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Viruslast und Therapie


Seit Anfang der neunziger Jahre sind Methoden zur genauen Bestimmung der HIV-Menge im Blut verfügbar. Diese Viruslast-Assays haben nicht nur unser Verständnis des Krankheitsgeschehens während der chronischen Phase grundlegend verändert, sondern auch wesentlich zur Festlegung neuer therapeutischer Prinzipien beigetragen. Gemessen wird dabei direkt die Anzahl RNA-Kopien pro Milliliter Blutplasma. Da jedes HIV-Partikel zwei solcher RNA-Moleküle als Erbgut enthält, beträgt der eigentliche Virusgehalt die Hälfte des RNA-Wertes.

Erstmals ließ sich so zeigen, daß die Replikationsrate von HIV bei unbehandelten Patienten in keiner Phase der Infektion wesentlich abfällt. Vom Zeitpunkt der Ansteckung an werden täglich mehrere Milliarden von Viruspartikeln gebildet, wobei Millionen infizierter Zellen absterben, vor allem T4-Lymphocyten (der Typ von Immunzellen, der von HIV am meisten in Mitleidenschaft gezogen wird). Diese massiven Verluste versucht das Immunsystem fortwährend durch Produktion neuer T4-Zellen auszugleichen, doch erschöpft es sich im Laufe der Zeit und unterliegt letzten Endes.

Meine Kollegen und ich untersuchten 1996 im Rahmen der Multicenter AIDS Cohort Study (MACS) retrospektiv die aufbewahrten Blutproben von etwa 1600 unbehandelten HIV-Infizierten und verglichen die Ergebnisse mit der jeweiligen Krankengeschichte. Je nach Viruslast zum Zeitpunkt der Blutentnahme ergaben sich erhebliche Unterschiede in der Lebenserwartung (Graphik). So starben 70 Prozent der Patienten mit mehr als 30000 RNA-Kopien pro Milliliter innerhalb von sechs Jahren nach Entnahme der getesteten Blutprobe; die mittlere Überlebenszeit lag bei 4,4 Jahren. Hingegen starben im gleichen Zeitraum weniger als ein Prozent der Patienten mit einer Viruslast unter 500 HIV-RNA-Kopien pro Milliliter (Kubikzentimeter); die mittlere Überlebenszeit betrug bei dieser Gruppe über zehn Jahre. Dies belegte eindrücklich, daß die Viruslast das Fortschreiten der Krankheit ganz entscheidend beeinflußt. Zur Verlängerung der Überlebenszeit galt es somit, die virale Replikation so weit und so lange wie möglich zu unterdrücken.

Der Wert dieses Konzeptes hat sich bestätigt. Neue Therapieformen lassen sich dank der Tests jetzt viel schneller und genauer bewerten: Für definitive Aussagen mußten bis dahin noch AIDS-Erkrankungsrate und Mortalität von behandelten Patienten und Vergleichsgruppen oft über Jahre verfolgt werden. Wie mehrere große Studien belegen, zeigen Viruslast-Assays oft schon binnen Wochen verläßlich an, ob eine bestimmte Behandlung das Fortschreiten der Infektion bremst. Senkt sie zum Beispiel die Viruslast um 75 bis 90 Prozent innerhalb von acht bis 24 Wochen, so mindert sich das Risiko der Patienten, innerhalb eines Jahres an AIDS zu erkranken, um 50 bis 65 Prozent. Die Tests haben daher die Bestimmung klinischer Erfolgsraten in Therapiestudien weitgehend abgelöst, und das regelmäßige Überwachen des Viruspegels gehört inzwischen zur medizinischen Routine.

Nach den aktuellen Empfehlungen soll eine Therapie die Viruslast unter die in klinischen Labors übliche Nachweisgrenze von 500 HIV-RNA-Kopien pro Milliliter Blutplasma drücken und dort halten. Ein Überschreiten jedenfalls geht mit der Selektion resistenter Viren und nachfolgendem Therapieversagen einher (siehe Kasten auf Seite 43). Die Ergebnisse neuerer Studien legen jedoch strengere Empfehlungen nahe: Mit sensitiveren Testmethoden, die zur Zeit noch nicht für die klinische Routine verfügbar sind, ließ sich zeigen, daß eine Viruslast unter 50 Kopien pro Milliliter Plasma bessere Gewähr gibt, Resistenzbildung zu unterdrücken. Wahrscheinlich ist erst dann die HIV-Replikation auch anderswo als im Blut wirklich zu unterdrücken – zum Beispiel in Lymphknoten, wo die Replikationsrate höher ist als im Blut. Deshalb sollten meines Erachtens generell Werte unter 50 RNA-Kopien pro Milliliter angestrebt werden, sobald die sensitiveren Testmethoden in der Routinediagnostik einsetzbar sind. Doch teilen nicht alle Kliniker diese Auffassung, unter anderem deshalb, weil so niedrige Werte schwieriger zu erreichen sind – vor allem bei Patienten, deren Ersttherapie versagt hat.

Das nächste große Ziel der Therapieforschung muß sein, HIV in ruhenden T4-Zellen zu eliminieren. Diese teilungsinaktiven Zellen produzieren zwar keine Partikel, enthalten aber das eingebaute Provirus (Bild 1), das jederzeit aktiviert werden kann. Mit den heute verfügbaren Wirkstoffen lassen sich solche HIV-Reservoire nicht angreifen. Zur Entwicklung entsprechender antiretroviraler Therapien und zur Erfolgskontrolle sind daher Testsysteme dringlich, die auch in ruhenden Zellen versteckte Viren genau erfassen. Glücklicherweise sind solche Methoden bereits in Erforschung.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1998, Seite 41
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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