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Warnsignale aus dem Wattenmeer


Das Wattenmeer zwischen dem niederländischen Texel und dem dänischen Fanø mit seiner einzigartigen Inselbogen-Außenküste und den landseitigen Fluträumen gilt allgemein als Meerlandschaft von beeindruckender Natürlichkeit und Schönheit. Schon wegen seiner beträchtlichen Ausdehnung von rund 9000 Quadratkilometern ist es eines der bedeutendsten Gezeitengebiete der Erde; wegen seiner besonderen Bedingungen für die Flora und Fauna zählt es zu den weltweit wichtigsten Lebensräumen. Ornithologen wissen schon seit Jahrzehnten, daß hier während der Zugperioden nahezu der Gesamtbestand bestimmter Vogelarten zur Mauser oder Rast versammelt ist. Landschaftliche Großartigkeit und die Qualität des Naturerlebens haben den Tourismus zur bis heute führenden Wachstumsbranche dieses Raumes gemacht.

Die nähere Inspektion belehrt indessen sehr rasch darüber, daß eine derartige Idylle so nicht besteht. In allen drei Anrainerstaaten gefährdet ausbeuterischer oder auch nur unbekümmerter Umgang mit den Ressourcen das Ökosystem Wattenmeer erheblich.

Wo der Mensch die Eigendynamik komplexer natürlicher Abläufe mit technischen Mitteln zu linearisieren versucht, sind im allgemeinen fatale Folgen für die Umwelt zu erwarten. Die Vereinfachung des ursprünglich buchtenreichen Küstenprofils zur geraden Deichflucht hat dessen natürliche Veränderlichkeit stark eingeschränkt und die Fläche des Wattenmeeres seit 1940 um rund ein Drittel verringert; allein der niederländische Anteil sank durch die Schließung der Zuiderzee 1932 und durch Eindeichungen im Rahmen des Deltaplans von mehr als 5000 auf etwa 1500 Quadratkilometer. Die durch Rechenmodelle gestützte Befürchtung, die Verkleinerung der Fluträume würde die Tidenhübe um etliche Dezimeter anwachsen lassen, hat sich längst bestätigt.

Nach der aufrüttelnden Dokumentation "Warnsignale aus der Nordsee" (Paul Parey, Berlin/Hamburg 1990; siehe die Rezension in Spektrum der Wissenschaft, Januar 1991, Seite 136) lenkt das um Karsten Reise erweiterte Herausgeber-Team nunmehr die Aufmerksamkeit auf die vielschichtigen Ursachen der Bedrohung des Wattenmeeres – allen voran Eutrophierung durch den Anstieg der Nährstoffeinträge aus immer intensiverer Landwirtschaft sowie giftige industrielle Immissionen.

Spektakuläre Phänomene wie die alljährlichen übelriechenden Schaumteppiche, in denen selbst Strandkörbe untergehen, oder zunehmend auftretende toxische Planktonalgen dokumentieren – von Robbensterben und Seevogelverölung einmal abgesehen – selbst dem fortschrittsgläubigen Beobachter, daß hier ein Ökosystem ernsthaft erkrankt ist. Insgesamt 82 Fachautoren und zusätzlich 34 Gutachter unternehmen eine Komplexdiagnose nach neuestem Kenntnisstand.

Der umfangreiche Text ist von Tabellen, Kartenmaterial, Flußdiagrammen und graphisch aufbereiteten Datensätzen reichlich flankiert. Zunächst behandelt das Kompendium das Wattenmeer als Ganzes mit seiner Raumstruktur und der ihm eigenen Stoff- und Hydrodynamik. In den folgenden Hauptkapiteln stehen charakteristische Teillebensräume wie Watten und Priele oder Ästuare, Salzwiesen, Köge und Inseln im Vordergrund; die übrigen befassen sich mit der gebietstypischen Wirbeltierfauna, den Fischen, See- und Küstenvögeln sowie den Meeressäugern.

Insgesamt 62 Teilkapitel zeichnen – kompetent und facettenreich – ein aktuelles Bild, in dem Müllbelastung und militärisches Unwesen in den Wattgebieten ebenso berücksichtigt sind wie beispielsweise die Schadstoffdepots in Schalentieren, die Veränderung der Dünenvegetation, die Erkrankung von Nutzfischen und die prekäre Situation der Kleinwale. Ein ausführliches Glossar erläutert dem Laien die unvermeidliche Wattdeutsch-Terminologie. Eine beeindruckend detaillierte Literaturauflistung informiert über die Fülle der Einzeluntersuchungen, die sonst fast nicht mehr zu überblicken wäre.

Das Buch ist gewiß kein beschaulicher Bildband. Es liefert eine umfassende, kritische und gründliche Zustandsbeschreibung des Wattenmeeres. Allein schon die zusammenfassende Bewertung durch die Herausgeber macht aus zweierlei Gründen sehr betroffen: wegen der Komplexität der in nur wenigen Jahrzehnten zivilisatorischer Beeinträchtigung entstandenen Probleme und wegen der fatal schleppenden Umsetzung längst ausgereifter Natur- und Umweltschutzkonzepte.

Immerhin sind die Ökologie des Wattenmeeres und die Dringlichkeit politischen Handelns nun auch ein international diskutiertes Thema: Dänemark, Deutschland und die Niederlande haben vereinbart, im Wattenmeerschutz koordiniert vorzugehen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 131
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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