Virtuell ist ökologisch
Eine amerikanische Studie lässt uns Internet-Begeisterte aufatmen, und mit uns holt auch Mutter Erde Luft: Surfen ist umweltfreundlich. Die Untersuchung belegt, was wir schon lange ahnten: Wer im Internet durch virtuelle Welten gleitet, handelt viel naturverträglicher als jemand, der statt seines Mausfingers auch noch den restlichen Körper bewegt. Also, ihr Fortschrittsfeinde, die ihr noch immer per pedes oder gar mit dem Auto eure Besorgungen erledigt – euer Verhalten ist nicht mehr zeitgemäß. Die Studie lehrt uns, dass im realen Buchladen pro verkauftem Buch 16-mal mehr Energie verbraucht wird als bei der Bestellung im virtuellen Shop.
Das gibt zu denken. Könnten dann nicht auch die Einsparungen an Energie und Geld durch elektronische Kommunikation im Chat oder via E-Mail ebenso ins Gewicht fallen? Verglichen natürlich mit herkömmlichen Sozialkontakten der analogen Art. Vielleicht macht das Internet alsbald auch Fernreisen überflüssig. Oder wir entgehen mit seiner Hilfe der befürchteten Bevölkerungsexplosion – durch kybernetische Erotik.
In den Vereinigten Staaten hat all das angeblich schon dazu geführt, dass der nationale Energieverbrauch nicht mehr weiter steigt – zumindest möchte das Department of Energy die Verbrauchsdaten gerne so auslegen. Nörgler mögen vielleicht etwas von mildem Winter und zu kurzem Erhebungszeitraum murmeln, aber das überhören wir Vielsurfer einfach. Da öffnen wir lieber ein neues Bildschirmfenster mit der Tagung „Schöne vernetzte Welt – Mit Multimedia zu weniger Umweltverbrauch?“ der Schweizer Gesellschaft für Umweltschutz (SGU), auf der schon im Oktober 1995 unsere visionären Freunde den Trend zur umweltfreundlichen Totalverkabelung prophezeiten.
Aber mal im Ernst: Diese Studie beschränkt sich auf einen Vergleich der Verkaufsräume und vernachlässigt die übrige Infrastruktur vollständig. Daneben mutet sie an wie die einstige Mär vom papierlosen Büro durch den Einzug des Computers. Bislang wurde durch die Verbreitung des PC noch kein einziges Blatt Papier eingespart – ganz im Gegenteil. Es liegt offensichtlich in der Natur der digitalen Datenverarbeitung, dass die Aufgaben, zu deren Erledigung wir die Rechenknechte heranziehen, mit der wachsenden Produktivität auch komplexer werden, sodass unterm Strich keine Ersparnis – weder zeitlich noch materiell – zu verbuchen ist. Ganz frei nach dem Motto: Mit dem Computer lösen wir Probleme, die wir ohne ihn gar nicht hätten. Genauso verhält es sich heute mit dem Internet: Was ein digitaler Vorgang an Material oder auch Kosten möglicherweise erspart, wird andernorts durch höhere Ansprüche wieder zunichte gemacht.
Nein, durch Verbreitung des Internets wird derzeit unterm Strich keine Energie oder gar Geld gespart. Man denke nur an den Angriff auf die größten amerikanischen Web-Portale neulich oder an das weltweite Warten, wenn die Datenleitungen mal wieder verstopft sind. Vielleicht dauert es ja trotzdem gar nicht mehr lange, bis wir der Meldung, dass durch Computernetze Rohstoffe, Geld oder Energie eingespart werde, tatsächlich Glauben schenken können. Aber soweit sind wir noch lange nicht: Studien, die wie diese amerikanische etwas anderes glauben machen wollen, sind bestenfalls kurz gedacht, wenn nicht gezielte Augenwischerei. Außerdem wird es immer Dinge geben, die ein digitaler Datentransfer, und sei er noch so leistungsfähig, nicht zu ersetzen vermag.
Ach ja, die Studie selbst können Sie im Internet unter www.cool-companies.org/ecom/index.cfm einsehen – und natürlich auch ausdrucken.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2000, Seite 101
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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