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Vereinte deutsche Wissenschaftslandschaft - Erfolge und Probleme

Die Umgestaltung der Forschungsstrukturen in den neuen Bundesländern war ein in der Geschichte der Wissenschaft einzigartiger Vorgang. Dessen Ergebnisse sind für Hochschulen und außeruniversitäre Institute differenziert zu betrachten.

Es gehört offensichtlich zum medienorientierten Verhalten der Gesellschaft, neue wissenschaftliche Entwicklungen wie etwa die Gentechnik kritisch zu betrachten und noch unbekannte positive Auswirkungen ohne nähere Prüfung abzulehnen. Kritisieren ist bekanntlich leichter als verändern, Schuldzuweisungen sind schneller vorgebracht als konstruktive Vorschläge.

Das gilt inbesondere in der Forschung, deren innovative Elemente von Pessimisten einerseits und Optimisten andererseits mit vergleichbarer Intensität ver- beziehungsweise berurteilt werden, wenngleich eine fachgerechte Einschätzung durch einzelne wegen der Komplexität und vielfacher Wechselbeziehungen in der Sache kaum noch möglich ist. Durch die pauschale öffentliche Lesebrille erscheinen die Risiken in größeren Lettern als die Chancen, wobei die finanziellen Rahmenbedingungen mit den emotionalen Stimmungen in kontraproduktiver Weise interagieren.

Dieses Szenario zeitgenössischer Wissenschaftsbetrachtung wuchs unmittelbar vor und nach der Vereinigung beider deutscher Staaten zu einer übermächtigen und vielschichtigen Problematik heran, weil trotz historisch bedingter unterschiedlicher Haupt- und Nebenwurzeln ein einheitliches Wissenschaftsgebilde zusammenwachsen sollte, betrieben von pekuniären Nährstoffen und reguliert oder kontrolliert von juristischen Hormonen. Wie bei einer Pflanzenpfropfung zwischen einem schwächeren Reis und einer kräftigen Unterlage waren (und sind) die unterschiedlichen Partner einem zeitabhängigen Verschmelzungsprozeß unterworfen, der sich analytisch verfolgen läßt, aber dessen Ergebnis nur bedingt vorherzusagen ist.

Der herangezogene Vergleich hinkt jedoch aus methodischen Gründen: Pflanzliche Pfropfungsexperimente werden in einer Vielzahl ausgeführt, um eine wissenschaftliche Aussage zu treffen. Ob dabei das Reis auf der Unterlage anwächst und gedeiht oder verkümmert und verdorrt, läßt sich eindeutig ermitteln. Das gesellschaftliche Pfropfungs-Großexperiment Wiedervereinigung Deutschland hingegen ist in jeder Hinsicht einzigartig. Und: Es muß gelingen, denn ein negativer Ausgang – im Sinne des Austrocknens des Reises – ist grundsätzlich nicht vorstellbar. Allerdings ist der Grad des Erfolges entscheidend abhängig von mehreren wichtigen Faktoren, darunter – um im Bild zu bleiben – vom Ausmaß der Nährstoffversorgung aus der (West-)Unterlage in das (Ost-) Reis und davon, ob beziehungsweise welche strukturbildende Stoffe zwischen ihnen ausgetauscht werden. Verläuft der Austausch wie bei einer biologischen Symbiose in beiden Richtungen?

Übertragen wir nun dieses botanisch-experimentelle Bild in die Wirklichkeit der Wissenschaftslandschaft in Deutschland, ignorieren die Experimentatoren, indem wir ihre Kompetenz voraussetzen, und betrachten den Verlauf der deutsch-deutschen Pfropfungs- und Verschmelzungsprozesse seit dem Schnitt des Reises im Herbst 1989 und dessen Einbringung in die Unterlage im Oktober 1990. Zunächst jedoch machen wir uns mit der Organisation des Ganzen vertraut.


