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Raketenkontrolle: Verteidigen ist gut – Kontrolle ist besser

Die politische Alternative zu einer Raketenabwehr wurde bislang kaum ernsthaft verfolgt. Doch zehn Jahre nach Ende des Kalten Krieges ist es an der Zeit, Optionen für eine internationale Kontrolle ballistischer Raketen auszuloten.


Als das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg erstmals Raketen einsetzte, rief dies in Europa Angst und Schrecken hervor. Die Besonderheit dieser Waffen liegt darin, dass sie auf ihren ballistischen Flugbahnen selbst über große Distanzen schnell und mit geringer Vorwarnzeit ihr Ziel erreichen. Möglichkeiten zur Abwehr gibt es bislang nicht.

Vielen Militärstrategen dienen Raketen deshalb als effektives Mittel, um eigene Stärke zu demonstrieren und die Bevölkerung anderer Staaten gleichsam als Geiseln zu nehmen. So flossen in der Zeit des Kalten Krieges erhebliche Ressourcen in die Entwicklung von Interkontinentalraketen als Trägersysteme für Massenvernichtungswaffen. Nach dem Vorbild der Supermächte versuchten auch zahlreiche andere Länder, Raketen zu beschaffen, entweder durch eigene Entwicklung oder mit ausländischer Unterstützung.

So listet das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri mehr als zwei Dutzend Staaten auf, die neben den fünf großen Nuklearmächten über Trägerraketen mit Reichweiten zwischen 50 und 2200 Kilometern verfügen. Viele dieser Länder liegen in den Krisenregionen Naher Osten, Südasien und Nordostasien. Nur wenigen gelang es aber, Mittel- oder Langstreckenraketen herzustellen, da mit der Reichweite eines ballistischen Flugkörpers der technische und finanzielle Aufwand erheblich zunimmt. Der weitaus größte Teil der betroffenen Staaten verfügt daher lediglich über Raketen kurzer Reichweite (bis 500 Kilometer).

Die Bedrohungsanalysen der US-Geheimdienste, die eine wesentliche Triebfeder für die Entwicklung eines nationalen Raketenabwehrsystems darstellen, wurden bislang von der Realität nicht bestätigt. Abgesehen von China besitzt kein weiteres Land der Dritten Welt Raketen interkontinentaler Reichweite. Am ehesten dürften Israel und Indien diese Fähigkeit erreichen können.

Mit großen Unwägbarkeiten sind die Potenziale Nordkoreas behaftet. Zum einen stößt das Land mit seinem Raketenprogramm an wirtschaftliche und technische Grenzen, zum anderen haben sich mit dem Gipfeltreffen zwischen Nord- und Südkorea die politischen Rahmenbedingungen verbessert. Beim Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Juli in Pjöngjang stellte Nordkorea eine Einstellung des Raketenprogramms in Aussicht, wenn dafür eine ausländische Unterstützung bei der Nutzung von Weltraumraketen gewährt werde. Die bislang ebenfalls als "Schurkenstaaten" klassifizierten Länder Iran und Irak dürften auf absehbare Zeit die Welt nicht mit Raketen bedrohen, obwohl sie deren Entwicklung offen oder verdeckt fortführen.

Vorschläge für ein erweitertes Kontrollregime



Potenziell steigen mit den wachsenden ökonomischen Kapazitäten der Entwicklungsländer auch ihre technischen Fähigkeiten. Um möglichen Bedrohungen vorzubeugen, wäre es Aufgabe einer vorausschauenden internationalen Sicherheitspolitik und einer präventiven Rüstungskontrolle, die Anreize für die eigene Entwicklung von Raketen zu minimieren und frühzeitig geeignete Kontrollmaßnahmen zu ergreifen. Da selbstbewusste neue Raketenmächte sich kaum einem für sie diskriminierenden Kontrollregime unterwerfen würden, wären Zugeständnisse der Kernwaffenstaaten erforderlich. Sowohl die Herstellung ballistischer Raketen wie auch eines funktionsfähigen Abwehrsystems brauchen Zeit, sodass noch hinreichend Chancen bestehen, das Raketenproblem mit politischen Mitteln zu lösen.

