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Wasser, Eis und der Mpemba-Effekt

Eine der einfachsten, aber zugleich wichtigsten chemischen Verbindungen – Wasser – zeigt aufgrund ihrer Molekülstruktur und Bindungsverhältnisse besondere Eigenschaften. Doch noch immer geben manche physikalischen Verhaltensweisen dieser Substanz Rätsel auf.

Seit langem kursiert ein seltsames Gerücht: Stellt man bei Frost zwei gleiche Gefäße – eines mit heißem, das andere mit kaltem Wasser gefüllt – gleichzeitig ins Freie, so werde das heiße Wasser zuerst gefrieren.

Berichte über dieses scheinbar paradoxe Phänomen tauchen immer wieder auf und lassen sich selbst über die Jahrhunderte hinweg zurückverfolgen. Bekannte Philosophen und Wegbereiter der modernen Naturwissenschaften haben sich damit befaßt, so etwa der Grieche Aristoteles (384 bis 322 vor Christus), der Engländer Francis Bacon (1561 bis 1626) und dessen französischer Zeitgenosse René Descartes (1596 bis 1650).

Um das schnellere Gefrieren des heißen Wassers zu begründen, werden zunächst zwei physikalische Effekte herangezogen. Zum einen verdampfe von der heißen Flüssigkeit ein größerer Anteil als von der kalten, so daß weniger Wasser zurückbleibe, das bis zum Gefrierpunkt abkühlen muß. Zum anderen taue das heiße Gefäß den gefrorenen Schnee, in den es gestellt wurde, teilweise auf; beim Wiedergefrieren der Schmelze werde dann dem Gefäß – und somit auch seinem Inhalt – durch den besseren Wärmekontakt mit der kalten Umgebung weitaus effizienter Energie entzogen.

Das vielzitierte, aber offenbar nur von wenigen untersuchte Phänomen schien sich damit auf ziemlich einfache Weise wissenschaftlich erklären zu lassen – bis Mpemba kam.

Erste systematische Untersuchungen

In den sechziger Jahren hatte Erasto Mpemba, ein junger Schüler in Tansania, herausgefunden, daß er schneller als seine Freunde Eiskrem bereiten konnte, indem er die flüssige Mischung erhitzte, bevor er sie in den Gefrierschrank stellte. Als er seinem Lehrer von dieser Beobachtung erzählte, machte er sich zum Gespött der ganzen Klasse, und fortan waren alle irrigen Ansichten als "Mpemba-Physik" verschrieen.

Doch der Junge ließ sich nicht entmutigen und führte heimlich Experimente durch. Um die erwähnten Effekte auszuschließen, deckte er das Gefäß zu und stellte es auf eine isolierende Unterlage. Und siehe: Noch immer gefror anfangs heißes Wasser schneller als kaltes. Ein Schulrat aus Daressalam, der von diesen Versuchen erfuhr, nahm sie immerhin ernst genug, um sie zu wiederholen. Er vermochte Mpembas Befunde zu bestätigen und veröffentlichte sie. Daraufhin setzte eine rege Betriebsamkeit ein; doch die Ergebnisse der zahlreich durchgeführten Experimente widersprachen sich: Manche zeigten das Mpemba-Phänomen, andere nicht.

Immerhin erkannte man dadurch, daß zur Erklärung subtilere Effekte als die beiden zuvor vermuteten mit herangezogen werden müssen. So könnte etwa die durch Temperaturgradienten hervorgerufene Konvektion – neben der Wärmeleitfähigkeit ein weiterer Mechanismus, durch den Wärme transportiert wird – im heißen Wasser effizienter sein als im kalten. Die besondere Eigenschaft von Wasser, daß seine Dichte nicht bei null, sondern bei vier Grad Celsius am größten ist, könnte das Aufsteigen und Absinken der Flüssigkeit am Gefäßrand in entscheidender Weise beeinflussen. Zudem wurde vermutet, daß durch das Erhitzen ein Teil der im Wasser gelösten Luft entweiche und die heiße Flüssigkeit deshalb schneller gefrieren könne. Und schließlich spekulierte man, daß im entgasten Wasser die Front zwischen bereits gefrorenem und noch flüssigem Wasser sich rascher fortzupflanzen vermöge, weil sie blasenfrei sei und deshalb die Wärmeleitfähigkeit höher sein könne als mit Blasen. Doch gerade die beiden letzten Vermutungen bleiben unbefriedigend, weil sie erhebliche Unterschiede in den Stoffkonstanten voraussetzen, die sich physikalisch kaum begründen lassen.