Deutsche Forschungsstrukturen

Die öffentlichen Wissenschaftsstrukturen in Deutschland sind mehr als in jedem anderen Staat pluralistisch gefächert. Die Hauptlast der Forschungstätigkeit tragen nach wie vor die Universitäten, die sich Wilhelm von Humboldts idealistischem Postulat der – heute schwieriger zu realisierenden – Einheit von Forschung und Lehre verpflichtet fühlen, aber unter einer Studentenschwemme leiden und über Finanzmangel klagen (Gesamtetat 34 Milliarden Mark pro Jahr); daran hat sich seit zwei Jahrzehnten wenig geändert, und die prekäre Lage wird sich auch auf absehbare Zeit nicht bessern. Komplementär ergänzt wird diese akademische Berufsausbildung durch die Fachhochschulen mit ihrer weitgehend praxisorientierten Wissenschaftsanwendung.

Das Forschungssystem außerhalb der Hochschulen weist drei Hauptkomponenten auf:

- die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) mit derzeit 69 Instituten, 11100 Mitarbeitern und einem Jahresbudget 1995 von 1,7 Milliarden Mark, die sich der Grundlagenforschung widmet,

- die Fraunhofer-Gesellschaft (FhG) mit derzeit 48 Instituten, 7700 Mitarbeitern und einem Finanzvolumen 1995 von etwa einer Milliarde Mark, die angewandte und Auftragsforschung durchführt, und

- die Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF) mit insgesamt 16 Großforschungseinrichtungen, 23000 Mitarbeitern und einem Jahresbudget 1995 von 3,6 Milliarden Mark, die sowohl in der Grundlagen- als auch in der angewandten Forschung tätig ist (Spektrum der Wissenschaft, August 1995, Seite 105).

Eine vierte Komponente, die mittlerweile eine annähernd gleichwertige Bedeutung erlangt hat, bilden die Institute der sogenannten Blauen Liste (BL), in der heute 82 Institutionen der Grundlagen- und Anwendungsforschung mit 8900 Mitarbeitern und einem Jahresbudget 1995 von 1,25 Milliarden Mark zusammengeschlossen sind (Spektrum der Wissenschaft, März 1993, Seite 114). Anhänger universitärer Strukturen mögen diese aus höchst unterschiedlichen Forschungsstätten, Museen und Service-Einrichtungen der Wissenschaft bestehende Arbeitsgemeinschaft nicht sehr – nicht nur wegen des wissenschaftlichen und pekuniären Konkurrenzdenkens. Die BL-Institute haben im März 1995 zur Verbesserung der Zusammenarbeit und Auffrischung ihres Erscheinungsbildes beschlossen, sich enger zusammenzuraufen, aber sie vermieden es aufgrund nostalgischer Argumente zu vieler Institutsdirektoren, sich einen neuen Namen zu geben, der auch in der internationalen Fachwelt ohne weiteres verständlich wäre: Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft. So blieb es bei der Hilfskonstruktion Wissenschaftsgemeinschaft Blaue Liste (WBL), und es wurde die Gelegenheit vertan, das Terzett bedeutender deutscher Naturwissenschaftler als Namensgeber für die außeruniversitären Forschungskomponenten zu einem Quartett zu erweitern.

Alle genannten Einrichtungen werden in jeweils unterschiedlichen Finanzierungsquoten gemeinsam vom Bund (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, BMBF) und den 16 Ländern finanziert. Ferner gibt es eine größere Anzahl von Ressort-Instituten, die je nach Arbeitsaufgaben und Erfordernis entweder vom Bund (Bundesanstalten) oder vom jeweiligen Sitz-Bundesland unterhalten werden.


Transformation und Erneuerung

Dem Einigungsvertrag vom September 1990 gemäß sollten die Wissenschafts- und Forschungsstrukturen der DDR – speziell die Institute der Akademie der Wissenschaften (AdW) und der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften (AdL) – in die vorhandenen Wissenschaftsorganisationen der Bundesrepublik eingegliedert werden. Das war die Folge einer am Status quo orientierten Politik, der Bund, Länder und die Wissenschaftsorganisationen zuneigten – in der Hektik der Wiedervereinigungsphase konnte es nicht darum gehen, Bestehendes in den alten Ländern zu reformieren.

