Behandlung erfordern, erfährt die große Mehrheit weniger intensive, dafür aber lang anhaltende seelische Probleme. Damit eine Gesellschaft nachhaltig gesunden kann, darf diese Mehrheit keinesfalls übersehen werden.

Erst in den letzten fünf Jahren haben internationale Organisationen diese Fakten anerkannt. Speziell die Weltbank sah ein, dass herkömmliche Entwicklungsmodelle bei kriegsgeschüttelten Nationen nicht greifen und dass neue Ansätze vonnöten sind. In Kambodscha und Ost-Timor haben internationale Hilfsorganisationen psychiatrische Kliniken eingerichtet, und in Südafrika und Bosnien machten ortsansässige Ärzte im Fernsehen auf die einschlägigen Probleme und Hilfsmöglichkeiten aufmerksam. Im Rahmen unseres eigenen Programms richten wir jetzt kleine betriebliche Projekte ein, um Menschen mit Depressionen ins Arbeitsleben zurückzuführen. Solche Anstrengungen sind essenziell, um den Teufelskreis von Lethargie und Rachegefühlen bei den Opfern zu durchbrechen, der immer weitere Teile der Erde heimsucht.

Schäden durch Krieg
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Literaturhinweise


Posttraumatische Belastungsstörungen. Von Anke Ehlers. Hogrefe Verlag, 1999.

Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Von Jonathan Shay. Hamburger Edition, 1998.

War and Public Health. Herausgegeben von Barry S. Levy und Victor W. Sidel. Oxford University Press, 1996.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 42
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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