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Computersimulation: Virtuell durch den Berg

Im interdisziplinären Forschungsschwerpunkt "Numerische Simulation im Tunnelbau" arbeiten österreichische Wissenschaftler daran, das Verhalten eines Berges während der Bauarbeiten zu simulieren.


Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten als Ingenieur an einem größeren Tunnelprojekt. Mittels Sondierungen und anhand seismischer Echos erstellten Geologen ein Profil des Gebirges auf der geplanten Route. Sie prüfen vor Ort, ob Gesteinsart und -struktur den Erwartungen entsprechen. Schließlich hängt vieles davon ab, wie stabil der Berg ist, etwa ob auf der vollen Fläche des geplanten Tunnelprofils gesprengt werden kann oder nach und nach kleinere Stollen vorangetrieben werden müssen.

Sie stutzen. Die Gesteinsschichten an der vordersten Tunnelwand sind von Rissen und Klüften durchzogen, die in den geologischen Daten nicht verzeichnet sind. Welchen Einfluss hat dies auf die weiteren Bauarbeiten? Ein Ingenieur benötigt viel Erfahrung bei solchen Entscheidungen. Unterstützung durch die Computersimulation, in anderen technischen Bereichen längst gang und gäbe, wäre wünschenswert, doch mangelt es noch an wirklichkeitsgetreuen mathematischen Modellen und der erforderlichen Rechenleistung.

Das soll nun anders werden. In nur wenigen Jahren, so das ehrgeizige Ziel des österreichischen Forschungsschwerpunkts "Numerische Simulation im Tunnelbau", spielt sich die eingangs geschilderte Beurteilung an einem PC-Arbeitsplatz ab. Der Ingenieur trägt eine Datenbrille und prüft einen virtuellen Tunnel. In diesem Cyberspace werden spezielle Gegebenheiten und Resultate von Simulationsrechnungen dargestellt, beispielsweise die genannte zerklüftete Oberfläche sowie mechanische Beanspruchung der geplanten Verschalung unter diesen geologischen Bedingungen. In schwierigen Fällen kann der Bauingenieur vor Ort die Meinung eines weiteren Experten einholen – die Daten würden via Internet verschickt. Der Kollege, der lediglich die entsprechende Hard- und Software benötigt, kann sich den bisherigen Verlauf der Arbeiten als Animation ansehen und kommentieren, statt wie bisher per Kurier versandte Handskizzen einzusehen.

Um alles das zu ermöglichen, wird ein Modell des geplanten Tunnels entwickelt, das aus geometrischen Elementen wie Tetraedern und Quadern aufgebaut ist, das also ein repräsentatives Gitterwerk für die numerischen Berechnungen darstellt. Den Knotenpunkten und Flächen ordnen die Ingenieure nicht nur die zuvor erhobenen geologischen Informationen zu. Nach jedem Vortrieb nehmen auch zwei hochauflösende Kameras die Felswand auf. Aus ihren Daten ermitteln Algorithmen der digitalen Bildverarbeitung mögliche Verläufe einzelner Gesteinsschichten. Nachdem der Geologe diese Angaben noch geprüft und gegebenenfalls korrigiert hat, werden auch sie dem Gitterwerk zugeordnet. Die digitalen Aufnahmen dienen zudem dazu, dem Tunnel bei virtueller Betrachtung ein realitätsnahes Aussehen zu geben.

Entlang von Störzonen, also durch den Berg laufenden geologischen Strukturen, und Klüftungen ist das Gestein meist nachgiebiger als in den umliegenden Bereichen, Verformung in der Verlaufsrichtung solcher Störungen müssen beim Erstellen eines mathematischen Modells berücksichtigt werden. Auch das Verhalten der Stützmaterialien gilt es realitätsgetreu nachzubilden. Das ist alles andere als einfach. So wird Spritzbeton in flüssigem Zustand an die Tunnelwand gespritzt und härtet dort langsam aus, dabei wird Wärme frei und seine mechanischen Eigenschaften ändern sich fortlaufend. Ein kompliziertes numerisches Modell, entwickelt am Institut für Festigkeitslehre der Technischen Universität Wien, bezieht dieses Verhalten mit ein und kann berechnen, ob durch den Gebirgsdruck die Bruchgrenze des Betons erreicht wird.

All diese Schätzungen im dreidimensionalen Raum erfordern jedoch enorme Rechenleistungen. Lösungswege und Programmierung müssen verbessert werden, denn das ganze Paket soll nicht nur auf einem Parallelrechner, sondern auch auf einem PC an der Baustelle laufen. So half das Verfahren der Konjugierten Gradienten, die Lösung großer Gleichungssysteme zehnmal schneller zu machen. Dies beruht, vereinfacht gesagt, darauf, den Fehlergradienten einer Iteration als Ausgangsbasis für den nächsten zu nehmen.

Die gewonnenen Daten müssen dem technischen Personal aber auch in verständlicher Form präsentiert werden. Das in Graz entwickelte Visualisierungssystem verwendet zwei kleine Monitore in einer Stereobrille, die den Augen leicht versetzte Ansichten zeigen, sodass ein räumlicher Eindruck entsteht. Die je-weilige Blickrichtung wird anhand der Kopfbewegung gemessen und das Bild entsprechend verstellt. Aus den Laufzeitunterschieden eines von einem Sender am Kopf des Benutzers ausgesandten Signals zu mindestens drei im Raum positionierten Empfängern lässt sich die aktuelle Position des Benutzers bestimmen. Im Cyber-Tunnel sieht der Ingenieur die von den elektronischen Kameras aufgenommenen Bilder sowie, diesen überlagert, auch berechnete Daten, etwa die durch eine Sprengung verursachten Spannungen oder Verformungen im verbleibenden Gestein.

Computerunterstützung soll die Planung und Ausführung der Bauprojekte effizienter und sicherer machen. Große Aufgaben warten auch in diesem Jahrhundert auf den Tunnelingenieur. Zu nennen ist der Ausbau der Alpenverbindungen und die Anlage neuer oberflächennaher Tunnels für Hochgeschwindigkeitszüge oder U-Bahnen. Ein Mammutprojekt zeichnet sich in Südamerika ab: Die wachsende Zusammenarbeit zwischen Chile und Argentinien verlangt nach einer wintersicheren Landverbindung quer durch die Anden. Eine Studie von 1997 schlägt einen etwa 28 Kilometer langen Tunnel vor, der aber mit schwierigen geologischen Verhältnissen zurechtkommen muss. Noch steht die Entscheidung aus, doch die vermutete Bauzeit von 8 bis 14 Jahren wird sich nur bei Einsatz modernster Mittel realisieren lassen. Schließlich planen Japan und Korea eine Verbindung unter dem Meer. Mit 300 Kilometern Länge wird sie den derzeitigen Rekordhalter, den 53 Kilometer langen Seikan-Eisenbahntunnel zwischen den japanischen Inseln Honshu und Hokkaido, deutlich schlagen und die Grenze des Machbaren erweitern.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2000, Seite 92
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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