Wenngleich dieser gewaltige Transformationsprozeß noch nicht in allen Einzelheiten abschließend bewertet werden kann, ist er insgesamt doch als weitgehend gelungen zu bezeichnen. Die hier nicht detailliert darstellbaren Erfolge müssen stets gemessen werden an den widrigen Rahmenbedingungen: Wegen der extrem knappen Zeit und ohne vorherige ideelle und praktische Vorbereitungsphase, ohne Präzedenzfälle und vergleichbare Erfahrungen sowie angesichts unerwartet auftauchender Probleme mußte alles allein mit dem Engagement verantwortungs- und risikobewußter Frauen und Männer und anhand von schnell ausgetüftelten Vorschlägen bewältigt werden.

Gleichwohl dürfen wir die nicht zu übersehenden Anpassungsschwierigkeiten, die sich aus den gravierenden Veränderungen in Ostdeutschland ergeben, nicht aus unseren Betrachtungen ausklammern. Aus wissenschaftspolitischen und -inhärenten Gründen war mit unterschiedlichen Entwicklungen in universitären und außeruniversitären Bereichen zu rechnen; darum werden beide im folgenden trotz mancher Überschneidungen separat behandelt.

Der von 1989 bis 1992 erfolgte Aufbau einer gesamtdeutschen Wissenschaft durch Angleichen der ost- an die westdeutschen Strukturen läßt sich in vier Phasen untergliedern:

- deutsch-deutsche Kooperationen,

- forschungspolitischer Entscheidungsprozeß,

- Evaluation durch den Wissenschaftsrat sowie

- Umsetzen seiner Empfehlungen.

So schlug im Herbst 1990 die große Stunde des Wissenschaftsrates, die ein dreiviertel Jahr dauern sollte. Die anstehende Begutachtung der außeruniversitären und in Teilbereichen universitären Wissenschaftseinrichtungen geriet wegen ihres Ausmaßes gewissermaßen zur Jahrhundert-Evaluierung und forderte von den wissenschaftlichen Generalisten und den vielen hinzugezogenen Spezialisten vollen Einsatz. Die Ergebnisse und die daraus abgeleiteten Empfehlungen wurden im Juli 1991 vorgelegt und als Leitfaden zum Handeln allgemein anerkannt (Spektrum der Wissenschaft, September 1991, Seite 41). Bis auf einige – allerdings markante – Ausnahmen haben die Ministerialverwaltungen der neuen Länder sie inzwischen umgesetzt.

Dennoch erwies sich der Erfolg dieses immensen Unterfangens als ein Stigma, das dem Wissenschaftsrat in den folgenden Jahren in problematischer Weise anhaftete und ihn ungewollt, doch der Not gehorchend, zu einer Evaluierungsmaschinerie für Länder und Bund funktionalisierte; denn Deutschland unterzieht seine Forschungslandschaft und damit seine Wissenschaftler nach und nach einer teuren und aufwendigen Bewertung.


Außeruniversitäre Wissenschaft: Erfolge!

Im Oktober 1990 als "Abwicklungsstelle" eingeführt, später zur "Aufbauhilfe" konvertiert und im Dezember 1993 selbst abgewickelt, spielte die Koordinierungs- und Aufbau-Initiative (KAI) als Zwischenlösung für das Umsetzen des Paragraphen 38 des Einigungsvertrags eine wichtige und ungewöhnliche Rolle. Diese Einrichtung mit vielfältigen Aufgaben hatte die Auflösung der AdW-Institute erträglich zu machen und die neugegründeten Institute in ihrer Anlaufphase zu begleiten. Sie half entscheidend mit, das forschungspolitische Netzwerk, das zwischen Bund, den (noch administrativ insuffizienten) neuen Ländern und den Forschungsorganisationen sowie dem Wissenschaftsrat geknüpft worden war, auf Haltbarkeit beim Auffangen der außeruniversitären Institute zu prüfen. Die KAI fungierte als Haushälter und Investor in 70 Einrichtungen der AdW, war Arbeitgeber für 21000 Arbeitnehmer, deren Anzahl drastisch zu reduzieren war, und beriet die Gründungskommissionen besonders bei den BL-Instituten. Mittlerweile zeigen sich die Früchte der gemeinsamen Bemühungen.

