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Verborgene Geschichten der Wissenschaft

Aus dem Amerikanischen
von Peter Knecht, Barbara Schaden
und Sebastian Vogel.
Berlin Verlag, Berlin 1996.
192 Seiten, DM 36,-.

Das Buch eröffnet in fünf Beiträgen faszinierende Einsichten in unterschiedlichste Entdeckungen aus Gehirnforschung, Virologie, Molekularbiologie und Krebsforschung aus zwei Jahrhunderten vorwiegend englischer und amerikanischer Naturwissenschaft.

Die einzelnen Beiträge haben eines gemeinsam: Sie stellen die Entdeckungen in ihren zeitgeschichtlichen Kontext und zeigen den oft hart umkämpften Wandel der Fragestellungen als Antrieb der Wissenschaftsentwicklung vom 19. Jahrhundert bis heute. Es sind Geschichten über das Schicksal unzeitgemäßer Entdeckungen und Entdecker, deren Bedeutung oft erst nach Jahrzehnten und unter anderen Voraussetzungen erkannt wurde, weil konträre Lehrmeinungen die Akzeptanz blockierten.

So zeichnet Jonathan Miller, britischer Mediziner und zugleich Theater-, Opern- und Fernsehregisseur, die verschlungenen Pfade "Auf der Suche nach dem Unbewußten" (Kapitelüberschrift) nach. Im Mittelpunkt stehen die Ergründung der unbewußten Hirntätigkeit und der Reflexfunktionen des Gehirns durch die englischen Physiologen Thomas Laycock und Benjamin Carpenter im 19. Jahrhundert sowie die Verdrängung des "nichtfreudianischen Unbewußten" durch den Behaviorismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Daniel J. Kevles, Biologe am California Institute of Technology in Pasadena und Leiter des Forschungsprogramms "Wissenschaft, Ethik und Rechtsordnung", erzählt die faszinierende "Geschichte von Mut, Viren und Krebs": wie das Rous-Sarkom-Virus Tumorviren bei Tieren und Onkogene beim Menschen entdecken half.

Im Originaltitel "Hidden Histories of Science" steckt eine Mehrdeutigkeit, welche der Herausgeber Robert B. Silvers, einer der Gründer der "New York Review of Books", durchaus beabsichtigt hat: Es gibt nicht nur ein einziges Modell der Wissenschaftsgeschichte, sondern außer dem derzeit vorherrschenden auch andere. "Hätte die Wissenschaftsgeschichte – wie das Leben – auch ganz anders verlaufen können? Ähnelt die geistige Evolution der Evolution des Lebens?" fragt der Neurologe und Buchautor Oliver Sacks im abschließenden Kapitel (Seite 161).

In seinem Beitrag "Skotom: Vergessen und Mißachtung in der Wissenschaft" spiegelt sich exemplarisch die Konzeption des Buches. Skotom bedeutet neurologisch einen Gesichtsfeldausfall, "im weiteren Sinn einen Bruch der Wahrnehmung". Angewandt auf Wissenschaft und Medizin ist zum Beispiel gemeint, daß eine Erkenntnis sich nicht durchzusetzen vermag, weil sie ihrer Zeit zu weit voraus ist. Aber ein Skotom ist "mehr als lediglich der verfrühte Zeitpunkt: dazu gehören auch die Ausmerzung der ursprünglichen Erkenntnisse, ein Verlust an Wissen und Verständnis, das Vergessen von Einsichten, die einmal unzweifelhaft schienen" (Seite 151).

Das schildert Sacks am Beispiel der "totalen Farbenblindheit infolge einer Verletzung oder Funktionsstörung des Gehirns". Der Schweizer Neurologe Louis Verrey hatte 1888 eine Fallstudie über eine halbseitige Achromatopsie veröffentlicht. Nach der Lehrmeinung der Zeit war jedoch der Gesichtssinn unteilbar; die Vorstellung, daß Farbe an einer anderen Stelle des Gehirns verarbeitet werde als der Rest eines Bildes, mußte als absurd erscheinen, so daß Verreys Ausführungen über die Sehrinde und das "Zentrum des Farbsehens" nicht in die Lehrbücher aufgenommen wurden.

Um 1960 aber entdeckten David Hubel und Torsten Wiesel, daß die Sehrinde aus Zellen und Zellsäulen zusammengesetzt ist, die für das Grundmuster der visuellen Wahrnehmung zuständig sind (Spektrum der Wissenschaft, November 1979, Seite 106). Sehen ist also eine Konstruktion von Bildern durch Zusammenwirken zahlreicher Neuronen. Das Dogma vom unteilbaren Gesichtssinn war damit erschüttert. Der Londoner Neurobiologe Semir Zeki lokalisierte in der Sehrinde von Affen Zellen, die für die Wahrnehmung von Wellenlänge und Farben zuständig sind, in derselben Hirnregion, die Verrey 1888 beschrieben hatte (Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 52). Die Achromatopsie wurde 86 Jahre nach ihrer Erstbeschreibung als "neurologische Störung" anerkannt.

Sacks sieht eine Erklärung für diese lange Verzögerung in der "Verfrühtheit": "Der Verstand muß in der Lage sein, die Idee einzuordnen, zu behalten. Dieser Einordnungsprozeß, die Fähigkeit, einen geistigen Raum zu schaffen, eine Kategorie mit möglichen Anknüpfungspunkten – und die Bereitschaft dazu –, scheint mir ausschlaggebend dafür zu sein, ob eine Idee oder eine Entdeckung sich festsetzen und Früchte tragen kann oder ob sie vergessen wird und folgenlos ausstirbt" (Seite 152).

Am Beispiel der Neurologie im "Jahrzehnt des Gehirns" zeigt Sacks, daß auch heute Widerstände gegenüber neuen Konzepten wirksam sind. Die klassische Neurologie ordnet jeder Gehirnregion feste Funktionen zu. Man unterscheidet zwischen genetisch festgelegten Basisfunktionen des Gehirns und Funktionen höherer Ebene, Bewußtsein oder Lernprozessen. Elkhonon Goldberg, ein Schüler von Alexander W. Lurija, entwickelte Anfang der siebziger Jahre sein "Modell kortikaler und kognitiver Gradienten". Danach treten in den höheren Ebenen "völlig neue Organisationsprinzipien zutage", die auf eine Selbstorganisation von Geist und Bewußtsein hindeuten. Sie entwickeln sich erst im Laufe des Lebens. Als Goldberg sein Modell vor 20 Jahren vorstellte, wurde es verworfen; inzwischen gewinnt es aufgrund der Kenntnisse über interaktive neuronale Netze zunehmend an Beachtung. Dieser Wandel ist verbunden mit der Änderung des Naturverständnisses: "Die Natur wird nicht mehr nur als Ganzheit betrachtet, sondern als innovatorisch, emergent, schöpferisch."

Diese Beispiele zeigen, daß in jeder Generation von Wissenschaftlern ähnliche Verhaltensmuster auftreten.

Die renommierten Autoren verstehen es, den Leser bis zur letzten Zeile zu fesseln. Wissenschaftsgeschichte kann sehr spannend sein.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1997, Seite 126
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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