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Vom Glasperlenspiel zur Schlüsseltechnologie - Mathematiker machen mobil

Die Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft wird oft gefordert, doch nicht immer verwirklicht – insbesondere in der Mathematik. Einige neuere Initiativen wie der Arbeitskreis "Mathematik in Forschung und Praxis“ beginnen die Situation zu verbessern.

"Was haben ein Eunuch und ein Mathematiker gemein?" fragte jüngst eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens und fuhr fort: "intime Detailkenntnis und Praxisferne".

In diesem Bild spiegelt sich weitgehend die landläufige Meinung von den Mathematikern. Dies verwundert nicht, denn Knobelecken und Medienberichte über gleichermaßen genialische wie skurrile Forscher waren zumeist die einzigen Quellen, die der Öffentlichkeit Auskunft gaben über deren Tätigkeit.

Indes erkennt eine wachsende Zahl wissenschaftspolitisch engagierter Vertreter dieser Disziplin den Schaden, der ihnen und der Gesellschaft aus ihrem bisherigen Image erwächst. Denn zum einen sind die Zeiten, in denen man zurückgezogen und ohne Rechtfertigungsdruck forschen konnte, vorbei; zum anderen liegen höchst nützliche mathematische Ergebnisse, Strategien und Potentiale weithin brach.


Mathematik als ökonomische Ressource

Gerade im letzten Jahrzehnt ist in vielen technischen und wirtschaftlichen Bereichen ein Bedarf an mathematischen Methoden entstanden. "Doch viele Mathematiker in der akademischen Welt wissen gar nicht, an welchen Problemen in den Schlüsselindustrien unserer Wirtschaft gearbeitet wird", meint der Siemens-Manager Knut Merten. Dabei haben aktuelle Fortschritte den Anwendungsnutzen der Mathematik in der Industrie und im Dienstleistungssektor erheblich erhöht. Umwelt- und Systemforschung, Prozeßleittechnik, rechnerintegrierte Produktion, Logistik und Medizin sind Felder, in denen Mathematik unerläßlich ist. So benötigt man in der Radiologie ein kompliziertes numerisches Verfahren zur inversen Radon-Transformation, um Rohdaten in eine für den Arzt auswertbare computertomographische Aufnahme umzuwandeln.

Es steht jedoch nicht gut um den Anschluß der Mathematik an die Dynamik der Industrie- und Informationsgesellschaft. Viel zu lange haben sich die Mathematiker mit esoterischem Gebaren sowie einer Kombination aus Schüchternheit und Verzweckungsfurcht den Weg aus dem Elfenbeinturm in das Wirtschaftsleben versperrt. "Wir benötigen Mathematik, doch brauchen wir dazu wirklich Mathematiker?" gibt Merten die Bedenken der Industrie wieder, deren Manager lieber mit Ingenieuren und – inzwischen auch – Informatikern umgehen.

Vergleich mit dem Ausland

In einigen Ländern haben die Mathematiker ihre Scheu vor Publizität überwunden und sind mit lauten Bekenntnissen zur kulturellen, technologischen und ökonomischen Bedeutung ihres Faches ins Rampenlicht getreten. Das fällt gerade in einer so stillen und unanschaulichen Disziplin schwerer als in solchen, die Handgreiflicheres hervorbringen. Mit einem offensiveren Marketing wollen nun einige Vertreter dieser scientific community das überkommene Bild ihrer Zunft verändern und ihre Regierungen zu mehr Unterstützung bewegen.

Besonders viel Anerkennung erlangte der sogenannte David-Report, der 1984 unter Leitung des Chemikers Edward E. David jr., des damaligen Präsidenten von Exxon Research and Engineering und Vorsitzenden einer Kommission der amerikanischen National Science Foundation, verfaßt wurde. Dieser Bericht schätzte die finanzielle Situation der Mathematik in den USA als prekär ein, insbesondere in bezug auf die internationale wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Nation. Zugleich rügte David die wissenschaftspolitischen Akteure: "Offensichtlich erkennen zu wenige, daß die 'Hochtechnologie', die heute so gefeiert wird, im wesentlichen mathematische Technologie ist." Freilich schließt diese Kritik auch die Mathematiker selbst ein.

