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Bioterrorismus: Vorbereitung mit Vernunft

Wie andere Staaten auch, wappnet sich Deutschland gegen bioterroristische Anschläge. An den Vorsorgemaßnahmen ist das Robert Koch-Institut in Berlin maßgeblich beteiligt.


Vor gut zwanzig Jahren atmete die Welt erleichtert auf: Die Pockenkrankheit war besiegt. Über viele Jahrhunderte hatten Pockenviren weltweit Epidemien mit hoher Sterblichkeitsrate verursacht. Die letzte Erkrankung "im Feld" hatte es 1977 in Somalia gegeben; der letzte Pockenfall in Deutschland war 1972 zu verzeichnen gewesen. In der Bundesrepublik wurde die Impfpflicht gegen Pocken 1976 aufgehoben, vier Jahre später auch in der dama­ligen DDR. Restbestände an Pockenviren befinden sich offiziell nur noch in zwei Hochsicherheitslaboratorien in den USA und in Russland, wo sie zu Forschungszwecken verwahrt werden.

Inzwischen lässt sich jedoch nicht mehr völlig ausschließen, dass es auch außerhalb dieser beiden offiziellen Lagerstätten Pockenviren gibt. Die Wahrscheinlichkeit einer bewussten Freisetzung ist zwar äußerst gering, aber sie ist nicht null. Ein solcher bioterroristischer Akt wäre aus seuchenhygienischer Sicht der größte anzunehmende Unfall: Die Pockenerreger sind – überwiegend durch Tröpfcheninfektion – auf andere Menschen übertragbar, es gibt nach wie vor keine Therapie, und in der Vergangenheit starben etwa ein Drittel der Infizierten. Deshalb hat die Vorbereitung auf einen solchen Fall trotz seiner geringen Eintrittswahrscheinlichkeit einen überaus hohen Stellenwert.

Um Vorsorge gegen bioterroristische Anschläge zu treffen, sie gegebenenfalls rasch zu erkennen und geeignet reagieren zu können, ist eine koordinierte Zusammenarbeit der Bundes- und Landesbehörden im Bereich Gesundheit, Katastrophen- und Zivilschutz sowie der Forschungsinstitute erforderlich. Hierbei kommt dem Robert Koch-Institut in Berlin als zentrale Forschungseinrichtung des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten eine zentrale Rolle zu: Ein Zentrum für Biologische Sicherheit entwickelt Verfahren zur schnellen Diagnostik hochpathogener Viren, Bakterien, Pilze und Toxine. Des Weiteren wirkt das Zentrum als zentrale Informationsstelle, um Öffentlichkeit und Fachöffentlichkeit auf dem Gebiet der Bioterrorismus-Abwehr zu informieren sowie Konzepte zu initiieren und wenn nötig zu koordinieren.

So wurden gemeinsam mit BMGS, Bundesländern und Fachkreisen Szenarien diskutiert und ein Rahmenkonzept für Pockenschutzimpfungen entwickelt. Die vorgeschlagene Impfstrategie orientiert sich an einem Phasenmodell, das Risiko und Nutzen der Impfung berücksichtigt:

- Phase1: kein einziger Pockenfall weltweit, also der heutige Zustand,

- Phase2: ein erster Pockenfall weltweit,

- Phase3: ein erster Pockenfall in Deutschland.

In der ersten Phase, die der aktuellen Situation entspricht, müssen insbesondere die Bundesländer logistische und organisatorische Vorbereitungen für die beiden anderen Phasen treffen. Es wird darüber diskutiert, ob bereits in Phase 1 das Personal der fünf besonderen Behandlungszentren in Berlin, Hamburg, Leipzig, Frankfurt und München geimpft werden sollte. Diese Zentren wurden vor einigen Jahren für die Behandlung hochansteckender Erkrankungen wie Lassa- oder Gelbfieber eingerichtet und würden im Falle eines Pockenausbruchs besonders beansprucht.

Impfung in kürzester Zeit

Deutschland ist in der glücklichen Lage, bereits jetzt über mehr als fünfzig Millionen Dosen Impfstoff zu verfügen, was für großflächige Abriegelungsimpfungen reichen würde. So könnte man versuchen, die Ausbreitung des Erregers zu verhindern. Bis Ende 2003 wird dieser Vorrat auf hundert Millionen Dosen aufgestockt, um im Notfall jeden Einwohner impfen zu können. Durch die Initiative des BMGS waren die ersten Impfdosen bereits im Herbst 2001 beschafft worden. Allerdings hat die Vakzine derzeit keine Zulassung (es gibt im Moment weltweit keinen einzigen zugelassenen Pockenimpfstoff). Der Impfstoff enthält ein mit dem Pockenvirus verwandtes, abgeschwächtes Virus, das so genannte Vaccinia-Virus. Es handelt sich hierbei um den Lister-Elstree-Stamm – die Vakzine, die ihre Wirksamkeit bereits bei der Ausrottung der Pocken belegt hat.