Während meiner Tätigkeit am Institut für Wasserforschung der Universität Perth (Australien) suchte ich die Experimente zu reproduzieren. Ich füllte ein gewöhnliches 100-Milliliter-Becherglas aus Pyrex mit Wasser, versiegelte es und tauchte es in einen Kryostaten, der als Kältereservoir diente. Die Temperatur der Probe bestimmte ich mit einem Fühler, den ich – wie andere Forscher zuvor – in der Mitte des Becherglases angebracht hatte. Bei dieser Verfahrensweise hatte ich – unwissentlich – bereits zwei gravierende Fehler begangen.

Es geschah denn auch nichts Ungewöhnliches. Das anfangs heiße Wasser blieb zu jeder Zeit wärmer als das mit niedriger Starttemperatur. Und als die Flüssigkeit zu gefrieren begann, blieb die voranschreitende Gefrierfront in der zuvor heißen Probe stets etwas hinter der in der kalten zurück. Der Meßfühler zeigte so lange null Grad an, bis die gesamte Probe durchgefroren war; erst danach sank die Temperatur weiter. Selbst als ich Kohlendioxidblasen durch das kalte Wasser perlen ließ, vermochte dies dessen Abkühl- und Gefriergeschwindigkeit nicht wesentlich zu verringern, wenngleich das sich bildende Eis nun stark mit Blasen durchsetzt war. Das Kältebad hatte ich auf Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt – bis zu -50 Grad Celsius – eingestellt, weil ich annahm, der gesuchte Effekt würde sich dann eher ergeben, als wenn man im Bereich zwischen null und -10 Grad arbeitete; dies war, wie sich herausstellen sollte, der dritte Fehler.


Unterkühlung

Erst als ich auf das Abdichten der Gefäßöffnung verzichtete und den Temperaturfühler an der Wandung des Becherglases fixierte, kam ich dem Geheimnis auf die Spur, denn nun offenbarte sich ein grundsätzlich anderer Temperaturverlauf. Anstatt langsam auf null Grad zu sinken und dort eine Weile zu verharren, fiel die Temperatur rasch auf -9,5 Grad, obwohl das Wasser gänzlich flüssig blieb. Nach einer gewissen Zeit sprang sie unvermittelt auf null Grad.

Ein solches Verhalten ist für das spontane Gefrieren von unterkühltem Wasser typisch. Die Messungen an der Wandung zeigten, daß Wasser stets unterkühlt wird – wenn auch nicht immer so stark –, bevor es gefriert, und zwar unabhängig von der Temperatur des Kältebades.

Das Phänomen der Unterkühlung ist mit einigen bekannten interessanten Aspekten verbunden. So läßt sich zum Beispiel nicht genau vorhersagen, wann und bei welcher Temperatur eine unterkühlte Flüssigkeit schlagartig gefrieren wird. Von zwei Wasserproben mit denselben Anfangsbedingungen erstarrt die eine vielleicht bereits bei -2, die andere aus scheinbar unerfindlichen Gründen erst bei -8 Grad. Auch unterscheiden sich die spontan gefrorenen Proben im Aussehen von den gewohnten Eiswürfeln wie Schneekristalle von Hagelkörnern. Beispielsweise neigt eine homogen unterkühlte Wassermenge dazu, eine breiige Eis-Wasser-Mischung mit einer watteartigen Beschaffenheit zu bilden. Wird nur das wandungsnahe Wasser leicht unterkühlt, entsteht eine dünne Kristallschicht ähnlich den Eisblumen an nicht wärmeisolierten Fenstern (Bilder 1 bis 3). Diese filigranen Strukturen bleiben aber womöglich nur wenige Sekunden bestehen, bevor sie von benachbarten wärmeren Wasserschichten wieder zum Schmelzen gebracht werden. Von der unterkühlten Flüssigkeit erstarrt nämlich nur ein Teil. Hat die gesamte Probe eine Temperatur von beispielsweise -10 Grad, wenn sie schlagartig gefriert, enthält die entstehende Eis-Wasser-Matrix lediglich etwa 12,5 Prozent Eis. Dies bedeutet, daß das Wasser auf -80 Grad unterkühlt werden müßte, damit die Probe durch und durch erstarrt. Bisher ist es jedoch nicht gelungen, Wasser weiter als auf etwa -40 Grad zu unterkühlen (und selbst dann nur, wenn es sich in dünnen Kapillaren befand).


