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Warum eine landesweite Raketenabwehr nicht funktioniert

Die Vereinigten Staaten wollen ihr Hoheitsgebiet vor einem Angriff mit ballistischen Flugkörpern schützen. Doch wie vergleichbare Vorhaben in der Vergangenheit wäre auch das derzeit geplante Raketenabwehrsystem mit relativ einfachen Mitteln auszutricksen.


Die Vereinigten Staaten begannen in der Hoch-Zeit des Kalten Krieges vor drei Jahrzehnten ein Raketenabwehrsystem zur Landesverteidigung zu entwickeln, weil sie sich durch sowjetische und chinesische Interkontinentalraketen bedroht fühlten. Daraufhin legten die Physiker Richard L. Garwin und Hans A. Bethe in der Mutterausgabe dieser Zeitschrift dar, wie einfach der damals geplante Abwehrschirm umgangen werden könnte ("Anti-Ballistic-Missile Systems", Scientific American, März 1968). Ihre Argumentation, daß jedes nationale Abwehrsystem technologisch wirkungslos sei, trug mit dazu bei, daß die USA und die Sowjetunion 1972 den Vertrag über die Begrenzung der Systeme zur Abwehr ballistischer Flugkörper unterzeichneten. Auch die Befürchtung, solche Systeme könnten den Gegner provozieren und das Wettrüsten anheizen, unterstützte den Meinungsumschwung. Das Abkommen – meist kurz ABM-Vertrag genannt (nach dem englischen anti-ballistic missile) – wurde zu einem wichtigen Meilenstein in der Rüstungskontrolle. Es verbietet den USA und Rußland bis auf den heutigen Tag, ein landesweites Abwehrsystem aufzubauen.

Mittlerweile gehört die Angst vor einem massiven sowjetischen Raketenangriff der Vergangenheit an, doch die Technologie ballistischer Flugkörper verbreitet sich rasch. Die Bedenken zielen nun darauf, daß ein übelgesinntes Entwicklungsland die Fähigkeit erlangen könnte, die USA mit Langstreckenraketen zu bedrohen oder anzugreifen. Weniger bedrohlich erscheinen der Abschuß einer russischen Rakete aus Versehen oder das kleine, wenn auch schlagkräftige Raketenpotential Chinas.

Auch die Technologie zur Raketenabwehr hat Fortschritte gemacht. Leistungsfähigere Computer, verbesserte Radaranlagen und raffinierte Sensortechnik scheinen nun eine politisch leichter zu vertretende Alternative zu den nuklearbestückten Abfangraketen der sechziger Jahre zu bieten: Sogenannte hit-to-kill-Raketen könnten ihre Ziele durch direkte Zusammenstöße mit hoher Geschwindigkeit zerstören.

Die Befürworter einer nationalen Raketenabwehr halten es deshalb für angeraten und technisch möglich, einen wirksamen Schutzschirm zur Landesverteidigung aufzubauen – und ihre Meinung wird gehört. Seitdem die Republikaner 1994 die Mehrheit im US-Kongreß übernommen haben, üben sie unablässig Druck auf die Regierung in Washington aus. Diese gab 1996 schließlich bekannt, sie würde mit der Entwicklung eines Systems beginnen, das die gesamten USA abschirmen könne; ein Datum für die Stationierung wurde nicht genannt.

Letzten August kündigte das US-Verteidigungsministerium an, die Schlüsselkomponenten des nationalen Abwehrsystems erstmals auf ihre Fähigkeit zu testen, Langstreckenraketen außerhalb der Erdatmosphäre abzufangen. Im Juni 2000, so plant die US-Regierung, soll nach nur wenigen weiteren Tests über die Frage entschieden werden, ob die Technologie ausgereift ist. Falls ja, könnte bis 2005 – vielleicht sogar schon 2003 – ein landesweites Abwehrsystem einsatzbereit sein.