In der stolzen Bilanz, die das BMBF im Juni 1995 zog, wurden seit 1991 etwa 140 außeruniversitäre Einrichtungen von differenzierter föderaler Struktur und mit 8200 Beschäftigten neu gegründet. Die Mittel für die institutionelle Förderung stiegen stetig und umfaßten im vergangenen Jahr 972,8 Millionen Mark. Die Ausgaben des BMBF für die Projektförderung erreichten 1062,5 Millionen Mark, unabhängig von den wirtschaftsorientierten Sonderzuwendungen und den Bundesmitteln für das Hochschulerneuerungsprogramm. Insgesamt flossen der Wissenschaft in den neuen Ländern 1995 mehr als drei Milliarden Mark zu.

Viele ostdeutsche außeruniversitäre Einrichtungen (und zunehmend auch einige Laboratorien in Universitätsinstituten) sind heute moderner oder besser ausgestattet als entsprechende Institutionen in den doch finanzkräftigeren alten Bundesländern. Die Anschubfinanzierung im Rahmen des Aufschwunges Ost erlaubte, insbesondere mittelgroße und große Geräte zu installieren. Schon kurz nach der Wendezeit liefen Hilfsaktionen mit Computerausstattungen an, wobei die Förderung von deutsch-deutschen Kooperationsvorhaben durch die Volkswagen-Stiftung und ein ebensolches Forschungsförderungsverfahren der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine Pionierrolle spielten. Der sprichwörtliche warme Regen auf die wegen der wirtschaftlichen Misere der DDR finanziell ausgetrockneten Forschungssteppe hat punktuell tatsächlich blühende Landschaften in der Wissenschaft hervorgebracht. Flächendeckend grünt es kräftig, doch schöne Blumen blühen nur bei kompetenter, engagierter Arbeit der verantwortlichen Gärtner.

Mit der apparativen Aufrüstung und den nahezu unbegrenzten Reise-, Informations- und Qualifizierungsmöglichkeiten ist die Motivation wieder in die Laboratorien und Hörsäle eingezogen; auch die weitgehende Befristung der Stellen trägt dazu bei. Nur die besten Nachwuchskräfte werden später lukrative Entwicklungschancen haben – solche, die in der Regel nicht das höchste Lebensglück eines Wissenschaftlers darin sehen, am Tanz um das goldene Kalb teilzunehmen, der den Transformationsprozeß begleitet und dessen Rhythmus nun auch die Menschen in den neuen Ländern flächendeckend erfaßt hat. Diese Entwicklung war im Gegensatz zu anderen Adaptationsprognosen viel leichter vorherzusagen.

Doch das Heranführen der neuen Länder an das wissenschaftliche Niveau der alten Bundesrepublik hat auch seinen Preis: Die Anzahl der Personalstellen mußte drastisch verringert werden. An den Universitäten wurden 50 bis 65 Prozent der Angehörigen des Mittelbaus entlassen, an den außeruniversitären Einrichtungen im Mittel die Hälfte der ehemaligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.

Als besonders prekäres Problem erwies sich das Wissenschaftler-Integrations-Programm, bei dessen Konzeption der Wissenschaftsrat trotz bester Absicht keine glückliche Hand hatte. Fast 2000 ehemalige Mitarbeiter der AdW und AdL, die nicht in die neu gegründeten Institute übernommen wurden, sollten wegen ihrer positiven Bewertung eigentlich in die Universität integriert werden und deren Forschung stärken. Doch die Hochschulen – selbst dem Kündigungsdruck für ihre Mitarbeiter ausgesetzt – akzeptierten eine zusätzliche Übernahme der bis 1996 befristeten Stellen nur wegen der vom Bund zugesagten Vergütung. Dem, der nun seine Altersgrenze noch nicht erreicht hat, droht Arbeitslosigkeit.