Allerdings stehen der Wirksamkeit des Pocken­impfstoffs unerwünschte Nebenwirkungen gegenüber, deren Rate im Vergleich zu den anderen gegenwärtig empfohlenen Impfungen beträchtlich ist. Pro einer Million Impflingen muss man mit tausend behandlungsbedürftigen Erkrankungen rechnen, etwa dreißig Dauerschäden und ein bis zwei Todesfällen. Diese Nebenwirkungen sind nur dann vertretbar, wenn tatsächlich die Gefahr einer Pockeninfektion besteht. Ob die US-Regierung die Schutzimpfung wirklich wie angekündigt im Jahre 2004 der breiten Bevölkerung anbieten wird, bleibt abzuwarten.

In Phase 2 müssten medizinisches Personal und ausgewählte Berufsgruppen, die zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens erforderlich sind, geimpft werden. In Phase 3 stünden umfangreiche Abriegelungsimpfungen oder sogar Massenimpfungen an. Eine Pflichtimpfung wäre auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes (§ 20, Abs. 6 oder 7) denkbar.

Wichtig ist, dass die Vorbereitungen in Phase 1 so rasch wie möglich abgeschlossen und die Voraussetzungen geschaffen werden, die Impfungen in Phase 2 und 3 innerhalb kürzester Zeit durchführen zu können. Denn eine Impfung kann noch wirksamen Schutz bieten, wenn sie innerhalb von vier Tagen nach Pockenexposition durchgeführt wird. Zudem wäre auf Grund der zu erwartenden Unruhe in der Bevölkerung ein rasches Handeln erforderlich. Bisherige Erfahrungen mit Massenimpfungen zeigen, dass in einer gut organisierten Impfstätte etwa 5000 Personen pro Tag geimpft werden können. Für die Bundesrepublik Deutschland sind deshalb mehr als 3000 Impfstätten einzuplanen.

Der rechtzeitigen Erkennung eines bio­terroristischen Angriffs kommt besondere Bedeutung zu. Betroffene müssen möglichst rasch zielgerichtet medizinisch versorgt werden. Außerdem gilt es, die weitere Verbreitung des Erregers oder Toxins möglichst schnell zu unterbinden oder weitestmöglich einzuschränken. Hinzu kommt in solchen Fällen, dass Entscheidungsträger und Öffentlichkeit frühzeitig informiert werden müssen, um geeignete Maßnahmen zu ergreifen beziehungsweise Panik zu vermeiden. Deshalb arbeitet die Forschung mit Hochdruck an der Weiterentwicklung der schnellen und sicheren Diagnostik der relevanten Erreger.

Ein Problem hierbei: Im klinischen Bild lassen sich Menschenpocken nicht von den weniger gefährlichen Affenpocken unterscheiden, die gelegentlich noch in Zentralafrika auftreten. Auch bei Windpocken, die durch das zu den Herpes-Viren zählende Varizella-Zoster-Virus verursacht werden, entstehen Bläschen auf der Haut. Unerfahrene Ärzte könnten hierbei an ­Pocken denken. Zwar zeigen Pockenbläschen – im Gegensatz zu den Windpocken – alle den gleichen Entwicklungsstand und verteilen sich im Gesicht und an den oberen Gliedmaßen von innen nach außen. Doch nur eine schnelle und zuverlässige Labordiagnostik würde bei Verdacht auf ­einen bioterroristischen Hintergrund die rasch notwendige Information liefern.

Rascher Nachweis des Erregers ist entscheidend

Mit der Diagnostik von Pockenviren hat sich eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe befasst. Diese Gruppe hat einige Laboratorien vorgeschlagen, darunter das Robert Koch-Institut, die eine diagnostische Orientierungsuntersuchung auf Pocken unter den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen (der so genannten Schutzstufe 3) durchführen können. Im Falle eines Verdachts würde in einem ersten Schritt Probenmaterial – entweder einem Patienten oder der Umwelt entnommen – inaktiviert und fixiert. Die nachfolgende elektronenmikroskopische Untersuchung würde klären, ob überhaupt Viren der Orthopockenvirusgruppe vorliegen. Zu den Orthopocken zählen neben den Menschenpocken (Variola) auch Affen-, Kuh- oder Kamelpocken, aber auch Vaccinia, sodass im Elektronenmikroskop nicht zwischen Impfvirus und Pockenerreger unterschieden werden könnte.

Für eine weitere Differenzierung eignet sich die Polymerasekettenreaktion (PCR). Mit diesem Verfahren lassen sich geringste Mengen des Erbmoleküls DNA rasch vervielfältigen, sodass ein schneller erregerspezifischer Nachweis möglich ist. Dazu wird die Probe mit einem speziellen salzhaltigen Puffer behandelt, der umhüllte Viren und Zellen sofort inaktiviert und die DNA freisetzt. Mit spezifischen Nachweissystemen lassen sich unterschiedliche Gene der Orthopockenviren als Zielsequenzen verwenden. Damit kann zum Beispiel das Variola-Virus von den anderen Orthopocken­viren unterschieden werden. Die Aufreinigung der DNA und die PCR nehmen etwa acht Stunden in Anspruch. Zur Qualitätssicherung organisiert das Robert Koch-Institut Ringversuche.

