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Vorlesungen auf der Datenautobahn: Schöne neue Uni-Welt?

Internet, Multimedia- und Netzwerktechnologie halten Einzug in Deutschlands Hörsälen. So mancher Student hört bereits seine Vorlesungen am heimischen PC. An vielen Universitäten ist eine deutliche Aufbruchstimmung ins Informationszeitalter zu verspüren. Die Vision „Virtuelle Universität“ ist in greifbare Nähe gerückt.


An einem Freitagnachmittag in der Universität Regensburg: Rund 30 Studenten der Wirtschaftsinformatik lauschen einer englischsprachigen Vorlesung. Ihr Dozent ist Frank Galuppo, US-Topmanager bei Lucent Technologies Deutschland. Während er seinen Vortrag hält, skizziert er Diagramme an die Tafel und legt Folien auf den Overhead-Projektor. Manchmal hebt einer der Studenten die Hand: eine Frage. Dann leuchtet vor Galuppo ein rotes Lämpchen auf. Denn der Dozent steht gar nicht vorne am Pult im Regensburger Hörsaal. Frank Galuppo doziert in einem Hörsaal der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) in Nürnberg, umringt von fest installierten Minikameras an der Wand, Deckenmikrofonen und Videobeamern. Hierher wird der Regensburger Student live in Bild und Ton herübergestellt. Er fragt, Galuppo antwortet. Gleichzeitig hören Studenten der Wirtschaftsinformatik an drei bayerischen Universitäten – Erlangen, Regensburg, Bamberg – zu. Per Audio- und Videobreitbandübertragung sind sie zugeschaltet: Ob Dozent, Tafelbild oder Folien, alles ist detailgenau auf verschiedenen Leinwänden zu sehen.

Eine völlig neue Uni-Welt tut sich hier auf. Zusammen mit Professor Freimut Bodendorf, Inhaber des Lehrstuhls Wirtschaftsinformatik II an der FAU, mit dem er sich das Semester teilt, hat Galuppo einen Weg gefunden, seine Praxiskenntnisse mit der universitären Lehre zu verbinden: Der vielbeschäftigte Manager doziert an mehreren Unis gleichzeitig. Die virtuelle Universität Erlangen/Nürnberg befindet sich derzeit in einem Stadium zwischen Projektphase und Übernahme in den Regelbetrieb der Hochschule.

Auslöser für die Überlegungen Bodendorfs war die Aufteilung der FAU auf die Städte Nürnberg und Erlangen. Zwar sind diese Städte nicht weit voneinander entfernt, doch die ständigen Fahrten machten eine sinnvolle Wocheneinteilung schwierig. Die Lösung lag für Bodendorf in der Nutzung von Computer- und Netzwerktechnologie. 1995 startete der Wirtschaftsinformatiker sein Pilotprojekt. In der Pionierzeit sah alles noch ganz anders aus: Handkameras auf Stativen standen zwischen den Studenten. Die Kameras und Mikrofone waren mit einem Kommunikationsschaltpult verbunden, das zusätzlich von einer Hilfskraft bedient werden mußte. So konnte die audiovisuelle Übertragung zwischen Erlangen und Nürnberg in beide Richtungen gesteuert werden. Christian Langenbach, Bodendorfs Assistent, erinnert sich: "Damals mußten wir noch nach jeder Veranstaltung das Equipment wieder komplett abbauen".

Technische Quantensprünge folgten. Spätestens seit dem Start des bundesweiten Breitband-Wissenschaftsnetzes (B-WiN) auf der CeBit 1996 sind der virtuellen Universität in Deutschland kaum noch technische Grenzen gesetzt. Anfangsschwierigkeiten wie die Instabilität der Übertragung sind inzwischen ausgeräumt. Optimiert wurden die Live-Vorlesungen durch den Einsatz der ATM-Technologie (siehe Kasten). Bild und Sprache kommen nun in gewohnter Fernsehqualität auf den Leinwänden an. Auch können bei ATM einzelnen Datenpaketen unterschiedliche Prioritätsstufen für die Übertragung eingeräumt werden. Eilige Daten überholen also wie auf einer mehrspurigen Autobahn langsamere.

