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Virtuelle Realität. Computer kreieren synthetische Welten

Aus dem Englischen
von Udo Rennert und Waltraud Götting.
Scherz, München 1993.
256 Seiten, DM 39,80.

Die Autoren – über deren Identität sich nirgendwo im Buch ein Hinweis findet – berichten über eine neue Technologie. Nun ja, so neu ist sie nun auch wieder nicht, denn die Bestandteile gibt es schon seit einigen Jahren. Barrie Sherman und Phil Judkins, laut Verlagsprospekt Berater für Technologie- und gesellschaftliche Fragen, die sich auch in Büchern und Fernsehsendungen zum Thema geäußert haben, berichten von den ersten Ansätzen in dieser Richtung und bringen viele Spekulationen über künftige Anwendungen. Wer reichlich Science-fiction liest, wird hier indes nicht viel Neues lernen.

Was ist virtuelle Realität? Eigentlich handelt es sich um nichts anderes als ein besonders effizientes Mensch-Computer-Interface. Dies besteht aus mehreren Teilen, die so viele der menschlichen Sinne umfassen sollen wie möglich. Da gibt es Datenhelme oder Bildschirmbrillen für die Augen mit integriertem Kopfhörer für die Ohren; der Datenhandschuh erfaßt Stellungen von Hand und Fingern, und der Datenoverall übermittelt die entsprechende Information über den Körper. Versuche, umgekehrt der Haut Tastreize zu vermitteln, sind im Gange. Virtuelles Speisen wird hoffentlich noch recht lange auf sich warten lassen.

Durch die weitgehende Ausschaltung äußerer Reize wird der Benutzer gänzlich in die vom Computer erzeugte Welt eingetaucht. Je stärker diese Immersion, desto überzeugender ist die Illusion, desto realistischer der Eindruck. Kein Wunder, daß so etwas für die Allgemeinheit zuerst in Computerspielen und in der Werbung zum Einsatz kommt, zum Beispiel in Simulatoren für Flugzeuge, Autos oder auch eine schlichte Einbauküche. Da kann man zunächst virtuelle Möbel plazieren und dann schon einmal ausprobieren, ob sich die Türen zur richtigen Seite hin öffnen oder ob die Geräte am richtigen Platz sind.

Im militärischen wie auch im zivilen Bereich werden Piloten im Flugsimulator ausgebildet. Solche Geräte sind im Vergleich zu Spielvarianten naturgemäß sehr aufwendig und teuer, allerdings immer noch billiger als die entsprechenden Übungsflüge. Es gibt sogar ein Manöversystem mit einigen hundert Teilnehmern, jeder mit einem Datenhelm ausgerüstet, die einander auf einem virtuellen Schlachtfeld mit virtuellen Panzern virtuell bekämpfen und virtuell umbringen können. Die im Buch zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, daß vielleicht in Zukunft reale militärische Konflikte in einer virtuellen Welt ausgetragen werden könnten, finde ich allerdings ziemlich lächerlich.

In einigen Bereichen werden sich derartige Techniken wohl wirklich etablieren. Während man bei einem Video-Telephongespräch bislang lediglich das Gesicht des Gesprächspartners sieht, wird man sich der Illusion hingeben können, man sitze ihm leibhaftig gegenüber. Voraussetzung dafür ist freilich ein sehr leistungsfähiges Telekommunikationsnetz; ISDN ist dafür wohl nur eine Vorstufe.

Dieser Punkt kommt häufig zur Sprache: Die interessantesten Anwendungen benutzen in hohem Maße ein derartiges Netz, damit sich viele Teilnehmer in ein und dieselbe virtuelle Welt begeben können, um sich dort zu begegnen oder ihren Geschäften nachzugehen. So wird man in einem virtuellen Supermarkt zu beliebiger Uhrzeit und ohne viel Gedränge einkaufen können, indem man virtuelle Artikel in einen virtuellen Einkaufswagen legt, an einer virtuellen Kasse bezahlt (virtuelles Geld ist ja schon beinahe Realität geworden) und dann die echten Waren ins Haus geliefert bekommt. Dies ist im Grunde nur die logische Fortführung der Bestellung nach Katalog.

Ebenfalls attraktiv, vor allem angesichts unserer massiven Verkehrsprobleme, könnte das virtuelle Büro werden – ohne das ganze Drumherum würde man es schlicht einen Heimarbeitsplatz nennen. Dabei ist allerdings noch gar nicht klar, ob virtuelle soziale Kontakte ein Ersatz für leibhaftige sein können.

Philosophische Aspekte behandelt das Buch kaum. Schon der Begriff virtuelle Realität – scheinbare Wirklichkeit – ist in sich widersprüchlich; vielleicht wurde er gerade darum zum populären Schlagwort. Wie scheinbar kann meine Wirklichkeit sein? Was bin ich bereit, als real zu akzeptieren? Wenn es tatsächlich gelingt, mich glauben zu lassen, daß die virtuelle Welt, in der ich mich gerade befinde, real ist, wie kann ich dann jemals sicher sein, momentan nicht in irgendeiner anderen virtuellen Realität zu sein? Was passiert, wenn ich in einer virtuellen Welt einen Datenhelm aufsetze, um eine virtuelle Welt – zweiter Ordnung – zu betreten?

