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Virtuelle menschliche Embryos

Den Geheimnissen der menschlichen Keimentwicklung sind Forscher mit der sogenannten Magnetresonanz-Mikroskopie auf der Spur. Sie macht unser Wissen über Embryos auf neuartige Weise nicht zuletzt auch als Online-Datenbank verfügbar: für Forschung, Lehre und Kliniken.


Jeden Morgen, wenn ich ins Zentrum für In-Vivo-Mikroskopie am Medizinischen Zentrum der Duke-Universität in Durham (North Carolina) komme, begebe ich mich auf eine faszinierende Expedition: Ich verschaffe mir ungewöhnliche Einblicke in menschliche Embryos, und zwar mit Hilfe der sogenannten Magnetresonanz-Mikroskopie (MRM). Die damit gewonnenen dreidimensionalen Darstellungen sind exzellent und aufschlußreich zugleich. Mit solchen "virtuellen" Embryos, niedergelegt in einer speziellen Datenbank, kann ich computersimulierte Reisen unternehmen, quer durch sämtliche Systeme des menschlichen Körpers in seinen frühesten Entwicklungsstadien. Außerdem sind mir Animationen der embryonalen Entwicklung gelungen, wie sie bislang nicht möglich waren.

Für solch detaillierte Informationen besteht wachsender Bedarf. Denn die Biologen wollen nicht nur die Abfolge einer normalen und einer gestörten Keimentwicklung verstehen, sondern auch die Faktoren, die diese Prozesse bestimmen. Das meiste, was bislang darüber bekannt ist, stammt aus Untersuchungen an Gewebeschnitten von Embryos normaler sowie genetisch veränderter Tiere. Um jedoch angeborene Fehlbildungen oder Krankheiten beim Menschen besser diagnostizieren und behandeln zu können, müssen Wissenschaftler die Informationen aus solchen Tiermodellen mit entsprechenden Stadien der menschlichen Keimentwicklung in Beziehung setzen.

Daher wurde ich 1996 vom National Institute of Child Health and Human Development (NICHD) in Bethesda (Maryland) beauftragt, eine Online-Datenbank virtueller menschlicher Embryos zu erstellen, die auf der Carnegie-Sammlung realer Präparate basiert. Untergebracht ist diese wertvolle anatomische Sammlung im Nationalen Museum für Gesundheit und Medizin in der US-Bundeshauptstadt Washington. Sie besteht aus konservierten menschlichen Embryos eines jeden Entwicklungsstadiums vom Tag 1 nach der Empfängnis bis zum Alter von acht Wochen, umfaßt aber auch frühe Feten (acht Wochen nach der Befruchtung wird der menschliche Embryo zum Fetus). Das kleinste Exemplar hat eine Länge von ungefähr 0,2 Millimetern, das größte mißt grob drei Zentimeter, hat also etwa die Größe einer Mandel.

Das Kernstück der Carnegie-Sammlung bilden Embryos, die von Fehlgeburten oder Abtreibungen stammen. Der Embryologe Franklin Paine Mall hatte sie zwischen 1887 und 1917 zusammengetragen. Heute enthält sie zudem Embryos, die bei Routine-Autopsien verstorbener schwangerer Frauen entdeckt wurden.

In der Sammlung ist die Embryonalphase in 23 Stadien gegliedert, entsprechend bestimmter Meilensteine der körperlichen Entwicklung, wie dem Auftreten der Beinknospen. Das NICHD hat mich beauftragt, MRM-Bilder zu erstellen, beginnend mit dem Carnegie-Stadium 10 (22 Tage nach der Empfängnis) bis einschließlich der ersten Woche der Fetalentwicklung. Das Stadium 10 ist charakterisiert durch das Auftreten des ersten Paares von Kiemenbögen, das später zu Teilen des Kiefers wird. Die Ergebnisse meiner Arbeit werden Fachleuten zur Verfügung stehen – vor allem Entwicklungsbiologen und Medizinern. Aber auch die breite Öffentlichkeit kann über das Internet auf einer Home-page mit dem übersetzten Titel "Der multidimensionale Menschenembryo" Einblick in diese Datenbank nehmen (www.embryo.mc.duke.edu). Die Carnegie-Stadien 14, 15, 17, 18, 19, 22 und 23 sind dort bereits zu sehen; Informationen zu weiteren werden bis zum Juni 2000 verfügbar sein.

