Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium
Rowohlt, Reinbek 1994.
412 Seiten, DM 38,-.
412 Seiten, DM 38,-.
Die archaische Angst, fälschlich für tot gehalten zu werden, hat den Totenkult in der westlichen Welt entscheidend geprägt. Mindestzeiten für die Beobachtung einer Leiche wurden festgesetzt, Leichenhäuser eingerichtet. Vor allem im 18. Jahrhundert bewegte alle Bevölkerungsschichten die Sorge, lebendig begraben zu werden; heute muten die mechanischen Vorrichtungen, mittels deren sich der Scheintote noch aus dem Grab hätte melden können, grotesk an. Erst die Erfahrung, daß der irreversible Ausfall von Atmung und Herzschlag ein zweifelsfreies Todeskriterium ist, hat diese Angst gemildert.
Die moderne Medizin weiß diese Erfahrung schlüssig zu begründen: Sobald die Lunge Sauerstoff nicht mehr aufnimmt und der Blutkreislauf ihn nicht mehr transportiert, müssen die Organe unweigerlich untergehen – das besonders empfindliche Gehirn schon nach wenigen Minuten. In stoffwechselträgen Geweben sind freilich noch für Stunden bis Tage nach dem Ausfall von Atmung und Kreislauf (dem sogenannten klinischen Tod) Lebensvorgänge nachzuweisen. Erst nach deren Ende definiert man den Zeitpunkt des biologischen Todes. Der Tod ist also ein langwieriger und vielschichtiger Prozeß.
Das Schicksal des Leichnams, auch wenn der Tod unzweifelhaft eingetreten ist, war und ist denen, die sterben werden, und den Angehörigen Verstorbener nicht gleichgültig. Obduktionen waren lange Zeit im christlichen Abendland verpönt; im 17. und 18. Jahrhundert wurden sie fast ausschließlich an Mittellosen und Hingerichteten durchgeführt – oder an geraubten Leichen. Der Wunsch nach der intakten Leiche hat sich bis in die heutige Zeit erhalten, und nicht selten verhindern die Angehörigen eines Verstorbenen eine medizinisch dringend erforderliche Sektion.
Während der Fortschritt die alte Sorge um die Unsicherheit der Todesfeststellung zerstreute, hat er in Form der modernen Intensivmedizin eine neue Unsicherheit geschaffen: den dissoziierten Hirntod. Das ist das Absterben des gesamten Gehirns, während Atmung und Kreislauf durch ein Beatmungsgerät, Medikamente und elektrische Schrittmacher aufrechterhalten werden. Auf den ersten Blick sieht ein solcher Mensch rosig und lebendig aus; er fühlt sich auch warm an, zudem sind Verdauung und Urinproduktion normal. Gleichwohl kann dieser Organismus nicht selbständig weiterleben; die Persönlichkeit gilt als erloschen und der Mensch als tot, so daß noch intakte Organe für lebensrettende Transplantationen entnommen werden dürfen. Darüber sind sich die Mediziner, Juristen und Theologen im wesentlichen einig. Beide großen Kirchen Deutschlands haben die Organspende zur Tat der Nächstenliebe erklärt.
Dennoch ist die Zahl derer, die sich schon zu Lebzeiten für eine mögliche Organspende entscheiden und einen Spenderausweis bei sich tragen, gering. Erschreckend häufig – mit zunehmender Tendenz – widersprechen Angehörige der Organentnahme aus Hirntoten, wenn der Verstorbene nicht zu Lebzeiten seinen entsprechenden Willen bekundet hat. Warum? Mißtraut man der Zuverlässigkeit der Hirntoddiagnose – eine moderne Variante der Angst, lebendig begraben zu werden? Will man nach wie vor den Leichnam vor (weiteren) Veränderungen bewahren? Zweifelt man vielleicht daran, daß der dissoziierte Hirntod wirklich schon der Tod des ganzen Menschen sei?