In der Tat scheint es nur noch um die Frage des Zeitpunktes zu gehen. Bereits 1998 berichtete der damalige stellvertretende Verteidigungsminister Jacques Gansler dem US-Kongreß, es gehe nicht länger um die Frage, ob die USA ein nationales Verteidigungssystem aufbauen, sondern nur noch, wann sie es tun werden. Und seitdem ist die Stationierung wahrscheinlicher denn je: Im Januar 1999 kündigte das Pentagon eine Erhöhung des Verteidigungsbudgets um 6,6 Milliarden Dollar an, die dem Aufbau einer nationalen Raketenabwehr dienen sollen. Im März gab die Regierung ihren Widerstand gegen ein Gesetzesvorhaben des Senats auf, das eine Stationierung "so bald wie technisch machbar" forderte. Das Gesetz wurde daraufhin zügig und mit großer Mehrheit verabschiedet.

Doch wie schon das 1968 von Garwin und Bethe analysierte "Safeguard"-System könnte auch die heute geplante nationale Raketenabwehr durch einfache offensive Gegenmaßnahmen unterlaufen werden. Ein auf Kollisions-Abfangeinrichtungen basierendes System ist sogar noch leichter auszuschalten oder zu stören als ein nukleares Abwehrsystem. Und wie vor 30 Jahren ist zu befürchten, daß seine Stationierung andere Staaten zu Maßnahmen nötigen wird, die der Sicherheit der USA schaden.

Heute besitzen weitaus mehr Staaten ballistische Flugkörper als 1968. Die meisten dieser Waffen sind Gefechtsfeld- oder taktische Raketen, die wegen ihrer kurzen Reichweite nicht in der Lage sind, amerikanisches Territorium zu treffen. Zudem sind die meisten der über solche Raketen verfügenden Staaten den USA nicht feindlich gesonnen. Da Kurzstreckenraketen in erster Linie gegen Städte von Verbündeten der USA und gegen in Übersee stationierte US-Truppen eingesetzt werden können, entwickeln amerikanische Firmen derzeit mehrere taktische Abwehrsysteme zu ihrer Bekämpfung (Kasten Seite 70).

Von ganz anderer Dimension hingegen sind die Interkontinentalraketen, die als einzige den USA selbst gefährlich werden könnten. Solche Intercontinental Ballistic Missiles (ICBMs) trugen bisher stets Nuklearsprengköpfe, doch befürchtet man, sie könnten eines Tages auch mit anderen Massenvernichtungswaffen bestückt werden, also mit chemischen oder biologischen Kampfstoffen. Die größte Anzahl von ICBMs besitzt Rußland, aber ein großangelegter russischer Angriff gilt als sehr unwahrscheinlich. Deshalb wird das landesweite Raketenabwehrsystem der USA so ausgelegt sein, daß es nur wenige anfliegende Interkontinentalraketen gleichzeitig bekämpfen kann.



Raketen gegen Raketen



Am häufigsten wird eine solche begrenzte nationale Raketenabwehr mit der Behauptung gerechtfertigt, ein "Schurkenstaat" könne in den Besitz von Interkontinentalraketen gelangen oder sie selbst herstellen – in den Denkschemata des US-Verteidigungsministeriums wären dies beispielsweise Iran, Irak oder Nordkorea. Im Juli 1998 kam eine Expertenkommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld zu dem Schluß, daß Nordkorea und Iran ohne größere Vorwarnung innerhalb von fünf Jahren Interkontinentalraketen entwickeln könnten. Diese Feststellung beeinflußte die Diskussionen über ein nationales Raketenabwehrprogramm erheblich und trug mit dazu bei, daß die US-Regierung mehrere Milliarden Dollar für die ersten Stationierungsphasen bewilligte. Bedeutsam waren auch der Start der dreistufigen Rakete Taepo-dong 1 durch Nordkorea im August 1998 und Berichte über die Entwicklung der Taepo-dong-2 mit noch größerer Reichweite. Damit könnte alsbald amerikanisches Territorium in die Reichweite koreanischer Raketen gelangen (Bild links).