Die staatliche Förderung des Faches in den Vereinigten Staaten stieg von 1984 bis 1987 (inflationsbereinigt) um 24 Prozent. Das geht aus der internationalen Untersuchung "Investing in the Future" hervor, die von der National Science Foundation und dem britischen Advisory Board for the Research Councils in Auftrag gegeben wurde. Diese deutliche Zunahme ist sicherlich zum großen Teil auf den David-Report und den Lobbyismus in seinem Umfeld zurückzuführen. In Frankreich erhöhte sich das Mathematik-Budget des Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) von 1988 bis 1989 um 16 Prozent. Offensichtlich hat auch dort die nachdrückliche Öffentlichkeitsarbeit der Mathematiker ihre Wirkung auf die Politik nicht verfehlt.


Entwicklungen in Deutschland

In der Bundesrepublik stieß das Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf in eine Kommunikationslücke zwischen Hochschulen und Wirtschaft, als es 1990 einen bundesweiten Arbeitskreis "Mathematik in Forschung und Praxis" gründete. Mittlerweile gehören mehr als 500 Spezialisten aus verschiedenen Disziplinen zum Umfeld dieses Forums.

Der Arbeitskreis operiert an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischer Umsetzung. In regelmäßigen Symposien sowie in öffentlichen Veranstaltungen und Messebeteiligungen werden Informationen ausgetauscht, Entwicklungs- und Anwendungsmöglichkeiten erörtert, Kooperationen initiiert und der Wandel der Mathematik als Wissenschaft diskutiert. Hier findet ein interdisziplinäres Gespräch statt, das Wissenschaft, Wirtschaft, Administration, forschungsfördernde Institutionen und die Medien einschließt. Seit 1994 führt das nordrhein-westfälische Ministerium für Wissenschaft und Forschung diese Initiative fort; es finanziert die Koordinationsstelle des Arbeitskreises, die an der Universität-Gesamthochschule Duisburg angesiedelt wurde.

Im Jahre 1993 legte das Bundesministerium für Forschung und Technologie ein Programm zur anwendungsorientierten Mathematik auf. Die Resonanz war groß: Etwa 250 Anträge wurden gestellt. Nur 55 Projekte jedoch können mit den Mitteln von 23 Millionen Mark (bis 1996) finanziert werden.

Gleichwohl suchen hierzulande noch zu wenige Mathematiker ihr Fach vom Stigma der Praxisferne und Bedeutungslosigkeit zu befreien. In den USA stellen sich die mathematischen Fachgesellschaften bereitwilliger den Anforderungen und gehen in ihrer Öffentlichkeitsarbeit deutlich professioneller vor; sie werden dabei vom Joint Policy Board of Mathematics (JPBM) unterstützt. Viel Beachtung findet beispielsweise die alljährliche nationale Mathematics Awareness Week, die 1984 der damalige Präsident Ronald Reagan proklamiert hatte.

Die hiesige Standesvertretung, die Deutsche Mathematiker-Vereinigung, hat sich über Jahrzehnte fast ausschließlich als ein Forum der Hochschulmathematik verstanden. Zwar gab es in den letzten zwei Jahren unter dem Präsidenten Martin Grötschel den Versuch einer Öffnung; doch die Mitgliederzahlen zeigen, wie schwierig dies ist. Der Geschäftsführerin Anneliese Bertholdt zufolge sind von den 2850 Mitgliedern lediglich etwa 50 dem Bereich Industrie und Wirtschaft zuzuordnen.

In Deutschland ist ein den ausländischen Studien entsprechender Situationsbericht längst überfällig. Zwar hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft seit einigen Jahren signalisiert, daß sie eine derartige Denkschrift finanziell unterstützen würde; doch haben Eifersüchteleien und Bedenkenträger innerhalb der Mathematik selbst bislang verhindert, daß eine solche Dokumentation mit Leitliniencharakter zustande kam.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 123
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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