Der Tübinger Theologe Johannes Hoff und der in Belfast tätige Mediziner Jürgen in der Schmitten lassen in dem von ihnen herausgegebenen Buch Philosophen, Theologen, Mediziner, eine Psychotherapeutin und eine Krankenschwester zu diesem Problem zu Wort kommen. Entsprechend der offen eingestandenen Überzeugung der Herausgeber sind die Kritiker des Hirntodkonzepts in der Mehrzahl, wenn auch Befürworter zu Worte kommen.
In einem ersten Teil geht es darum, ob der dissoziierte Hirntod als sicheres Todeszeichen gelten dürfe. Nur dann sei eine Organentnahme vertretbar, andernfalls wäre es eine (strafbare) Körperverletzung. Analysiert wird zudem die Frage, ob mit dem Hirntod bereits der "Tod der Person" eingetreten sei, auch wenn – unter Beatmung und Intensivtherapie – einzelne Organe noch funktionsfähig und damit transplantierbar sind.
Im zweiten Teil fordern die Herausgeber ein "menschenwürdiges Todeskriterium". Sie setzen – hier grob vereinfacht dargestellt – den Todeszeitpunkt erst mit dem Zusammenbruch des Organismus an, also mit dem Verlust sämtlicher Vitalfunktionen, wenn sich Lebensprozesse nur noch auf der Ebene einzelner, nicht vital bedeutsamer Organe oder von Zellen abspielen. Insbesondere ist ein Mensch mit dissoziiertem Hirntod nach Überzeugung von Hoff und in der Schmitten, entgegen der herrschenden Auffassung, noch nicht tot. Deshalb sei eine Organentnahme nur bei im voraus ausdrücklich erteilter Zustimmung vertretbar. Die Herausgeber setzen somit den Tod des Individuums an einem anderen Punkt des Sterbeprozesses an als die Schulmedizin, wenn auch noch deutlich vor Eintritt des biologischen Todes mit Ableben aller Körperzellen. Wie alle Festlegungen von Todeszeitpunkten entbehrt auch diese nicht einer gewissen Willkür.
Der dritte Teil ist der interessanteste: "Anstöße, Hintergründe, Perspektiven". Eine wohlfeile Lösung des Konfliktes um den Hirntod darf man nicht erwarten. In diesem Teil des Buches werden praktische Erfahrungen im Umgang mit Organspendern und Organempfängern dargestellt. Eindrücklich formuliert im letzten Absatz die Krankenschwester Christine Lang:
... wie ich mir zu sterben wünsche:
Ohne langdauernde schwere Krankheit.
Ohne langdauerndes Siechtum,
ohne Arzt und ohne professionelle Krankenpflegepersonen,
ohne abgedroschene Phrasen,
ohne Lärm und überflüssige Geräusche, die mir die Ohren zudröhnen,
ohne jegliche Gewaltanwendung durch Menschenhand. Ich möchte zu Hause sterben
oder irgendwo draußen in freier Natur
in der Gegenwart eines Menschen, der mich liebt und der sehr leise und still sein kann.
Das Buch bietet 412 aufrüttelnde, beunruhigende Seiten über das Leben und den Tod, der nicht naturwissenschaftliches Faktum ist, sondern ein soziokulturelles Problem. Somit ist eine analytisch-naturwissenschaftliche Beantwortung der Titelfrage nicht möglich – offenbar ebensowenig eine allgemeingültige philosophische. Ich selbst, als klinisch tätiger Neurologe auch mit der Feststellung des Hirntodes beauftragt, habe allerdings nach dem Lesen des Buches meine Überzeugung nicht aufgeben können, daß der dissoziierte Hirntod dem Tod des Individuums gleichzusetzen ist. Gegner dieses Konzepts werden sich durchaus in ihrer Meinung bestärkt fühlen. Allen, die mit Sterbenden zu tun haben, die Organe verpflanzen oder entnehmen, die zur Organentnahme raten oder sich selbst dazu bereit erklären, kann das vorliegende Buch zum Nutzen der eigenen Klarheit nur dringend empfohlen werden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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