Der Nachweis von Variola-Viren in Patientenproben würde die klinische Diagnose Pocken bestätigen. Gäbe es bei anderen Proben – zum Beispiel in einem Labor gefundene verdächtige Substanzen – nach einer positiven PCR einen begründeten Verdacht auf Variola-Viren, so müsste deren Vorhandensein anhand ihrer Vermehrungsfähigkeit nachgewiesen werden. Dies geschähe durch Anzucht in Zellkultur und nachfolgende PCR einschließlich Sequenzierung und Stammbaumanalyse. Die Anzucht von Pockenviren muss aus nicht-inaktivierten Materialien erfolgen und ist nur in Laboratorien der höchsten Sicherheitsstufe 4 möglich. Zurzeit gibt es in Deutschland nur zwei Labors dieser Sicherheitsstufe: eines in Hamburg und eines in Marburg. Ein weiteres im Robert Koch-Institut in Berlin ist in Planung.

Die finanziellen Mittel, welche die USA für die Bioterrorismus-Abwehr be­reitgestellt haben, übertreffen bei weitem die entsprechenden Mittel der europäischen Länder. Auch in der Bundesrepublik sollten ausreichend dotierte und evaluierte Forschungsprogramme auf diesem Gebiet etabliert werden, um Anschluss an internationale Entwicklungen zu halten, zum Beispiel auf dem Gebiet neuartiger Impfstoffe oder der Biowaffen-Detektoren.

Außer dem Variola-Virus gibt es noch eine Reihe anderer Erreger, mit denen bei einem bioterroristischen Anschlag zu rechnen wäre. Nach einer Einteilung der amerikanischen Infektionsschutzbehörde Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta sind dies biologische Agenzien der Kategorie A. Dazu zählen solche Erreger und biologische Giftstoffe, die sich leicht ausbringen lassen oder leicht von Mensch zu Mensch übertragen werden und die wegen ihrer hohen Morbidität und Letalität schwer wiegende Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben können: Neben dem Variola-Virus sind dies Bacillus anthracis (Milzbrand), Yersinia pestis (Pest), Francisella tularensis (Tularämie) und ­Botulinustoxin. Das Robert Koch-Institut führt nicht nur an diesen Erregern und Toxinen der Kategorie A diagnostische Arbeiten durch, sondern auch an weiteren, die von der Weltgesundheitsorganisation als besonders geeignet für bioterroristische Anschläge angesehen werden. Zu diesem "dreckigen Dutzend" zählen zum Beispiel die Erreger von Brucellose und Q-Fieber oder die Toxine Rizin und Enterotoxin B.

Optimismus ist kein Ersatz

Ein erstes sichtbares Zeichen für einen bioterroristischen Anschlag kann das gehäufte Auftreten ungewöhnlicher oder gleichartiger Symptome sein. Das Zentrum für Infektionsepidemiologie des Robert Koch-Instituts koordiniert bundesweit das Meldewesen nach dem Infektionsschutzgesetz und führt die zentrale Datenbank der meldepflichtigen Infektionskrankheiten. Die Online-Vernetzung mit den Landesgesundheitsbehörden und den 430 Gesundheitsämtern der Bundesrepublik Deutschland und eine tägliche 24-Stunden-Rufbereitschaft ermöglichen, im Seuchen- oder Verdachtsfall entsprechend schnell zu reagieren. Zum Beispiel stehen Teams von Epidemiologen bereit, die auf Anfrage der Bundesländer vor Ort bei der Aufklärung helfen können. Das Robert Koch-Institut ist auch Ansprechpartner für Deutschland im Frühwarnsystem der Europäischen Union und wirkt in den europäischen Programmen zur Überwachung spezieller Infektionskrankheiten mit.

Das Robert Koch-Institut stellt in erster Linie Expertenwissen zur Verfügung und kann darüber hinaus im Rahmen seiner Aufgaben im Bund-Länder-Informationsverfahren nach dem Infektionsschutzgesetz koordinierende Aufgaben übernehmen. Die Handlungskompetenz liegt nach dem Grundgesetz bei den Ländern und Kommunen, beim Bund nur im Falle einer äußeren Bedrohung. Die in Zukunft möglicherweise auf Deutschland zukommenden Probleme können daher nur gemeinsam gelöst werden. Aber auch wenn die Hoffnung groß ist, dass die Pocken ausgerottet bleiben, gilt: Optimismus ist kein Ersatz für die nötige Vorbereitung.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2003, Seite 92
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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