Die Möglichkeit eines unbeabsichtigten oder nicht autorisierten russischen Raketenstarts, der nur einen oder wenige Gefechtsköpfe umfassen würde, spielt in der Rechtfertigung einer begrenzten landesweiten Abwehr eine eher zweitrangige Rolle. Wegen der Art und Weise, in der die russischen Atomstreitkräfte organisiert sind, würde ein Durchbrechen der russischen Befehlskette wahrscheinlich alle Gefechtsköpfe eines mit ballistischen Flugkörpern bestückten U-Bootes umfassen – das wären bis zu 200 Stück – oder einen größeren Teil der russischen ICBM-Streitmacht.

Noch wurde über manche Einzelheiten der landesweiten Raketenabwehr der USA nicht entschieden, doch werden die meisten Schlüsselkomponenten bereits zügig entwickelt. Auch ist die allgemeine Funktionsweise des Systems bereits bekannt. So soll der Start einer Interkontinentalrakete durch Infrarot-Frühwarnsatelliten entdeckt und ihre Bahn anschließend durch eine oder mehrere der großen Stationen mit phasengesteuertem Radar verfolgt werden, die sich in Massachusetts, Kalifornien, Alaska, Großbritannien und Grönland befinden. Diese Frühwarnradaranlagen arbeiten mit relativ niedrigen Frequenzen um ein Gigahertz und können trotz ihrer begrenzten Reichweite und Winkelauflösung einige Dutzend Zielobjekte simultan erfassen und verfolgen (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, April 1985, S. 46).

Die Aufklärungsdaten würden den Primärsensor des nationalen Abwehrsystems aktivieren, ein im höherfrequenten X-Bandbereich (um neun Gigahertz) arbeitendes weiteres phasengesteuertes Bodenradar. Durch Konzentration des Suchfensters auf den Ort der anfliegenden Rakete kann eine solche Anlage über große Entfernungen hinweg ballistische Flugkörper verfolgen. Ein Prototyp wird bereits auf dem Raketenstützpunkt der US-Armee auf dem Kwajalein-Atoll im Pazifik eingesetzt.

Eine Gefechtszentrale würde anhand der Flugdaten mögliche Abfangpunkte errechnen sowie Start- und Lenkbefehle an eine Boden-Luft-Rakete weiterleiten. Jede dieser Abfangraketen besteht aus einer Antriebsstufe und einem sogenannten exoatmospheric kill vehicle, einem Flugkörper, der in großer Höhe abgetrennt wird und das anfliegende Zielobjekt durch direkten Aufprall außerhalb der Atmosphäre zerstört.

Je eher die Abfangrakete nach Entdeckung eines Angriffs gestartet werden kann, um so größer ist das vom Abwehrsystem geschützte Territorium und um so höher ist die Erfolgschance. Dem extrem schnellen Geschoß – die Brennschlußgeschwindigkeit beträgt mehr als sieben Kilometer pro Sekunde – müßten während des Fluges von verschiedenen Sensoren aktualisierte Kursdaten übermittelt werden. Die Treffwahrscheinlichkeit ließe sich noch erhöhen, wenn mehrere Abfangraketen auf ein Ziel abgeschossen würden. Deshalb sollen nach den derzeitigen Plänen in jedem Stationierungsort bis zu 100 von ihnen einsatzbereit sein.



Aufwendige Sensortechnik



Weil eine angreifende Interkontinentalrakete bereits nach drei bis fünf Minuten eine Höhe von 300 bis 400 Kilometern über der Erde erreicht hat, kann sie nicht innerhalb der Atmosphäre abgefangen werden, sondern nur weit oberhalb davon. Der ihr entgegenstrebende Abfangflugkörper muß mittels eines eigenen Infrarotsuchgerätes und der ihm vom Boden übermittelten Daten den angreifenden Gefechtskopf innerhalb einer Wolke von Täuschzielen oder Resten der unteren Raketenstufen ausfindig machen und mit Hilfe von Düsentriebwerken auf ihn zusteuern. Bei der hohen Kollisionsgeschwindigkeit würden im Idealfall sowohl der Gefechtskopf als auch die Abfangrakete völlig zerstört werden.