Solange ich in meiner privaten virtuellen Welt herumlaufe, ist das nicht weiter gravierend. Viele Probleme entstehen erst, wenn viele Teilnehmer in einer gemeinsamen virtuellen Welt interagieren. Jeder Teilnehmer bildet sich dort in der Weise ab, wie er das möchte – er definiert einfach, als was die anderen ihn wahrnehmen. Was aber geschieht, wenn jemand ohne mein Wissen diese Erscheinungsform verändert? Was sind meine Rechte an meiner Erscheinungsform? Was passiert, wenn jemand meine Erscheinungsform kopiert und für seine Zwecke benützt? Wer muß die Waschmaschine bezahlen, die jemand unter Benutzung meiner virtuellen Identität gekauft hat? Probleme dieser Art werden sicherlich auftreten, wenn diese Technologie erst genügend perfektioniert ist.

Das Buch gibt auch keine klare Antwort auf die Frage, wo die virtuellen Welten herkommen sollen. Sicherlich wird man sich welche kaufen können; doch habe ich meine Zweifel, ob man sie sich so mühelos selbst zurechtmachen kann, wie die Autoren dies darstellen. Für eine wirklich überzeugende Welt muß man derartige Mengen von Daten erzeugen, daß man ohne Hilfe von außen, ohne Bibliotheken und andere externe Quellen, nicht auskommt. Schaut man sich virtuelle Welten von heute an (zum Beispiel im Spektrum-Video "Virtuelle Realität"), so wird klar, daß die Technik hier noch sehr in den Anfängen steckt.

Die Autoren behaupten verschiedentlich, die virtuelle Realität helfe, komplizierte und abstrakte Sachverhalte für jedermann verständlich darzustellen. Sicherlich war es schon immer hilfreich, das richtige Bild an der richtigen Stelle zu sehen; aber warum sollte es auf einmal leichter sein, die richtigen Bilder zu finden? Wie leicht macht man hier eine falsche Analogie, dort eine vorsätzliche Vereinfachung, die den Betrachter beziehungsweise Befühler hinters Licht führt. Kann ich wirklich die Abläufe in einer Volkswirtschaft besser begreifen, wenn ich einen laufenden Motor vor mir sehe, sogar anfassen kann und mir jemand erklärt, welchem Teil einer Volkswirtschaft dieses und jenes Motorbauteil analog sein soll? Viele der Darstellungen, gerade für didaktische Zwecke, sind heute mit einem modernen PC realisierbar. Warum wird es dann nicht oder nur zögernd getan?

Apropos Bilder: Die Autoren behaupten nicht ganz zu Unrecht, daß Bilder nur einen schwachen Eindruck von virtueller Realität vermitteln können. Trotzdem hätte ich mich über einige schon gefreut, zum Beispiel über Photos der Hardware oder auch einfach Szenen aus virtuellen Welten. Ein Bild aus anderer Quelle zeigt zum Beispiel den Blick aus dem Cockpit auf ein anderes Flugzeug neben mir über einer Landschaft, die aus Satellitenbildern hergestellt wurde. In so einem Simulator zu sitzen muß schon recht eindrucksvoll sein.

Vieles von dem, was das Buch für die Zukunft verspricht, scheint noch ganz amüsant; aber einiges läßt nachdenklich werden. Sicherlich werden die ersten wirklich guten nicht-militärischen Beispiele für virtuelle Realität im Bereich Computerspiele zu finden sein – und dann, mehr als die herkömmlichen Automatenspiele, Anfällige süchtig machen. Die Möglichkeit, einer unbefriedigenden realen Welt zu entfliehen und in einer maßgeschneiderten virtuellen eine Weile glücklich zu sein, ist wohl einfach zu verlockend.

Nach Betrachtung von Klappentext und Inhaltsverzeichnis hatte ich ein Buch erwartet, das sich höchst kritisch mit dieser neuen Technologie auseinandersetzt. Indes beschränkt sich das auf gelegentliche Bemerkungen und Kommentare, die in der banalen Erkenntnis gipfeln, daß die Menschen letztlich selbst verantwortlich dafür sind, was sie tun und wollen.

Insgesamt zeichnen Sherman und Judkins ein sehr euphorisches Bild einer Technologie, die uns das Paradies auf Erden bescheren könne. Ich vermute, daß eher wie üblich der Profit bestimmt, was gemacht wird und was nicht. Da die Menschen erst dann über eine Technologie nachdenken, wenn diese bereits etabliert ist, wird das in diesem Fall kaum anders sein – wenngleich gerade dies die lobenswerte Absicht des Buches ist.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 128
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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