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Ursprung der Schnelläufer-Sterne aufgeklärt

Die Milchstraße enthält sehr heiße, massereiche Sterne, die mit Geschwindigkeiten von bis zu 100 Kilometern pro Sekunde durch das interstellare Medium rasen. Die Identifizierung eines neuen solchen Schnelläufers mit einem Neutronenstern als Begleiter hat endgültig geklärt, wodurch diese Objekte so stark beschleunigt worden sind.

Unter den Tausenden sehr junger, heißer und massereicher Sterne in unserer Galaxie sind einige, die sich ungewöhnlich schnell bewegen. Teils übersteigt ihre Geschwindigkeit 100 Kilometer pro Sekunde und ist damit mehr als zehnmal so hoch wie bei normalen Sternen. Viele Jahre lang rätselten die Astronomen über den Grund. Welcher Vorgang lieferte die Energie, die nötig war, die kosmischen Raser auf so hohe Geschwindigkeiten zu beschleunigen?

Die Schnelläufer gehören zur Spektralklasse OB – eine historisch bedingte, willkürliche Bezeichnung, die besagt, daß in ihren Spektren hauptsächlich Absorptionslinien von Wasserstoff und Helium vorkommen. Wie die Analyse dieser Linien ergab, haben die Sterne eine Masse vom Zehn- bis mehr als Fünfzigfachen der Sonne und eine Oberflächentemperatur bis zu 50000 Grad. Obwohl sie größtenteils mehrere tausend Lichtjahre entfernt sind, ändert sich wegen ihrer schnellen Eigenbewegung ihre Position auf astronomischen Aufnahmen, die in mehrjährigem Abstand gemacht wurden. Zusammen mit der radialen Bewegungskomponente entlang der Sichtlinie zur Erde, die über die Rotverschiebung der Spektrallinien meßbar ist, läßt sich so Richtung und Geschwindigkeit der OB-Schnelläufer im Raum ermitteln.

Einige dieser Sterne schieben Bugstoßwellen aus komprimierter Materie vor sich her, welche die gleiche Form und einen ähnlichen Ursprung haben wie die Stoßwellen überschallschneller Düsenjets. Wie die Flugzeuge die Luft durchschneiden, pflügen OB-Schnelläufer durch das interstellare Medium – ei-ne sehr dünne Mischung aus Gas und Staubteilchen – und verdichten es an der Stoßfront. Allein diese Welle, die nur überschallschnelle Objekte erzeugen, kennzeichnet einen Stern als Schnelläufer, auch wenn seine Geschwindigkeit nicht direkt gemessen werden konnte.

Bei Kenntnis der Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit eines Himmelskörpers kann man seine Bahn zurückverfolgen und, was noch interessanter ist, herausfinden, wo er herstammt. Bei vielen Schnelläufern hat sich gezeigt, daß sie sich von sogenannten OB-Assoziationen wegbewegen: Gruppen von etwa 10 bis 100 OB-Sternen, die sich in den Spiralarmen der Milchstraße befinden. Fast alle Sterne dieses Spektraltyps gehören einer der rund 50 bekannten OB-Assoziationen an. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß die Bahnen der Schnelläufer auf diesen Ursprungsort hindeuten. Offensichtlich sind sie irgendwann aus einer Assoziation entwichen, weshalb man sie im englischen Sprachraum auch als runaway stars (Ausreißersterne) bezeichnet.

Doch wodurch wurden sie aus dem Verband geworfen, und wie kamen sie auf ihre enorme Geschwindigkeit? Nach dem Ergebnis komplizierter Computersimulationen kann ein OB-Stern bei einem dichten Vorbeiflug an anderen Mitgliedern der Assoziation durch deren starke Gravitationswirkung in die Weiten des Alls katapultiert werden. Dennoch halten die meisten Astronomen einen anderen Mechanismus für wahrscheinlicher, den schon 1961 der niederländische Astronom Adriaan Blaauw vorgeschlagen hatte. Demnach wurden die Schnelläufer weggeschleudert, als ihr einstiger Begleitstern als Supernova explodierte.

Nach der Theorie der Sternentwicklung sollten alle Sterne mit mehr als der achtfachen Sonnenmasse schließlich in einer gigantischen Explosion zerbersten – und zwar um so früher, je schwerer sie sind. Ein OB-Stern vom 25fachen der Sonnenmasse explodiert deshalb schon nach 10 Millionen Jahren, während die Sonne selbst seit 4,6 Milliarden Jahren existiert und voraussichtlich noch fast doppelt so lange leuchten (und schließlich nicht als Supernova, sondern als Weißer Zwerg enden) wird. In einem Binärsystem aus zwei umeinander kreisenden OB-Sternen explodiert der massereichere zuerst. Und als Folge davon könnte, so Blaauws Hypothese, der Begleiter regelrecht weggeschleudert werden.

