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Unvollkommenheit und Evolution


Reproduktion ist das grundlegende Merkmal alles Lebendigen. Jedes Lebewesen und – im Falle der höheren Pflanzen und Tiere – jede seiner Zellen ähneln in ihren Merkmalen im Prinzip den Zellen beziehungsweise Organismen, aus denen sie hervorgegangen sind, und bringen in der Regel wieder gleichartige Nachkommen hervor. Die identische Reproduktion läßt sich teilweise bis hinunter auf die Ebene einzelner Moleküle verfolgen.

Der französische Biochemiker Jacques Monod (Nobelpreis 1965) hat dieser Tendenz aller Lebewesen zur Reproduktion – die über die Chromosomen und die auf ihnen angeordneten Gene realisiert wird – den Rang eines Plans (projet) zugeschrieben. Demnach besteht die Aufgabe des genetischen Programms darin, von seinem Träger eine in allen Einzelheiten identische Kopie zu erzeugen. Nach Monods Theorie gleicht die lebende Materie einer perfekten, mit einer Zweckgesetzmäßigkeit (téléonomie) ausgestatteten Maschine, programmiert darauf, sich bis in alle Ewigkeit perfekt zu reproduzieren und damit die Erhaltung der Art zu gewährleisten. In diesem System ist jede Unvollkommenheit ausgeschlossen, jeder Verstoß gegen die ein für allemal gültigen Regeln unmöglich.

Solche Perfektion ist in der Natur jedoch nicht zu beobachten. Seit ihrem erstmaligen Auftreten vor mindestens 3,5 Milliarden Jahren haben sich die Lebensformen, im Widerspruch zu der von Monod unterstellten Zweckbestimmung, unentwegt weiterentwickelt und verändert – und zwar gerade wegen der Unvollkommenheiten des Fortpflanzungssystems.

Selbst in der besten Maschine treten gelegentlich Pannen auf. Bei jeder Zellteilung, jeder Bildung von Keimzellen oder ihrer Verschmelzung zur befruchteten Eizelle kann das System einen Defekt einbauen: Ein Gen verändert sich, oder ein Chromosom bricht auf und reorganisiert sich in anderer Anordnung. Alle diese Ereignisse sind Mutationen, aus denen neue Strukturen entstehen.

Veränderungen, die sich als günstig unter den jeweiligen Lebensumständen erweisen und sich darum bei der natürlichen Auslese durchsetzen können, breiten sich in der Population aus und verewigen den ursprünglichen Fehler, der somit zur Norm wird. Unvollkommenheiten bei der Vervielfältigung des Erbmaterials bilden mithin die Grundlage für die Evolution des Lebens. Dessen ganze Vielfalt wäre ohne diese Fehler nicht denkbar.


Hilfreiche Fehler

Eine Mutation jedoch, die ihren Träger lebensunfähig macht oder auch nur gegenüber seinesgleichen benachteiligt, indem sie seine Fortpflanzungsrate mindert, müßte eigentlich auf die Dauer aus der Population verschwinden oder zumindest selten bleiben. Gleichwohl findet man solche Mutationen in allen Lebewesen erheblich häufiger, als für im Aussterben begriffene Gene zu erwarten wäre. Diese sogenannte genetische Last, die wir alle mit uns herumschleppen, ist nicht unbedingt als Altlast zu verstehen; vielmehr kann eine Unvollkommenheit eine andere gegenüber den Selektionskräften sozusagen maskieren.

Ein Beispiel dafür ist die Sichelzellanämie, eine schwere Erbkrankheit. Ursache ist eine Mutation, durch die an einer bestimmten Stelle in der Aminosäurekette des Hämoglobinmoleküls Glutaminsäure durch Valin ersetzt wird. Die Folgen dieser scheinbar geringfügigen Veränderung sind verheerend. Die roten Blutkörperchen sind sichelförmig verformt und gehen bald zugrunde. Dem Organismus mangelt es an Sauerstoff; vielfach verstopfen die feinsten Blutgefäße. Die Folge ist eine krisenhafte Anämie mit häufig tödlichem Ausgang.

