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Ursprung der Landwirbeltiere - molekulargenetische Verwandtschaft von Quastenflosser und Lungenfisch

Sind Quastenflosser oder die auf der Südhalbkugel verbreiteten Lungenfische die nächsten lebenden Verwandten aller Landwirbeltiere einschließlich des Menschen? Von der Antwort hängt nicht zuletzt ab, wie sich der entscheidende Schritt der ersten vierfüßigen Wirbeltiere aus dem Wasser ans Land vollzog.

Lange nahm man an, daß Quastenflosser aus der Gruppe der Coelacanthier in der oberen Kreide – vor rund 80 Millionen Jahren – ausgestorben seien. Als 1938 vor der Küste Südafrikas zufällig ein lebendes Exemplar der Art Latimeria chalumnae gefangen wurde, avancierte der urtümliche Fisch vom ausrangierten Opfer der Evolution zum vielbeachteten lebenden Fossil.

Im Jahre 1987 gelangen dem Verhaltensforscher Hans Fricke vom Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen von einem Tauchboot aus an den unterseeischen Vulkanhängen vor den Komoren dann erstmals spektakuläre Filmaufnahmen lebender Latimeria in ihrem natürlichen Habitat. Mit langsamen Bewegungen der quastigen Flossen paddeln sie durch die Meerestiefen des Indischen Ozeans und benutzen dazu ei-ne Art Kreuzgang: Die linke Brust- und die rechte Bauchflosse werden gemeinsam im Gegentakt zur rechten Brust- und linken Bauchflosse bewegt.

Was Quastenflosser für die Wissenschaft so interessant macht, ist der Umstand, daß ein urtümlicher Vertreter dieser Knochenfische lange als jener Pionier galt, der vor rund 360 Millionen Jahren (im Oberdevon) vom Wasser aufs Festland überwechselte. Zwar wurden auch Verwandte der tropischen Lungenfische (Dipnoi), die fossil bereits aus dem Unterdevon bekannt sind und heute noch auf den Kontinenten der Südhalbkugel leben, als mögliche Vorläufer der Landwirbeltiere diskutiert. Teils können diese Tiere nämlich eingegraben im Schlamm periodisch schrumpfender Gewässer auch längere Trockenheit überstehen. Dennoch war die bisherige Lehrbuchmeinung, daß die Quastenflosser – unter anderem wegen ihrer gestielten paarigen Flossen – die engsten evolutiven Beziehungen zu den vierfüßigen Landwirbeltieren (Tetrapoden) zeigen; demnach stünden sie in der Ahnenreihe von Amphibien, Reptilien, Vögeln, Säugern und letztlich uns Menschen.

Neuerdings lassen sich stammesgeschichtliche Verwandtschaftsverhältnisse auch mit molekulargenetischen Methoden untersuchen. Dabei vergleicht man analoge Bereiche des Erbmoleküls DNA (Desoxyribonucleinsäure) in den betreffenden Lebewesen; je geringer die Unterschiede in der Abfolge der Nucleotid-Bausteine, desto näher sollten sich zwei Organismen evolutionsbiologisch stehen. So wurde in mehreren molekularbiologischen Studien unlängst auch versucht, die systematischen Beziehungen von Tetrapoden, Lungenfischen und Latimeria zu klären.

Schon 1990 hat einer von uns (Meyer) an Erbsubstanz aus Mitochondrien (mt-DNA) – energieliefernden Miniorganen innerhalb der Zelle, die als vereinnahmte Relikte ehemals selbständiger Mikroorganismen über Reste eigener Erbinformation verfügen – solche vergleichenden Untersuchungen durchgeführt. Er befand sich damals im Labor des inzwischen verstorbenen amerikanischen Biochemikers Allan C. Wilson an der Universität von Kalifornien in Berkeley, der anhand ähnlicher Untersuchungen seine berühmt gewordene Hypothese aufstellte, daß die gemeinsame Urmutter aller Menschen vor 100000 bis 200000 Jahren in Afrika lebte (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1992, Seite 72).