Infolge der deutlichen Leistungszunahme durch technische Verbesserungen, aber auch durch den härteren Konkurrenzkampf sowie durch zunehmende Kommerzialisierung und überwuchernde Bürokratisierung der Wissenschaft haben Werteverschiebungen stattgefunden, die zweifellos an die Befindlichkeit der Menschen rühren, die 40 Jahre lang realsozialistische DDR erlebt haben. Die alte Nischengesellschaft wies sicherlich ihre Mißstände auf, die niemand mehr herbeisehnt; doch ging für viele eine gewisse Nestwärme verloren, weshalb viele Wissenschaftler und deren Mitarbeiter in ihren neuen, schöneren Arbeitsbereichen menschlich-faires Verhalten vermissen.


Universitäten: Probleme?

Die Universitäten und Hochschulen in den neuen Ländern haben zweifellos ähnlich bemerkenswerte Erfolge hinsichtlich ihrer Erneuerung zu verzeichnen; doch möchte ich hier bewußt auf deren Probleme eingehen.

Im Gegensatz zu den außeruniversitären Forschungsinstituten, die aus den AdW- beziehungsweise AdL-Instituten hervorgehend zunächst aufgelöst und dann neu gegründet wurden, mußten sich die Universitäten bei laufendem Betrieb aus sich selbst heraus erneuern. Hunderte oder gar Tausende juristischer Einsprüche waren die Regel und lange Verzögerungen von Neuberufungen die Folge. Oft blieben dabei die wohlmeinenden und mitunter die realen Gegebenheiten mißachtenden Empfehlungen des Wissenschaftsrates auf der Strecke. Schwierigkeiten bei der empfohlenen und gewollten Selbsterneuerung glichen dem Versuch, sich selbst an den Haaren aus dem Morast zu ziehen (was der frühere Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Dieter Simon, denn auch "Münchhausen-Syndrom" nannte).

Alte und auch neue Seilschaften preisen sich als Rettungsmannschaften an; aber ob sie Münchhausens Zopf zu ergreifen vermögen müßte sich erst noch herausstellen. Ministerialbeamte mühen sich zwar redlich um die Hochschulen, indes können sie nicht alle importierten und selbstverantworteten Mängel, die Strukturkommissionen beisteuerten, ausräumen.

Unter diesen Umständen mangelt es an Strategien, und Visionen können sich gar nicht erst entwickeln. Manche ostdeutschen Wissenschaftler oder Hochschullehrer kommentieren dies recht säuerlich, Kategorien wie Utopien, Visionen und Ziele hätten im Osten eines gemeinsam: Keine davon werde erreicht. Man beobachte vielmehr, wie in den sich personell durchmischenden Universitäten der Forschungs-, Lehr- und Lebensstandard der berufenen westdeutschen von dem der ostdeutschen Kollegenschaft sich wie der Rahm von der Magermilch trenne; es entwickle sich dadurch ein bedenkliches akademisches Zweiklassensystem innerhalb der Universitäten.

Es ist schlicht Realität, daß in Berufungsangelegenheiten die westdeutschen Kollegen mit ihren in Ausbildungsfreizügigkeit erworbenen fachlichen Qualifikationen auch künftig ihre ostdeutschen Mitbewerber übertreffen werden. Im Mittel dürften die Qualitäten der Hochschulen in den neuen Ländern noch über Jahrzehnte hinweg unter denen der westdeutschen bleiben. Gute Ansätze, die es erfreulicherweise häufiger gibt, werden relativiert durch importiertes fachliches Mittelmaß, werden reduziert auf menschliche Idealisten, auf Sprungbrettakademiker und Spagatliebhaber, auf die Väter anspruchsloser Professorenfamilien. Dazu gehört auch, daß die mit Berufungen befaßten Minister, Universitätsleitungen und Kanzler zu geringe finanzielle Berufungsspielräume haben und Zusagen nicht einzuhalten vermögen.