Um solche bisher beispiellosen Innen- und Außenansichten zu erstellen, positioniere ich jeden ausgewählten Embryo präzise innerhalb eines Glasfläschchens und stelle es in einen supraleitenden Magneten. Das MRM-Verfahren ähnelt der Kernspin-Tomographie (Magnetic Resonance Imaging, MRI), wie sie heute von vielen Kliniken eingesetzt wird. Beide nutzen ein starkes äußeres Magnetfeld, in dem sich die Protonen im Gewebewasser gemäß ihrem Kernspin ausrichten – er verleiht ihnen ein magnetisches Moment – und um diese Achse mit der sogenannten Lamur-Frequenz kreiseln. Ein äußerer Radiopuls gleicher Frequenz "kippt" die Protonen kurzfristig in die Horizontale, beim Zurückkehren in die Ausgangslage senden sie dann ihrerseits ein Radiosignal aus. Indem man dem äußeren Magnetfeld ein zweites überlagert, dessen Stärke über das zu untersuchende Objekt hinweg von einem maximalen auf einen minimalen Wert abfällt (Gradientenfeld), lassen sich beispielsweise Gewebeschichten selektieren: Nur in einer Schicht entspricht das resultierende Magnetfeld dem ursprünglich angelegten, und nur dort ist die Lamur-Frequenz gleich der des Radiopulses. Die MR-Mikroskopie offenbart allerdings viel feinere Details, als für eine praktische medizinische Diagnostik erforderlich ist: Die Kernspin-Tomographie liefert "nur" Bilder mit einer Voxel- Auflösung von bis zu einem Kubikmillimeter; die mikroskopische Variante zeichnet dagegen noch Voxel (Volumenelemente) auf, die eine Million mal kleiner sind. Man erreicht diese höhere Auflösung durch stärkere Magnete und stärkere Feldgradienten sowie durch kleinere bildgebende Magnetspulen, die an die winzigen Präparate angepaßt sind.

Die MR-Mikroskopie, die G. Allan Johnson und seine Mitarbeiter an der Duke-Universität 1986 entwickelt haben, läßt die Embryos völlig intakt. Bei der traditionellen Mikroskopie ist dies anders: Wer hier den dreidimensionalen inneren Aufbau eines biologischen Objektes von der Größe eines Embryos erforschen will, muß es typischerweise in unzählige hauchdünne Gewebeschnitte zerteilen und aus den Serien dann die räumlichen Zusammenhänge rekonstruieren. Das alles beansprucht Hunderte von Stunden. Mit Hilfe der MRM können wir dagegen den vollständigen dreidimensionalen Datensatz eines Embryos in kaum zwei Stunden gewinnen, wobei zur Darstellung der Ergebnisse spezielle Computer-Software nötig ist.

Um Bilder wie die in diesem Artikel gezeigten zu generieren, benutzen meine Mitarbeiter und ich Programme, welche die 128 einzelnen MRM-Bildschnitte zu einem virtuellen Gesamtkörper aufeinanderschichten. Jede Schicht enthält 256 × 256 Pixel (Bildpunkte). Das Ergebnis ist eine räumliche Anordnung ("Matrix") von 128×256×256=8,4 Millionen Voxel. Jedes Voxel repräsentiert einen winzigen Teil eines Embryos. Software erlaubt es uns außerdem, diese Matrix zu drehen, einzelne Bereiche abzutragen oder die Grauwerte der einzelnen Datenelemente aufgrund von Kriterien wie der Signalintensität einzufärben oder anzupassen.

Anschließend benutzen wir Computer-Algorithmen, um virtuelle Lichtstrahlen von hinten nach vorn durch die Matrix zu schicken. Die Strahlen werden durch die Voxel, auf die sie treffen, modifiziert und ergeben schließlich ein digital erzeugtes Bild in der Ebene des Bildschirms. Mit unseren Programmen können wir in jeder beliebigen Orientierung digitale Schnittbilder durch das Objekt erzeugen, seine Oberflächen transparent werden lassen und so die inneren Strukturen sichtbar machen. Für Spezialfragen lassen sich einzelne Organsysteme digital herauspräparieren und vermessen.

Der "Multidimensionale Menschenembryo" wird Forschern in aller Welt die Schätze der Carnegie-Sammlung erschließen und ihnen zu mehr Informationen über diese Embryos verhelfen, als es jemals zuvor möglich gewesen war. Diese Online-Datenbank wird sich, davon sind wir überzeugt, in mehrfacher Hinsicht als nützlich erweisen:

‰ Sie wird die Schulung von Ärzten erleichtern, die Fehlbildungen am Ungeborenen mit Hilfe von Kernspin-Tomographie und Ultraschall erkennen wollen.

‰ Sie wird wertvolle Bilddaten direkt in die Labors von Wissenschaftlern bringen, die selbst keine speziellen embryologischen Kenntnisse besitzen.

‰ Sie bringt diese Informationen auch in Hörsäle, in denen die Grundlagen der embryonalen Anatomie unterrichtet werden.

‰ Schließlich, indem wir diese bemerkenswerten Bilddaten erzeugen, erhalten wir der Nachwelt eine sehr seltene, unersetzliche Sammlung von Menschenembryos.

Literaturhinweise


Atlas of Human Embryos. Von Raymund F. Gasser, Harpert & Row, 1975.

Developmental Stages in Human Embryos: Including a Revision of Streeter’s Horizons and a Survey of the Carnegie Collection. Von Ronan O’Rahilly und Fabiola Müller. Carnegie Institution of Washington, Washington, D.C. 1987.

The Multidimensional Human Embryo Web Site findet sich unter www.embryo.mc.duke.ed


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1999, Seite 54
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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The Multidimensional Human Embryo Web Site findet sich unter http://embryo.mc.duke.edu/
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