Meyers molekulargenetische Untersuchungen an mtDNA ergaben, daß Lungenfische offenbar stammesgeschichtlich näher mit den Landwirbeltieren verwandt sind als Latimeria – ein Ergebnis, das weitere Analysen größerer mtDNA-Stücke in den folgenden Jahren erhärteten. Inzwischen haben andere Wissenschaftler ähnliche Studien durchgeführt. Die bisher umfangreichste war die Sequenzanalyse von 1550 Nucleotiden des Cytochrom-Oxidase-I-Gens aus den Mitochondrien von Lungenfisch und Latimeria. Der Vergleich mit den entsprechenden Sequenzen beim Frosch und einem Strahlenflosser unter den Knochenfischen ergab auch hier keine engere Verwandtschaft der Tetrapoden zum Quastenflosser als zum Lungenfisch ("Journal of Molecular Evolution", Band 38, Seiten 602 bis 609, 1994).

Den gleichen Schluß erlauben Analysen von DNA aus dem Zellkern, die inzwischen ebenfalls vorgenommen wurden. Überraschenderweise ist das Ergebnis hier allerdings nicht so eindeutig. Bei Kern-DNA ist – unter anderem wegen genetischer Reparaturmechanismen – die Mutationsrate geringer, und es treten deshalb weniger Sequenzunterschiede auf als bei der DNA von Mitochondrien. An ihr glaubte man deshalb solche stammesgeschichtlichen Verzweigungen besonders gut aufklären zu können, die sehr weit zurückliegen (in diesem Falle mehr als 300 Millionen Jahre). Bei den vergleichsweise schnell mutierenden Mitochondrien sollten über derart lange Zeiträume hinweg Rückmutationen die Verwandtschaftsverhältnisse wieder verwischt haben. Diese Erwartung hat sich bei den geschilderten Untersuchungen freilich nicht bestätigt.

Insgesamt scheint jedenfalls die Hypothese widerlegt, daß es die nächsten Verwandten der Quastenflosser waren, die den Sprung aufs Land schafften und sich zu Vierfüßern entwickelten ("Trends in Ecology and Evolution", Band 10, Seiten 111 bis 116, 1995). Allerneueste Befunde sprechen aber auch gegen die alternative Vermutung, wonach das Verdienst des Landgangs den nächsten Verwandten der Lungenfische zukommt.

Diese Befunde stammen aus Untersuchungen an ribosomaler RNA (Ribonucleinsäure); sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Ribosomen, an denen nach der genetischen Bauanleitung die Proteine gefertigt werden. Meyer hat jüngst eine Untereinheit dieser rRNA sequenziert, die nach ihrer Sedimentationsgeschwindigkeit in der Ultrazentrifuge 28S-Einheit genannt wird und ein beliebtes Objekt für molekulargenetische Studien von weit zurückliegenden Verwandtschaftsverhältnissen ist. Danach scheint sich frühzeitig eine aus Lungenfischen und Quastenflossern gemeinsam gebildete Evolutionslinie vom Stammbaum der Vierfüßer abgespalten zu haben. Weitere Aufschlüsse sollten Untersuchungen von Rafael Zardoya geben, der als Postdoktorand im Labor von Meyer an der Staatsuniversität von New York in Stony Brook derzeit die komplette Sequenz des mitochondrialen Genoms von Latimeria bestimmt, nachdem er bereits die mtDNA von Lungenfischen vollständig sequenziert hat.

Vor dem Hintergrund dieser neuen Erkenntnisse läßt sich nun auch die Frage genauer untersuchen, durch welche Eigenschaften die Ahnen der Tetrapoden auf das Leben an Land vorbereitet – in der Fachsprache: präadaptiert – waren. Auf der Grundlage eines unabhängig ermittelten molekularen Stammbaums kann man zudem Fossilfunde sicherer bestimmten Evolutionslinien zuordnen und Veränderungen im Körperbau besser bewerten. Irgendwann dürfte sich so schließlich ein genaues Bild darüber ergeben, welcher tierische Organismus auf welche Weise das nasse Element verließ und sich auf den Weiten des Festlandes einen neuen Lebensraum erschloß.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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