Zu einem leistungsfähigen Abwehrsystem würden auch mehrere neue oder verbesserte Sensoren gehören. Die bestehenden Frühwarnradaranlagen werden modernisiert, so daß sie Ziele besser verfolgen und die Abfangraketen besser leiten können. Neue Stationen mit phasengesteuertem Radar im X-Band werden errichtet, zum Teil neben den bisherigen Frühwarnradaranlagen. Schließlich wird noch ein weltraumgestütztes Kursverfolgungssystem entwickelt, genannt SBIRS-Low (space-based infrared system-low earth orbit). Dieses früher auch unter dem Namen "Brilliant Eyes" bekannte System aus Satelliten in niedriger Umlaufbahn soll die Bahnen von Raketen beziehungsweise ihren Gefechtsköpfen praktisch ab der Startphase verfolgen, unter Einsatz von Infrarotsensoren für den kurz-, mittel- und langwelligen Bereich wie auch für sichtbares Licht.

Der Rechnungsprüfungshof der USA schätzt, daß Aufbau und Betrieb eines begrenzten landesweiten Verteidigungssystems zwischen 18 Milliarden und 28 Milliarden US-Dollar kosten würden. Doch vermutlich sind diese Zahlen zu niedrig; auch erscheint der Zeitplan des Programms als zu optimistisch, wenn man die Erfahrungen mit früheren Großwaffensystemen zugrunde legt. Zudem sehen die Planungen vor, daß das Verteidigungssystem jederzeit erweitert werden kann. Zusätzliche Abfangraketen oder Abschußbasen würden nicht nur die Fähigkeiten des Systems steigern, sondern auch dessen Kosten in die Höhe treiben.

Betrachtet man die bisherigen Versuche der USA mit hit-to-kill-Systemen, so ist die Bilanz ernüchternd: Nur 3 von 17 Erprobungen verliefen erfolgreich (Bild Seite 67). Dies zeigt, wie schwierig das Abfangprinzip ist und daß die Technologie noch längst nicht ausgereift ist. Und selbst wenn alle Versuche erfolgreich verlaufen wären, hätte dies noch nicht die Funktionstüchtigkeit unter realen Bedingungen bewiesen. Betrachten wir etwa das Patriot-Raketensystem, die einzige bisher im Kampf erprobte Raketenabwehrwaffe. Als taktisches Abwehrsystem gegen Kurzstreckenraketen entwickelt, wies es ein perfektes Testergebnis auf: Alle 17 der vor dem Golfkrieg von 1991 durchgeführten Versuche waren erfolgreich. Doch – anders als die damaligen Medienberichte es vermuten ließen – scheiterte die Rakete in fast allen 44 Versuchen, irakische Scud-Raketen zu zerstören, die sich ganz anders verhielten als die in den Tests eingesetzten Zielobjekte.



Einfache Gegenmaßnahmen



Die Effizienz des landesweiten Raketenabwehrsystems hängt also zweifellos davon ab, wie es mit ähnlich unerwarteten Umständen und insbesondere mit aktiven Gegenmaßnahmen des Angreifers umgehen kann (Kasten links). Schon mit dem Start einer ausreichend großen Zahl von Interkontinentalraketen könnte das System überfordert sein. Billiger und einfacher wäre es freilich, zusätzlich zu dem Gefechtskopf geeignete Vorrichtungen in der angreifenden Rakete unterzubringen, die das Abwehrsystem verwirren würden. Wenn ein Land in der Lage ist, Interkontinentalraketen und Massenvernichtungswaffen zu bauen oder zu erwerben, dann vermag es auch solche Gegenmaßnahmen einzusetzen. Die USA haben von Anfang an für ihr strategisches Arsenal solche Technologien entwickelt, und sie müssen damit rechnen, daß jede gegnerische Rakete ebenfalls damit ausgestattet ist.