Bis heute gibt es keinen internationalen Vertrag, der die Entwicklung und den Gebrauch von ballistischen Raketen und anderen Trägersystemen kontrollieren würde. Die Vereinigten Staaten und Russland (als Rechtsnachfolger der Sowjetunion) haben bilaterale Abkommen vereinbart, die lediglich die Anzahl nuklearer Trägersysteme mittlerer und interkontinentaler Reichweite begrenzen beziehungsweise reduzieren. Durch den 1987 abgeschlossenen INF-Vertrag (für Intermediate-Range Nuclear Forces) wurden alle landgestützten Mittelstreckenraketen beider Länder mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern beseitigt. Der Start-I-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty) begrenzt die strategischen Sprengköpfe auf je 6000, Start II sieht eine Reduzierung auf 3000 bis 3500 vor.

Daneben gibt es Exportkontrollen. Das 1987 zwischen den führenden westlichen Industrienationen vereinbarte Missile Technology Control Regime (MTCR) beschränkt den Transfer bestimmter Technologien. Zwar stieg die Zahl der Mitgliedsländer von sieben auf 28 an, und einige Raketenprogramme konnten erschwert und verzögert werden. Von einem Technologie-Embargo allein sind jedoch keine Wunder zu erwarten. Die bereits vorhandenen Raketenarsenale werden nicht angetastet, sicherheitspolitische Anreize zur Raketenentwicklung bleiben unberücksichtigt. Zudem fehlen dem MTCR spezifische Verifikations- und Durchsetzungsmechanismen.

Grundsätzlich ist die Kontrolle von Kernwaffenträgersystemen ein von nahezu allen Staaten anerkanntes Ziel. So haben bis auf Israel, Kuba, Indien und Pakistan alle Länder den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen unterzeichnet. In dessen Präambel haben sie zum Ausdruck gebracht, "die Entfernung der Kernwaffen und ihrer Einsatzmittel aus den nationalen Waffenbeständen … unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle" anzustreben. Die praktische Umsetzung ist bislang jedoch immer wieder zwischen die Mühlsteine militärischer Machtpolitik geraten.

In der jüngsten Zeit mehren sich die Stimmen in Regierungskreisen, diesem Defizit zu begegnen. In Vorbereitung auf die Plenarsitzung des MTCR im Oktober schlugen die USA, Großbritannien und Frankreich vor, die Exportkontrollstandards zu verbessern, den Dialog mit Staaten, die nicht Mitglied des MTCR sind, zu intensivieren, und Raketenstarts – gleich ob zivil oder militärisch – rechtzeitig anzukündigen. Weiter reicht der Vorschlag des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, der anlässlich des G-8-Gipfels im Juni 1999 ein globales Kontrollsystem für die Nichtverbreitung von Raketen und Raketentechnologie anregte. Auf einem Expertentreffen im März dieses Jahres in Moskau diskutierten Vertreter aus 46 Ländern diesen Vorschlag, darunter Delegationen aus dem Iran, aus China, Indien und Ägypten. Die Vereinigten Staaten entsandten zwar einen Beobachter, nahmen aber offiziell nicht teil.

Die neue Initiative möchte generell die Transparenz im Raketenbereich verbessern und Risiken verringern, die durch Fehleinschätzungen und Missverständnisse auftreten können. So soll zum Beispiel gewährleistet werden, dass der Start einer Forschungsrakete nicht als Angriff fehlinterpretiert wird, wie in der Vergangenheit geschehen (siehe Spektrum der Wissenschaft, 4/98, S. 76). Um die Verbreitung von Raketen zu erschweren, sollen denjenigen Staaten, die auf die militärische Nutzung ballistischer Flugkörper (insbesondere für Kernwaffenzwecke) verzichten, Anreize geboten werden. Hierzu gehören Sicherheitsgarantien durch andere Mitgliedsländer des Regimes, die Unterstützung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sowie Hilfe bei der friedlichen Nutzung des Weltraums.