Solange die beiden Sterne nämlich um ihren gemeinsamen Schwerpunkt rotieren, werden sie von der wechselseitigen gravitativen Anziehung auf elliptischen Bahnen gehalten. Bei der Supernova-Explosion löst sich der Partner jedoch größtenteils auf, so daß der andere seinen Anziehungspunkt verliert und sich mit seiner hohen Umlaufgeschwindigkeit nun geradeaus weiterbewegt (Bild 2). Der Vorgang ähnelt dem Hammerwerfen, bei dem der Athlet die an einem Seil befestigte Kugel zunächst über den Kopf schwingt und dann losläßt.

Etwa die Hälfte der OB-Sterne gehört Binärsystemen an. Deren Entwicklung verläuft neueren Untersuchungen zufolge allerdings etwas komplizierter als von Blaauw vermutet (Bild 2). Demnach kommt es vor der Supernova-Explosion zu einer Phase intensiven Massentransfers; dabei strömt Materie von dem massereicheren Stern zu seinem Partner.

Der Grund dafür ist, daß sich der schwerere und deshalb schneller alternde Stern nach einigen Millionen Jahren zu einem Überriesen aufbläht, der viel größer als die Sonne ist. Die Materie in seinen äußeren Schichten ist dann nur noch lose gebunden, so daß der Begleiter sie abzusaugen beginnt. Der Transfer kann soweit gehen, daß sich das Masseverhältnis zwischen beiden Komponenten umkehrt: Der ursprünglich schwerere Stern wird leichter als sein Partner. Seinem Schicksal entgeht er damit freilich nicht: Er explodiert trotzdem als erster.

Eine wichtige Folge des Massentransfers ist jedoch, daß der Überrest der Supernova-Explosion – ein Neutronenstern oder ein Schwarzes Loch im Zentrum des Vorläufersterns – gravitativ an den Partner gebunden bleibt und ihn weiter umrundet, auch nachdem dieser aus der OB-Assoziation entwichen ist. Nach allem, was man über die Entwicklung massereicher Sterne in Binärsystemen weiß, sollten Schnelläufer also von einem kompakten Supernova-Überrest begleitet sein. Die Suche danach, obwohl von vielen Astronomen seit Jahren intensiv betrieben, blieb jedoch erfolglos. Dies weckte Zweifel an der Theorie von Blaauw.

Aber nun wurde eine Gruppe von europäischen Astronomen unter meiner Leitung doch noch fündig. Auf der Basis neuer Beobachtungen stellten wir fest, daß der OB-Stern HD77581, der mit dem Neutronenstern Vela X-1 zusammen ein wohlbekanntes Binärsystem bildet, alle Merkmale eines echten Schnelläufers aufweist. Bei Vela X-1 handelt es sich um die stärkste Röntgenquelle im Sternbild Vela (Segel des Schiffes). Sie besteht aus einem sogenannten Röntgenpulsar, bei dem es sich eindeutig um einen Neutronenstern handelt. Er zieht von dem OB-Stern Material zu sich herüber, das beim Auftreffen auf seine Oberfläche soviel Energie freisetzt, daß es zur Emission von Röntgenstrahlung kommt.

Auf einer Falschfarbenaufnahme der Umgebung des ziemlich hellen HD-77581 und seines (im optischen Bereich unsichtbaren) Begleiters Vela X-1, die mit dem dänischen 1,54-Meter-Teleskop auf der Europäischen Südsternwarte (Bild 1) durch ein schmalbandiges Ha-Filter gemacht wurde, sieht man deutlich eine typische Stoßfront, was klar beweist, daß es sich um einen Schnelläufer handelt (Bild 3). Tatsächlich ist die parabelförmige Bugstoßwelle eine der am besten ausgebildeten, die je bei einem solchen Stern beobachtet wurde.

Die Orientierung der Welle zeigt, daß sich das System nach Norden bewegt; sein Ursprungsort muß demnach irgendwo südlich seiner jetzigen Himmelsposition liegen. Tatsächlich kreuzt die rekonstruierte Bahn von HD77581 die wohlbekannte OB-Assoziation VelOB1, die etwa 6000 Lichtjahre von der Erde entfernt ist. Aus den Meßwerten für die Radialbewegung relativ zur Erde und die Eigenbewegung auf der Himmelssphäre ergibt sich so eine Geschwindigkeit von 90 Kilometern pro Sekunde. Demnach hätte HD77581 ungefähr 2,5 Millionen Jahre gebraucht, um von VelOB1 zu seiner jetzigen Position zu gelangen. Dies deckt sich mit der aus den Eigenschaften des Binärsystems ableitbaren Zeit, die seit der Supernova-Explosion des Vorläufersterns von Vela X-1 vergangen ist.

Offensichtlich paßt somit alles zusammen. Anhand der beobachteten Bugstoßwelle um HD77581 ließ sich die Bahn des Schnelläufers zurückverfolgen und sein Herkunftsort identifizieren; von dort wurde der OB-Stern einst bei einer heftigen Supernova-Explosion weggeschleudert, deren Überrest ihn in Form der intensiven Röntgenquelle Vela X-1 noch heute begleitet. Damit konnten die Vorstellungen Blaauws nach mehr als 35 Jahren nun endlich bestätigt werden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1997, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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