Die Bedingungen im Weltraum, wo das Abfangen geschehen soll, lassen vielfältige Gegenmaßnahmen zu. Da die ballistischen Flugbahnen aller Objekte im luftleeren Raum unabhängig von ihrer Masse gleich sind, könnte zum Beispiel eine Interkontinentalrakete außer dem Gefechtskopf einen leichtgewichtigen Täuschkörper mit ähnlichem Erscheinungsbild enthalten, so daß eine Kollisionswaffe entscheiden müßte, welcher von beiden zerstört werden soll. Eine Unterscheidung zwischen Täuschkörper und Gefechtskopf wäre erst dann möglich, wenn beide auf die Atmosphäre träfen, wodurch der leichtere von beiden stärker abgebremst würde – doch für eine Abwehr wäre es dann bereits zu spät (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1984, S. 32).

Einem potentiellen Angreifer stünden insbesondere drei Optionen für Gegenmaßnahmen zur Verfügung:

Submunition: Chemische oder biologische Waffen ließen sich in Form Dutzender oder Hunderter Submunitionsladungen in einer Interkontinentalrakete unterbringen. Diese kleinen Behälter könnten so ausgelegt sein, daß sie den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre überstehen, und allein aufgrund ihrer schieren Anzahl würden sie jedes Abwehrssytem wirkungslos machen. Zugleich würde dieses Verfahren eine weiträumige Ausbreitung der chemischen oder biologischen Agenzien gewährleisten.

Täuschziele: Auch das Ausstoßen Dutzender Täuschziele wäre äußerst wirkungsvoll. Attrappen könnten das gleiche Radarecho hervorrufen wie ein echter Gefechtskopf. Noch einfacher und effektiver wäre der umgekehrte Trick – die Gefechtsköpfe wie Attrappen aussehen zu lassen, indem man sie beispielsweise in Ballons aus einer metallbedampften Kunststoffhülle einpackte und sie zusammen mit einer großen Anzahl leerer Ballons freisetzte. Die dünne Metallschicht würde Radarwellen reflektieren und die Entdeckung der Gefechtsköpfe verhindern. Auch Infrarotsensoren ließen sich täuschen, indem Heizvorrichtungen in den Ballons ein einheitliches Wärmebild erzeugten.

Statt alle Ballons gleich aussehen zu lassen, könnte der Angreifer sie in verschiedenen Größen und Formen verwenden und sie mit unterschiedlich starken Wärmequellen versehen. Dann stände das Abwehrsystem der USA vor der schier unlösbaren Aufgabe zu entscheiden, welches in der großen Zahl unterschiedlicher Ziele, von denen keines wie ein Gefechtskopf aussieht, das tatsächliche Ziel wäre.

Gekühlte Hülle: Das Einhüllen des Gefechtskopfes in einen Mantel, der mit flüssigem Stickstoff gekühlt wird, würde ihn für den Infrarotsucher einer Abfangrakete unsichtbar machen. Eine solche Hülle könnte aus einer Aluminiumlegierung bestehen und von dem Gefechtskopf durch eine mehrschichtige Isolierung thermisch entkoppelt sein (Kasten auf Seite 70). Ein etwa 15 bis 20 Kilogramm schwerer Mantel würde eine vergleichbare Masse flüssigen Stickstoffs benötigen, um dessen Temperatur zu erreichen sowie weitere 300 Gramm Kühlflüssigkeit pro Minute, um diese Temperatur zu halten. Das Gesamtgewicht des Kühlmantels betrüge somit etwa 40 bis 50 Kilogramm – verglichen mit der Masse von 1000 Kilogramm für einen nuklearen Sprengkopf der ersten Generation recht wenig. Eine sorgfältig gewählte Form und Orientierung des Gefechtskopfs könnte zudem verräterische Reflexionen von Licht und Wärmestrahlung in Richtung der Abfangrakete vermeiden.

Damit aber ist die Palette an Gegenmaßnahmen noch keineswegs erschöpft: Das Stören von Radaranlagen durch Störsender und andere elektronische Gegenmaßnahmen, das Ausstoßen von Staniolstreifen (sogenannten Düppeln) und das Anwenden von aus dem Kampfflugzeug-Bereich bekannten Stealth-Techniken zur Reduktion der Radarechos sind Maßnahmen, die dem Verteidiger das Orten eines anfliegenden Gefechtskopfes erschweren würden.