"Vom technischen Standard des B-WiN und seinen Möglichkeiten her braucht sich Deutschland hinter keinem der klassischen ‚Distance education countries' (Australien, USA, Kanada und die skandinavischen Staaten) zu verstecken", sagt Christian Langenbach. Von Anfang an wollte das Lehrstuhl-team stets höchsten Qualitätsansprüchen gerecht werden. Das Angebot der "Virtuellen Universität" beinhaltet die Nachbearbeitung der Veranstaltungen als Video-on-Demand, abrufbar vom Uni-Server. Dazu gehören auch die preisgekrönten "Multimedialen Teachwarepakete", die übers Internet zur Verfügung gestellt werden. Jedes Paket besteht neben wichtigen audiovisuellen Passagen einer Vorlesung aus digitalisierten Tafelbildern, Overheadfolien, Computeranimationen, Skript- und Lehrbuchauszügen sowie Übungsaufgaben. Der Student lädt dabei immer nur den jeweils benötigten Abschnitt vom Internet, so werden die einzelnen Wartezeiten nicht zu lang. Wichtig für das Teachware-Konzept, so Langenbach, sind die interaktiven Elemente, wie Dialogkomponenten und Lernfortschrittskontrollen: "So kann das Gelernte unmittelbar angewendet werden."

Angesichts der großen Vielfalt von virtuellen Seminaren oder gar Universitäten sollen hier nur einige weitere beispielhafte Ansätze vorgestellt werden:

- Eine technisch relativ einfache Variante bietet das virtuelle Seminar des Projekts "Kooperatives Arbeiten und Lernen an der Hochschule". Seit Mitte 1995 findet es an der Pädagogischen Fakultät der Universität München statt. Die Teilnehmer brauchen lediglich einen Internetzugang, um auf die Seminar-Homepage zu gelangen, sowie einen E-Mail-Account, um mit den Kommilitonen zu kommunizieren. Projektleiter Nic Nistor erklärt: "Unser Forschungsobjekt ist das Seminar selbst, seine Möglichkeiten und Auswirkungen". Die Münchner Teilnehmer treffen sich nur einmal zu Beginn des Semesters. Darüber hinaus sind Studenten der Uni Regensburg angeschlossen und sogar einer aus Südafrika.

- An der Uni Leipzig findet das "Virtuelle Praktikum Technische Chemie" über Internet statt. Studenten können hier Versuche verfolgen und zum Teil selbst durchführen. Bei der Temperaturmessungen können über Datenleitung beispielsweise Parameter verändert und deren Auswirkungen getestet werden. Auf Animationsseiten wird die Funktionsweise des Stirling- oder des Ottomotors demonstriert. Projektleiter Stephan Moros sieht viele Vorteile: "Einerseits können Studenten den Lernstoff anschaulich nachbereiten, andererseits lassen sich Versuche, die entweder zeitlich oder wegen ihres Gefahrenpotentials nicht durchzuführen wären, mit Leichtigkeit simulieren".

- Ungewöhnlich ist ein Projektzusammenschluß der Universitäten Mannheim, Freiburg, Heidelberg und Karlsruhe zur "Virtuellen Hochschule Oberrhein" (VIROR). VIROR wird vom Land Baden-Württemberg sowie sieben Sponsoren unterstützt. Startschuß war Mitte 1998. Inzwischen gibt es zwei Informatikvorlesungen, die von Mannheim aus live an die anderen Unis übertragen werden. VIROR-Sprecher Paul Kandzia kann nach sechs Monaten Laufzeit erst eine Zwischenbilanz ziehen: "VIROR ist ein Konglomerat von ehemaligen Einzelinitiativen. Wir haben zwar ein Konzept für den Ausbau zur virtuellen Uni, doch gilt es noch viele organisatorische und administrative Hürden zu nehmen". Nicht zuletzt die Einführung eines Systems, auf dessen Grundlage der Student mit Leistungsnachweisen von vier verschiedenen Unis seine Prüfungsberechtigung dokumentieren kann. "Unser Fernziel ist ein VIROR-Diplom", so Kandzia. 2001 soll das Projekt neu evaluiert werden.