Vertrauen bilden und Risiko minimieren



Die russische Regierung will diesen Vorschlag bei der Millennium-Sitzung der UNO-Generalversammlung im Herbst einbringen. Damit dürfte die internationale Diskussion über eine Raketenkontrolle an Dynamik gewinnen. Doch bleibt fraglich, wie wirksam oder wie akzeptabel ein reines Nichtverbreitungsregime für ballistische Flugkörper sein könnte, solange sich die bisherigen Raketenbesitzer nicht zu zusätzlichen Abrüstungsschritten verpflichten müssen.

Weitergehende Schritte hin zu einer multilateralen Raketenkontrolle und einer verbesserten Frühwarnung diskutierten im März dieses Jahres Experten aus Kanada, Großbritannien, Deutschland, Norwegen und den USA in der kanadischen Hauptstadt Ottawa. Einigkeit bestand darin, dass der 1972 vereinbarte ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen eingehalten und gestärkt werden müsse. Instabilitäten und Zwischenfälle sollen durch Maßnahmen zur Vertrauensbildung und Risikominderung vermieden werden. Konkret hieße das zum Beispiel, Raketenstarts rechtzeitig zu melden, einen Alarmzustand der strategischen Streitkräfte zu vermeiden und auf den Ersteinsatz von ballistischen Flugkörpern zu verzichten. Um die Kontrolle zu erleichtern, sollen multilaterale Regeln für den Weltraum vereinbart und militärische Raumfahrtaktivitäten zu Gunsten von zivilen verringert werden.

Schritte in diese Richtung erfordern die Zusammenarbeit der Nato-Staaten untereinander sowie mit Russland und China. Auch die kommerzielle Weltraumindustrie müsste einbezogen werden. Um die Beziehungen zu den für kritisch erachteten Ländern zu "entschurken" (wie es in dem Expertenbericht heißt), sollten die Sicherheitsbedürfnisse in den jeweiligen Regionen ernster genommen werden. Dies könne mit dazu beitragen, die Motivation für den Bau von Raketen zu dämpfen. Als langfristige Ziele formuliert der Bericht über das Expertentreffen von Ottawa die "Demilitarisierung, die Beseitigung nicht-ziviler ballistischer Raketen und die Abschaffung von Kernwaffen". Erste Ansätze zu einer solchen Initiative hatte es 1986 gegeben, als die damaligen Präsidenten Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Rejkjavik über die vollständige Abschaffung von Interkontinentalraketen sprachen.

Verschiedene konkrete Rüstungskontrollmaßnahmen wurden in den vergangenen Jahren auf Nicht-Regierungsebene diskutiert. Zu den Vorschlägen gehört, nach dem Vorbild des Kernwaffenteststopps die Erprobung ballistischer Raketen einzuschränken. Ohne Flugtests wäre es nämlich nicht möglich, die Reichweite von Raketen zu steigern, ihre Zielgenauigkeit zu verbessern oder die Zuverlässigkeit neuer Raketentypen zu beurteilen. Ein Flugtestmoratorium würde zudem die Risiken durch versehentliche oder missverständliche Raketenstarts verringern. Durch ein vorübergehendes "Einfrieren" des Entwicklungsstandes bei offensiven und defensiven Raketensystemen würde Zeit für Verhandlungen über weiterreichende Abrüstungsschritte gewonnen.

Überwachte Abrüstung



Die von den bestehenden Raketenarsenalen ausgehende Bedrohung kann letztlich nur durch ihren Abbau verringert werden. Als mögliches Modell kann hier ein 1992 von der Federation of American Scientists (FAS) erarbeiteter Vorschlag dienen, der damals in Rüstungskontrollkreisen Beachtung fand. Das mit dem Kürzel ZBM (Zero Ballistic Missiles) bezeichnete Konzept sieht vor, offensive ballistische Raketen oberhalb einer vorgegebenen Reichweite unter internationaler Kontrolle stufenweise zu reduzieren und schließlich vollständig zu beseitigen. Eine eigens zu schaffende internationale Behörde würde den Abrüstungsprozess implementieren und überprüfen. Als Verhandlungsforum könnte das MTCR, die Genfer Abrüstungskonferenz oder eine eigens einzuberufende Konferenz dienen.