Ein landesweites Raketenabwehrsystem müßte, um wirksam zu sein, nicht nur jede einzelne dieser Gegenmaßnahmen untauglich machen, sondern auch jede praktisch mögliche Kombination von ihnen. Und: Es müßte bereits bei seinem allerersten Einsatz erfolgreich sein, denn die Chance, aus einem Versagen zu lernen, bestünde nach einem Angriff mit Massenvernichtungswaffen wohl nicht mehr. Das geplante Abwehrsystem der USA scheint diesen Anforderungen auch nicht annähernd gerecht zu werden.



Provokation des Gegners



Abgesehen von den technischen Bedenken würde der Aufbau eines landesweiten Raketenabwehrsystems politische Reaktionen Rußlands und Chinas herausfordern. Denn wenngleich das System nur gegen einzelne anfliegende Raketen ausgelegt ist, verfügt es doch über dieselbe Infrastruktur, wie sie für einen leistungsfähigeren Abwehrschirm gebraucht würde; und immerhin hat die US-Regierung eingestanden, daß eine Erweiterung durch zusätzliche Abfangraketen und Abschußbasen jederzeit möglich sei. Insbesondere wenn das Kursverfolgungssystem SBIRS-Low oder die Frühwarnradaranlagen im X-Band in Betrieb gehen, wären damit von der Sensortechnik her die Voraussetzungen für einen schnellen Auf- und Ausbau eines strategischen Verteidigungssystems gegeben. Gerade wegen ihrer eminenten Bedeutung für die strategische Situation sind solche Frühwarnanlagen im bestehenden ABM-Vertrag so strikten Begrenzungen unterworfen.

Rußland und China können sicherlich auch nicht außer acht lassen, daß die USA derzeit zwei fortgeschrittene, in großen Höhen einzusetzende taktische Raketenabwehrsysteme entwickeln, deren Abfangflugkörper zumindest ein gewisses strategisches Potential aufwiesen, wenn sie von Sensoren wie etwa SBIRS-Low gesteuert würden. Diese Abfangraketen könnten binnen kurzem mit einem landesweiten Raketenabwehrsystem gekoppelt werden, was ihre Stückzahl auf 1000 oder mehr erhöhen würde. Viele Republikaner im US-Kongreß setzen sich bereits für eine Modernisierung der auf Schiffen stationierten taktischen Verteidigungssysteme und ihre Integration in ein landesweites Abwehrsystem ein.

Wie also werden Rußland und China auf die Aktivitäten der USA reagieren? Berater, die gewohnt sind, in technischen Kategorien zu denken, werden wohl erkennen, daß es wirksame Gegenmaßnahmen gibt. Dies muß aber nicht für die politische Führung Rußlands gelten. Vielleicht erscheint ihr der Gedanke, daß die USA Milliarden von Dollar für ein Verteidigungssystem auszugeben bereit sind, das mit Leichtigkeit unschädlich gemacht werden könnte, als unglaubwürdig. Faktum ist, daß die russischen Politiker sich sowohl gegen ein landesweites Abwehrsystem der USA als auch gegen Änderungen des bestehenden ABM-Vertrages ausgesprochen haben, die ein solches System erlauben würden.

Sollten die USA ihre Pläne vorantreiben, könnte Rußland einen bereits vertraglich vereinbarten Abbau seiner Nuklearstreitkräfte zurückstellen. Die russische Regierung hat die Umsetzung des START-I- und START-II-Vertrages zum Abbau von Atomwaffen unmißverständlich an die Forderung gebunden, daß die USA sich an die Regeln des ABM-Vertrages halten. Zwar wird Rußland angesichts seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowieso kaum mehr als 2000 Gefechtsköpfe auf Interkontinentalraketen bereithalten können, aber weitergehende Abrüstungsmaßnahmen wären erschwert. Zudem ist es denkbar, daß Rußland nach einem Aufbau eines US-Raketenabwehrsystems im Interesse seiner Abschreckungs- und Zweitschlagsfähigkeit eine größere Anzahl seiner nuklear bestückten Gefechtsköpfe in Alarmbereitschaft hält. Dies wiederum würde das Risiko eines unbeabsichtigten Raketenangriffs auf die USA erhöhen – und somit gerade das Szenario Wirklichkeit werden lassen, das die Befürworter eines nationalen Verteidigungssystems als bedrohlich empfinden.