Aus Sicht der Studierenden – zum Beispiel der Universität Halle-Wittenberg – wird ihre Mitbestimmung zur Erneuerung der Alma mater mißachtet. "Hochschulerneuerung im Osten wurde wie eine Käseglocke von außen über die Unis gestülpt", so kritisieren sie heftig. "Althergebrachte Vorurteile der westdeutsch dominierten politischen Institutionen verhinderten eine eigenständige, zukunftsweisende Umgestaltung ..." Gewiß wollen die Studenten keine DDR-ähnlichen Zustände wieder haben, doch mehr als pauschale Kritik am jetzigen Zustand der Universitäten (auch der in den alten Ländern) fällt ihnen nicht ein. In einem allerdings haben sie recht: Schönfärberei ist der falsche Ansatz – diese ist in den Wissenschaftseinrichtungen der DDR bis zum Erbrechen geübt worden.

Außerordentlich problematisch bleibt auch das Sanierungsprogramm für die ostdeutschen Universitäten im Rahmen des Hochschulbauförderungsgesetzes; Bund und Länder haben sich darin verpflichtet, je zur Hälfte die Finanzierung zu übernehmen. Doch die Altlasten aus der DDR-Zeit haben ein solches Ausmaß, daß der Bund vor den immensen Kosten zurückschreckt. Der Mittelbedarf für die Hochschulen in den neuen Ländern wird etwa auf das Zehnfache dessen geschätzt, was in der alten Bundesrepublik für die Sanierung asbestbelasteter Institute und Kliniken vorgesehen werden soll.


Nachbetrachtungen

Vermehrt fragen im nachhinein renommierte westdeutsche Forscher sich und die Öffentlichkeit, ob die Wissenschaft in Deutschland nicht eine große Chance verpaßt habe und ob die Folgenlosigkeit der Vereinigung für die alten Bundesländer nicht zu vermeiden gewesen wäre. Beim Großreinemachen in den neuen Ländern hätte man ebensogut auch die westdeutsche Forschungslandschaft durchmustern und dabei manchen morschen Kahn versenken können.

Die Wissenschaftsbewerter haben zwar inzwischen zumindest in Teilbereichen wie der Umwelt- und Materialforschung damit begonnen (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Juni 1994, Seite 124, und März 1996, Seite 113), doch die Haltung der Zuwendungsgeber beziehungsweise der Sitzländer überrascht mitunter. Wie fürsorgliche Glucken behüten sie ihre Küken, auch die erkennbar kränkelnden. Außer der oft geschmähten "Ostalgie" ist sehr wohl auch eine "Westalgie" festzustellen.

Alles in allem, und wenn man von lokalen Ungeschicklichkeiten und speziellen Disharmonien absieht, wäre es jedoch ungerecht, nur zu kritisieren und nicht die vielen gelungenen und wichtigen Leistungen auch westdeutscher Kollegen bei der Neustrukturierung der Wissenschaft in den neuen Ländern lobend hervorzuheben. Bund und Länder, der Wissenschaftsrat sowie zahlreiche Stiftungen und Einzelpersönlichkeiten haben mit ihrem Engagement die Voraussetzungen für den Zusammenführungsprozeß geschaffen.

Eine differenzierte oder gar endgültige Beurteilung der unterschiedlichen Facetten des Transformationsprozesses ist heute noch nicht zu geben. Die vielfachen Empfindlichkeiten und Insuffizienzen in den neuen Ländern sowie die "konzeptionelle Ohnmacht der alten Länder", wie der Konstanzer Philosoph Jürgen Mittelstraß es nannte, bergen in sich noch immer die Gefahr beträchtlicher Verwerfungen. Aber die Vereinigungsmelodie klingt nun doch schon eher wie ein Morgenständchen als wie das Pfeifen im Walde.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1996, Seite 113
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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