Der Vorschlag der FAS liefert wichtige Denkanstöße, wie die Raketenbedrohung mit völkerrechtlichen Mitteln verringert und beseitigt werden kann, auch wenn noch eine Reihe von Fragen zu klären sind. Ein Problem betrifft die Bereitschaft von Staaten, auf ihre Raketenoptionen zu verzichten, solange sie sich davon eine verbesserte Abschreckung versprechen. Doch wie die beiden Golfkriege gezeigt haben, sind Raketenbesitzer nicht davor gefeit, von Raketen des Gegners angegriffen zu werden. Bereits im Kalten Krieg war allzu deutlich geworden – wie auch jetzt wieder im indisch-pakistanischen Konflikt oder in der Debatte über das National-Missile-Defense-System der USA –, dass schnell fliegende ballistische Raketen eher Anreize für weitere Aufrüstung schaffen und die Kriegswahrscheinlichkeit erhöhen. Letztlich übertreffen die Risiken und Kosten eines Raketenwettrüstens, zumal wenn es mit Abwehrsystemen gepaart ist, die erhofften Sicherheitsgewinne, und sie erschweren das Herausbilden kooperativer Sicherheitsstrukturen.

Ein zweiter Problembereich betrifft die Überprüfbarkeit, die so genannte Verifikation, einer internationalen Raketenkontrolle (siehe Tabelle rechts). Bereits ohne formelles Abkommen könnten wichtige Schritte in diese Richtung unternommen werden. Hierzu gehört die Raketenfrühwarnung ebenso wie der Austausch technischer Daten über den Stand der Raketenprogramme. Da Raketenstarts wegen der intensiven Wärmeabstrahlung selbst über große Entfernungen einfach zu erkennen sind, könnte ein einseitig verkündetes oder zwischen mehreren Staaten vereinbartes Flugtestmoratorium bereits mit den bestehenden Überwachungskapazitäten – wie Frühwarnsatelliten mit Infrarotsensoren sowie luft- und bodengestützten Radaranlagen – überprüft werden.

Für die Abrüstung bedeutsam sind Maßnahmen, welche die Umwandlung von Weltraumraketen in militärische Flugkörper ausschließen, nachweisen oder in ihren Folgen begrenzen. Trotz ihrer technischen Ähnlichkeit könnten dabei Unterschiede im Stationierungsmodus, den Versuchsprozeduren, der Nutzlast, der Flugbahn, den Lenksystemen und dem Wiedereintritt als Indikatoren herangezogen werden. Während der Erprobung, Herstellung und Stationierung würde sich die Überprüfung mittels Fernaufklärung auf die beobachtbaren Raketenmerkmale konzentrieren. Dazu gehört insbesondere die Infrastruktur, die Starteinrichtungen, Testgelände und Produktionsanlagen, Bahnverfolgungs- und Kommunikationssysteme, Raketencontainer und Transportfahrzeuge umfasst.

Die technischen Mittel wären um Maßnahmen der kooperativen Verifikation und der Vertrauensbildung zu ergänzen – beispielsweise durch Inspektionen, die unaufdringliche Vorrichtungen und Verfahren einsetzen. Dabei können die Erfahrungen bei der Überprüfung der INF- und Start-Verträge genutzt werden, die Tor- und Zaunkontrollen an Raketenanlagen vorsahen. Um der militärisch-zivilen Doppelverwendbarkeit – dem so genannten dual-use – zu begegnen, könnte wie im Nuklearbereich ein Safeguards-System für kritische Komponenten und Technologien geschaffen werden, das von einer unabhängigen Kontrollbehörde zu überprüfen wäre. Eine der effektivsten vertrauensbildenden Maßnahmen ist aber nach wie vor die internationale Zusammenarbeit in zivilen Weltraumprojekten, durch die ein militärischer Gebrauch nicht geheim gehalten werden könnte. Die Wissenschaft kann mithelfen, solche Konzepte in die Praxis umzusetzen.

Die eigentliche Aufgabe kommt aber der Politik zu. Deutschland als einstiger Initiator der Raketenentwicklung und als heutiger Nichtkernwaffenstaat, der selbst militärische Raketen langer Reichweite entwickelt, könnte dazu wichtige Beiträge leisten.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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