Auch Chinas Reaktion dürfte problematisch sein. Bisher unterhält das fernöstliche Land nur ein kleines Arsenal an Interkontinentalraketen. Doch gerade deswegen könnte China ein Raketenabwehrsystem der USA – unabhängig von seiner Fähigkeit oder Wirksamkeit – als Bedrohung für seine kleine ICBM-Streitmacht ansehen und sich veranlaßt fühlen, sie auszubauen. Jede zusätzliche chinesische Interkontinentalrakete wäre aber ein erhöhtes Risiko für die Sicherheit der USA.



Neues System – alte Probleme



Solange das Prinzip der nuklearen Abschreckung zwischen den Weltmächten noch nicht völlig aufgehoben ist, würde der Aufbau eines US-Abwehrsystems wohl die weitere Reduzierung der Kernwaffenarsenale behindern. Auch die Bemühungen der USA, zusammen mit Rußland das Risiko versehentlicher Raketenstarts zu verringern, wären beeinträchtigt; beide Länder wollen eigentlich durch gemeinsame Maßnahmen den Alarmzustand der Raketen beenden, Gefechtsköpfe von den Startanlagen trennen, Selbstzerstörungsmechanismen in Raketen einführen und bei der Frühwarnung zusammenarbeiten. In anderen wichtigen Fragen wäre es ebenso schwierig, Rußland und China zu gemeinsamem Handeln zu bewegen – etwa den Transfer von waffenfähigen Materialien und Technologien in Drittstaaten zu begrenzen oder schärfere Kontrollen des russischen Spaltmaterials durchzusetzen.

Seit mehr als drei Jahrzehnten haben Rüstungskontrollfragen, technologische Zweifel, die ungeheuren Kosten und weitere Probleme die amerikanischen Versuche zum Aufbau eines landesweiten Abwehrsystems geplagt. Damals wie heute ist die größte Herausforderung, daß ein solcher Verteidigungsschirm durch einfache, aber wirkungsvolle Gegenmaßnahmen durchbrochen werden könnte. Wie Garwin und Bethe bereits 1968 betonten, kann ein Land, das die enorm kostspielige und zeitraubende Entwicklung von Interkontinentalraketen auf sich genommen hat, nicht tatenlos zusehen, wie sein Potential durch ein Abwehrsystem unwirksam gemacht wird, wenn es relativ einfache Schritte dagegen gibt.

Die Befürworter einer Raketenabwehr argumentieren weiterhin, bereits die Möglichkeit, eine einzige Rakete könne die USA treffen, reiche als Rechtfertigung für ein nationales Abwehrsystem aus. Es muß jedoch beachtet werden, daß ein begrenztes System mit grundlegenden technologischen Mängeln wenig zur Stärkung der nationalen Sicherheit beitragen kann. Es hätte sogar einen gegenteiligen Effekt. Nur wenn ein nationales Abwehrsystem reale Bedrohungen zuverlässig unschädlich machen kann, sollte es gebaut werden; das derzeit von den USA geplante System wird nichts davon leisten können.

Literaturhinweise


Future Challenges to Ballistic Missile Defenses. Von George N. Lewis und Theodore A. Postol in: IEEE Spectrum, Bd. 34, Nr. 9, S. 60-68 (September 1997).

Mehrere Institutionen halten im World Wide Web weitere Informationen bereit:

Ballistic Missile Defense Organisation: www.acq.osd.mil/bmdo/bmdolink/html

Non-Proliferation Project der Carnegie Endowment for International Peace: www.ceip.org/programs/npp/missiledefense.htm

Coalition to Reduce Nuclear Dangers: clw.org/coalition/libbmd.htm

Union of Concerned Scientists: www.ucsusa.org/arms

Federation of American Scientists: www.fas.org/spp/starwar


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1999, Seite 66
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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