Die Krankheit tritt jedoch nur bei Menschen auf, die in dem mutierten Gen reinerbig (homozygot) sind, also die Mutation auf beiden homologen Genen eines Chromosomenpaares tragen. Dagegen sind Mischerbige (Heterozygote), bei denen außer dem veränderten Allel (der Zustandsform des Gens) ein normales vorhanden ist, nur wenig beeinträchtigt. Da nun die meisten homozygoten Erbträger früh versterben und sich somit nicht fortpflanzen können, müßte das für die Krankheit verantwortliche Gen im Laufe einiger Generationen fast vollständig verschwinden.

Dennoch werden beachtlich viele Fälle von Sichelzellanämie in Gebieten beobachtet, wo die Malaria grassiert. Das liegt daran, daß Mischerbige gegenüber Malaria erheblich widerstandsfähiger sind als Menschen mit zwei normalen Allelen und dadurch einen Selektionsvorteil haben (Bild 1; vergleiche auch "Malariaresistenz: tödliche Gene als Lebensretter" von Milton J. Friedman und William Trager, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981, Seite 86). Auf diese Weise vermehrt sich auch das für die Sichelzellanämie verantwortliche Gen, obgleich beim Zusammentreffen zweier derartiger Allele der baldige Tod des Trägers vorprogrammiert ist. Selbst ein lebensgefährlich unvollkommenes Gen kann sich also unter besonderen Umständen als nützlich erweisen (Bild 1).


Die Zukunft gehört den Randgruppen

Eine Art – genauer: eine Population sich untereinander fortpflanzender Lebewesen – hat einen gemeinsamen Genpool, in dem die unterschiedlichen Allele (Ausprägungsformen) eines Gens mehr oder weniger regelhaft über die Individuen verteilt sind. Dementsprechend folgen die (morphologischen und sonstigen) Merkmale der Individuen einer statistischen Verteilung. Bei zahlenmäßig beschreibbaren Merkmalen handelt es sich im allgemeinen um eine (im Diagramm glockenförmige) Gaußsche Verteilung: Der größte Teil der Individuen ist unter dem mittleren Bereich der Kurve anzusiedeln; nur die wenigen, deren Merkmale weit vom Durchschnitt abweichen, finden sich in den Randbereichen.

Die statistische Verteilung der Ausprägungsformen eines Merkmals spiegelt den Grad der Anpassung an eine gegebene Umgebung wider. Bei stabiler Umwelt sind die durchschnittlichen Individuen diejenigen, die am besten angepaßt sind. Je stärker der Selektionsdruck ist, um so mehr drängt sich die Kurve um diesen Mittelwert zusammen.

Gleichwohl gibt es stets eine Minderheit von Außenseitern. Manche unter ihnen sind möglicherweise besser angepaßt als die durchschnittlichen Individuen, wenn die Umwelt sich in einer ihnen entgegenkommenden Richtung verändert, haben dadurch bei einem entsprechenden Wandel der Verhältnisse einen Fortpflanzungsvorteil und dominieren dann binnen einiger Generationen so sehr, daß der Mittelwert der Kurve sich verschiebt (Bild 2).

Aber auch dann, wenn sie Außenseiter bleiben, können gerade sie es sein, die das Fortbestehen der Art im Falle veränderter Umweltbedingungen erleichtern oder überhaupt ermöglichen. Solche und ähnliche Beobachtungen regten den englischen Naturforscher Charles Darwin (1809 bis 1882) an, seine Evolutionstheorie zu entwerfen – ironischerweise erst, als er die Galápagosinseln längst wieder verlassen hatte.

Eine gewisse Zahl von Außenseitern, die sich nicht an die strengen Normen einer Art halten, ist also gleichsam eine Vorsorge für eine ungewisse Zukunft. So unvollkommen ihre Anpassung an die gegenwärtigen Bedingungen auch sein mag – sie werden später vielleicht einmal den Fortbestand ihrer Stammeslinie sichern.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 100
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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