ADSL – die Auffahrt zur Datenautobahn



Die Westfälische Wilhelms-Universität Münster bietet rund hundert Studenten einen Service ganz neuer Art. Seit November 1997 sind sie mit der Netzzugangstechnik ADSL (Asymmetric Digital Subscriber Line) ausgestattet. Siemens und die Deutsche Telekom haben das Projekt technisch realisiert. Die Besonderheit von ADSL ist, daß die Daten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in Richtung Teilnehmer und in die Gegenrichtung übermittelt werden (deshalb "asymmetrisch"). Die maximale Übertragungsrate hängt dabei von der Entfernung zwischen Endkunde und Vermittlungsstelle und von der Leitungsqualität ab. Eine breitbandige Übertragung (bis 8 Megabit/s) ist im allgemeinen nur bis zwei Kilometer Distanz zu erreichen. In Münster betragen die Raten maximal 1,5 Megabit/s aus dem Netz und 128 Kilobit/s in die Gegenrichtung – also in Richtung zum Teilnehmer über 20mal schneller als ISDN (64 kBit/s), vollkommen ausreichend für eine bildschirmfüllende Live-Videoübertragung. Da ADSL das herkömmliche Kupferkabelnetz nutzt, mußten keine eigenen Glasfaserleitungen verlegt werden. Wie bei ISDN kann der Teilnehmer zudem gleichzeitig Daten empfangen und telephonieren. Hierzu trennt ein sogenannter "Splitter" vor dem PC die Daten und die Sprache.

Einige Medizinstudenten in Münster erlebten die virtuelle Uni in perfekter Form 1998 als Teilnehmer des weltweit ersten interaktiven Online-Mikroskopierkurses. Während ihre Kommilitonen im Hörsaal dem Dozenten lauschten und ihre Aufgaben am Übungsgerät nachvollzogen, konnten sie vom heimischen PC aus alles verfolgen und an geliehenen Mikroskopen ebenso ihre Übungen durchführen. Verbunden über eine "Chatline" konnten sie Rückfragen an einen Assistenten im Saal stellen. Student Christoph Schülke: "Wir fühlten uns sogar intensiver betreut als die Kollegen im Hörsaal".

Inzwischen sind alle Appartments eines Studentenwohnheims mit ADSL ausgestattet, was viele Vorteile bietet:

- Abruf von Vorlesungen (Content Provider sind die Nürnberger Wirtschaftsinformatiker),

- eine Operation am offenen Herzen als Video-on-Demand,

- allgemeiner Zugriff auf den Uniserver inklusive Online-Bibliothek und etlichen Tutorien,

- blitzschneller Internetzugang, oder auch nur

- Kinofilm-Previews und Personal-Homepages.

Nach dem Vorbild von Münster wird auch in Nürnberg zur Zeit ein Studentenwohnheim über ADSL angebunden. Ab Mitte 1999 werden die ersten von vorerst 70000 offiziellen ADSL-Lines in Deutschland ans Netz gehen – zunächst vorwiegend jedoch für klein- und mittelständische Unternehmen.

Ende der 80er brachte die US-Forscherin Faith Popcorn das Schlagwort "Cocooning" auf – den Rückzug des Individuums in seine eigenen vier Wände. Aufwachsen, Lernen, Leben und Arbeiten würden sich demnach künftig immer stärker zu Hause abspielen. Die rasant wachsende Computerwelt lasse den Menschen in eine Anonymität abgleiten, in der er in zunehmendem Maße sein Leben in den virtuellen Raum verlege. Auch manche Studenten befürchten, daß eine virtuelle Uni zu sozialer Verarmung führen könnte.

Doch in einem stimmen alle Projektleiter überein: Niemand will den universitären Betrieb abschaffen. Bodendorf hält ein engagiertes Plädoyer für eine Kombination: "Wir wollen nicht die Quantität des Lehrangebots aufblähen, sondern dessen Qualität erhöhen. Kaum ein Professor kann alle Teilbereiche seines Faches gleich gut im Wandel der Zeit verfolgen und vermitteln. Jeder Uni-Lehrstuhl könnte ein spezielles Kompetenzzentrum werden, das sich über das Netz Ergänzungen einholt. Und: Wenn der einzelne Dozent nicht mehr alles selbst in Veranstaltungen leisten muß, bleibt mehr Zeit für das Gespräch mit der Gruppe oder dem einzelnen Studenten". Die virtuelle Uni gäbe es sowieso frühestens, wenn auch das gesamte administrative Studentenleben vom Campus nach Hause verlagert würde. Doch schon vermelden die Ruhr-Universität Bochum und verschiedene bayerische Hochschulen, daß sie ihre Studenten künftig mit einer sogenannten Multifunktionalen Chipkarte ausstatten wollen. Damit müßten diese beispielsweise bei der Rückmeldung nicht mehr in die Uni kommen; dies würde online ablaufen. Die Virtualisierung der Universität ist also weiter auf dem Vormarsch.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1999, Seite 97
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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