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Vom Meditations- zum CAD-Bild: Konstruktionssoftware in der Religionswissenschaft

Die Kombination religiöser Texte und Bilder des tibetischen Buddhismus mittels CAD-Programmen ergibt räumliche Computerdarstellungen, die neue Einblicke und Analysemöglichkeiten erlauben.


Trotz der Zerstörung von Klöstern, der Flucht oder Vertreibung von geistlichen Würdenträgern während der chinesischen Kulturrevolution und der folgenden Überfremdung ist die landesspezifische Form des Buddhismus in Tibet – und im indischen und nepalischen Exil – sehr lebendig. Für den Ethnologen und den Religionswissenschaftler hat sie einen besonderen Reiz, denn darin verschmolz eine der großen Weltreligionen mit den Vorstellungswelten des Yoga und des Bon, einer alten Religion Tibets. Seine Analysen und Vergleiche basieren auf religiösen Texten, aber auch auf bildlichen Darstellungen. Beide lassen sich aber oft nur schwer zur Deckung bringen. Wir versuchten deshalb einen neuen Weg mittels moderner Computertechnik zu gehen – in den Geisteswissenschaften ein noch eher ungewöhnliches Unterfangen.

Das Ziel des tantrischen Buddhismus – einer Spezialform, wie sie von Tibetern praktiziert wird – besteht in der Realisierung der Buddhaschaft in sich selbst. Dazu bedient sich der Gläubige einer besonderen Praktik, der sogenannten Visualisierung einer Gottheit, die als Lichtgestalt vorgestellt wird. Die meditierende Person versucht eins mit der betreffenden Gottheit zu werden, das bedeutet, ihren Körper, ihre Sprache und ihren Geist einzunehmen.

Die Buddhaschaft ist äußerst komplex. Sie beinhaltet sowohl das Friedvolle wie das Zornvolle, das Weibliche wie das Männliche, Weisheit wie auch Mitgefühl. Da eine einzige Gottheit nicht alle diese Aspekte repräsentieren kann, identifiziert sich die meditierende Person in der Regel nicht nur mit einer Gottheit, sondern nacheinander mit mehreren. Dadurch nähert sie sich stufenweise dem angestrebten Zustand der vollkommenen Erleuchtung oder Buddhaschaft.

Was der Meditierende vor dem geistigen Auge erstehen lassen soll – die Gottheit mit ihrer meist spezifischen Kleidung, Körperhaltung und Gestik, aber auch ihr Umfeld – beschreiben religiöse Texte. Bildliche Darstellungen erleichtern die Umsetzung der oft komplexen Szenerie.

Eine besonders anspruchsvolle Form derartiger Meditationsbilder sind sogenannte Mandalas, die mehrere Gottheiten gleichzeitig zeigen. Der Aufbau spiegelt nicht nur das theozentrische Weltbild wider, sondern findet auch in der Vorstellung vom Menschen als geistig-materielles Wesen seine Entsprechung.

Die Grundform besteht aus konzentrischen Kreisen, die für Bereiche der materiellen Welt stehen. Sie umschließen ein Quadrat, dessen Seiten durch jeweils eine T-förmige Ausformung unterbrochen werden. Dies sind Eingangstore, denn das Quadrat repräsentiert den Grundriß eines Palastes, in dem sich die Gottheiten aufhalten.

Als Beispiel für einen solchen religiösen Kanon konzentrierten wir uns auf das sogenannte Kâlacakra-Tantra. Es beschreibt ein Weltbild, dessen Wurzeln in das 5. Jahrhundert zurückreichen. Demnach baut sich die Welt aus verschiedenen, aufeinanderliegenden und nach innen kleiner werdenden Scheiben auf. Die innerste und höchste repräsentiert die Erde; darauf erhebt sich der von einem Ozean umspülte Weltenberg Meru, auf dessen Spitze ein Mandala liegt.

Die unterste Scheibe hat einen Durchmesser von umgerechnet sechs Millionen Kilometern (die Angaben erfolgten in Yojanas, einer alt-indischen Maßeinheit). Nach Auffassung der Tibeter existiert der Kosmos jedoch nicht nur aus einem einzigen solchen Weltensystem; die Texte sprechen von einer Milliarde (ausgedrückt als Tausend mal Tausend mal Tausend.)

Sind nun schon die schriftlichen Beschreibungen schwer zu interpretieren und zu veranschaulichen, lassen sich auch Mandalas für den Wissenschaftler nur schwer deuten, nicht nur wegen der fehlenden Maßstabstreue, sondern auch aufgrund ungewohnter Perspektiven: So werden in ein- und demselben Bild einige Bereiche von oben, andere von der Seite dargestellt; eine räumliche Perspektive wie in der westlichen Malerei seit der Renaissance ist den traditionellen tibetischen Künstlern unbekannt. Überdies scheinen bildliche Umsetzungen religiöser Texte auch nicht immer fehlerfrei, wie wir bei einem Vergleich feststellten.

Deshalb verknüpften wir die schriftlichen, zum Teil auch mündlichen Beschreibungen und die Dimensionen eines von uns sehr genau vermessenen Mandala mit Hilfe eines CAD-Programms, das dreidimensionales Zeichnen erlaubte. Zunächst entstanden räumliche Drahtgittermodelle, denen Eigenschaften der darzustellenden Materialien – wie Farben und Transparenz, anschließend Texturen wie der regenbogenfarbene Schimmer der gläsernen Schutzmauern des Palastes – zugeordnet wurden. Virtuelle Lichtquellen vermittelten schließlich den räumlichen Eindruck.

Das Resultat waren maßgetreue Modelle des Kosmos und des Mandalapalastes. Sie waren den sprachlichen Beschreibungen bei weitem überlegen: Detailinformationen bezüglich Größe, Abstand, Form von Linien, Flächen und Körpern ergaben ein facettenreiches Gesamtbild, das nach Belieben wieder aufgeschlüsselt oder aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden konnte.

So wurden auch Zusammenhänge etwa zwischen Mensch und Kosmos in der Glaubenswelt der Tibeter deutlich, die zwar in den Texten beschrieben sind, sich jedoch kaum vorstellen ließen. Bei der Analyse der in den schriftlichen Quellen erwähnten Korrelationen zwischen Kosmos, Mensch und Mandalapalast zeigten sich auch bislang nicht beschriebene.

Unseres Erachtens erlaubt das Projekt aber nicht nur tiefe Einblicke in die besondere Visualisationsmethode des tibetischen Buddhismus; es macht auch deutlich, daß sich die Geistes- und Religionswissenschaften einer visuellen Sprache bedienen können, um Ideen, Konzepte und Beziehungen aufzuzeigen, zumal sich damit Informationen manchmal direkter und eindeutiger vermitteln lassen als durch Schriftzeichen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1999, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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