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Verteilte Intelligenz für eine effektive europäische Forschungspolitik



Das fünfte Rahmenprogramm verfolgt breit gestreute Ziele, die weit über rein wissenschaftliche Erkenntnisse hinausgehen. So sollen die Fördermittel aus Brüssel unterentwickelten Regionen helfen oder hochqualifizierte Arbeitsplätze in der Forschung schaffen. Einige Programme fördern Untersuchungen, wie sozial benachteiligte Gruppen der Gesellschaft stärker von der europäischen Integration profitieren können. Sozioökonomische Effekte nennt man das, sie gehören seit Jahrzehnten zum Zielkanon der europäischen Forschungspolitik.

Lassen sich solche Ziele überhaupt unter einen Hut bringen? Um den dafür notwendigen politischen Rahmen aufzuklären, analysierten zwölf Forscherteams aus neun europäischen Ländern die Bedingungen für erfolgreiche Innovationen und zogen Schlußfolgerungen für die Politik. Die Untersuchungen gehörten zum sozioökonomischen Forschungsprogramm (TSER) der EU, einem Teil des vierten Rahmenprogramms. Der Abschlußbericht der Forschergruppe "Verteilte Intelligenz in komplexen Innovationssystemen" (ASTPP) liegt im Frühjahr 1999 vor.

Aus den Ergebnissen wird sichtbar: Die klassische Grenze zwischen Grundlagenforschung, anwendungsorientierter Forschung, Technikentwicklung und marktgängiger Innovation löst sich auf. Materialforscher entdecken im Labor plötzlich eine Legierung mit völlig neuen Oberflächeneigenschaften. In der Biotechnologie wird ein Stamm Bakterien gezüchtet, der Wasserstoff produziert. Beides gehört eigentlich in die Grundlagenforschung, ist aber sofort auch als Produkt für den Weltmarkt interessant. Zudem wiederholen sich die Kreisläufe zwischen Grundlagenforschung und Marktauftritt eines innovativen Produktes immer schneller und sind enger miteinander verzahnt. Heute kooperieren Wissenschaftler auf den verschiedensten Gebieten. Neue Disziplinen entstehen, alte verschwinden. Der Austausch von Wissen, die weiche Seite der Innovation, gewinnt an Bedeutung. Über Erfolg oder Mißerfolg entscheidet nicht mehr nur der Ausstattungsgrad der Labors. Um schneller und effizienter miteinander arbeiten zu können, vernetzen sich die Forschungslabors miteinander und organisieren sich selbst neu, abhängig von den konkreten Anforderungen eines Forschungsthemas, ihren Partnern und den weltweit verfügbaren Ressourcen.

Zugleich ist die Arena für forschungspolitische Entscheidungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich größer geworden. Neben nationale Regierungen traten, eigenständig operierend, regionale und transnationale Institutionen, die teils miteinander kooperieren, teils aber auch um knappe Mittel und Einfluß konkurrieren. Nationale Politiker müssen erleben, wie multinationale Unternehmen ihre Innovationen weltweit betreiben und dabei förderpolitische Angebote nach Bedarf nutzen, unabhängig davon, wo sie die Forschungsergebnisse später verwerten. Zwar verbleiben der nationalen Politik gewisse Handlungsspielräume, doch sie ist zu deutlichen Änderungen ihres Designs gezwungen. In Deutschland führte das beispielsweise dazu, daß die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und das Forschungsministerium des Bundes ihre Förderprogramme auch für amerikanische Wissenschaftler öffnen wollen. Die EU reagierte gleichfalls: Innerhalb des fünften Rahmenprogramms regelt ein Abkommen, wie sich amerikanische Labors an den Forschungsprojekten beteiligen können.


Moderation statt Lenkung



Um die europäische Forschungsförderung wirklich zu ihren Zielen zu führen, ist vor allem Moderation gefragt. Versuche, die Interessen durch Anweisungen aus Brüssel zu steuern, haben in dieser unübersichtlichen Umwelt kaum eine Chance. Die europäische Forschungs- und Technologiepolitik muß sich also in einem komplexen Akteursgeflecht formulieren und umsetzen. Dazu wird die ASTPP-Gruppe empfehlen, die europäische Forschungspolitik effektiver als bisher zu evaluieren. Zentrale Bedeutung kommt der Frage zu, wie sich neue Technologien in der Gesellschaft auswirken. Der entsprechende Fachbegriff Technology Assessment (TA) wird oft unzureichend mit der Abschätzung von Technikfolgen übersetzt. Er geht jedoch weit darüber hinaus. Als in den sechziger Jahren die ersten Computer in Industrie und Forschungslabors einzogen, kamen sie in Gestalt leistungsstarker Großrechner, die ganze Hallen füllten. Sie kosteten viele Milliarden Mark, sind heute aber nur noch von beschränktem Wert. Schnelle Computernetze, die kleine, intelligent verteilte Kraftpakete via Internet koordinieren, erwiesen sich als leistungsfähiger, flexibler und billiger. Die Investitionen in die Großrechner bedeuteten teures Lehrgeld auf dem Weg zu einem wirklich intelligenten Einsatz der Rechentechnik. Ähnliche Tendenzen gibt es in der Energieforschung.

Gleichzeitig gehen die direkten und indirekten Folgen neuer Technologien für die natürliche Umwelt des Menschen stärker in die Debatte ein. Zehn Prozent der Forschungsmittel aus dem fünften Rahmenprogramm entfallen auf Projekte der europäischen Atomforschung (Euratom). Gleichzeitig drohen die Kosten für Atomunfälle und die Lagerung der strahlenden Abfälle den wirtschaftlichen und sozialen Nutzen der Atomenergie um ein Vielfaches zu übersteigen. Die Kritik wächst, die Vertreter regenerativer Energien drängen an die Fördertöpfe. Seit den siebziger Jahren entstanden TA-Kulturen nicht nur in den USA, sondern vor allem auch in den skandinavischen Ländern, den Niederlanden und in Deutschland.

Die ASTPP-Gruppe hat eine Reihe von Beispielen dafür zusammengetragen, wie sich diese verschiedenen Verfahren der Evaluation, Vorausschau und Folgenabschätzung kombinieren lassen. Das würde die politischen Weichenstellungen erheblich erleichtern. Allerdings gibt es nicht die ideale Mischung, sondern lediglich gewisse Vorzugsvarianten, die voraussichtlich besser sind als andere. Die ASTPP-Gruppe nennt dies verteilte Intelligenz für forschungspolitische Entscheidungsprozesse. Maßgeblich scheint vor allem zu sein, daß die unterschiedlichen Perspektiven und Interessen konkurrierender Akteure systematisch ins Kalkül gezogen werden, also transparent und debattierbar sind.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 908
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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