Unterschiede im Gefrierprozeß

In den Sekunden und Minuten nach dem Erstarren vermag sich die Struktur des Eises beträchtlich zu ändern – so können anfangs durchsichtige, fein verästelte Kristalle milchig-trüb werden, eine abgerundete Form annehmen oder wieder vollständig schmelzen. Während dieser Transformation breitet sich die Gefrierfront von der Gefäßwandung zum Zentrum hin aus.

Führt man eine Anzahl Experimente unter stets gleichen Bedingungen durch, so ergeben sich für Einfriertemperatur und -zeitpunkt Meßwerte, die um einen wahrscheinlichsten Mittelwert streuen. Dieses statistische Verhalten scheint nun nicht nur die Erklärung für den Mpemba-Effekt zu liefern, sondern auch dafür, warum frühere Versuche so unterschiedliche Ergebnisse hatten.

Ein typisches Mpemba-Szenarium könnte demnach so ablaufen: Während die anfangs kalte Probe auf -9,5 Grad abkühlt, bevor sie schlagartig gefriert, erreicht ein Gefäß mit dem erhitzten Wasser nur -4 Grad, bevor sich von der Wandung ausgehend dünne Eiskristalle bilden – in diesem Falle würde das heiße Wasser tatsächlich eher gefrieren als das kalte.

Beim Erstarren des kalten Wassers wandelt sich das gesamte Flüssigkeitsvolumen innerhalb einer Sekunde in eine breiige, milchig-trübe Mixtur aus Eiskristallen und Wasser. Gleichzeitig springt der Meßwert des Temperaturfühlers von -9,5 auf null Grad. Nach etwa einer Minute kann man eine zylindrische Gefrierfront ausmachen, die sich langsam in das Zentrum der Probe vorarbeitet (eine weitere breitet sich vom Gefäßboden nach oben aus). Das gleiche ist in dem anfangs heißen Wasser zu beobachten, doch breitet sich die Zone von der zarten Kristallschicht an der Wandung des Gefäßes ausgehend langsamer aus.

Es ergab sich, daß heißes Wasser am ehesten zwischen null und -2 Grad, kaltes hingegen zwischen -4 und -6 Grad gefriert. Umgebungstemperaturen von -5 Grad reichten im allgemeinen aus, um die meisten der heißen Proben innerhalb von zehn Minuten gefrieren zu lassen, während nach dieser Zeitspanne das kalte Wasser noch flüssig blieb. Kühlt man die Proben gemeinsam ab, läßt sich unter diesen experimentellen Bedingungen der Mpemba-Effekt mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 50 Prozent beobachten. Dehnt man das Meßintervall über zehn Minuten aus, gefriert schließlich auch nur wenig unterkühltes Wasser – dies ist übrigens einer der Gründe dafür, warum man in der Natur unterkühltes Wasser praktisch nicht vorfinden kann.

Warum läßt sich kaltes Wasser stärker unterkühlen als heißes? Das muß noch herausgefunden werden. Ich hantierte mit verschiedenen Wasserproben, ließ Blasen hindurchsprudeln und gab Verunreinigungen hinzu; doch hatte all dies keinen nennenswerten Einfluß auf das Resultat ("American Journal of Physics", Band 63, Seiten 882 bis 885, 1995).

Diese Eigenheit könnte demnach eher auf Benetzungseffekte zurückzuführen sein, die sich aufgrund des Aufheizens und anschließenden Abkühlens von Glasgefäß und Wasser ergeben. Mehrere Faktoren könnten dabei mitspielen. Insbesondere beginnen Phasenumwandlungen am ehesten an einer stark gekrümmten Oberfläche, an der sich Kristallkeime leicht bilden und vergrößern können. Weil selbst eine scheinbar glatte Glasoberfläche im mikroskopischen Maßstab Unebenheiten aufweist, deren Krümmungsradius kleiner ist als der von anderen Störungen in der Probe, entstehen beim Abkühlen von kaltem Wasser winzige Bläschen vorzugsweise gerade dort. (Dieses Phänomen läßt sich vorzüglich an einem Glas frisch gezapften Biers beobachten.) Damit besetzen sie gerade die auch für die Bildung von Eiskristallkeimen günstigsten Plätze (und behindern vermutlich außerdem den Wärmeaustausch). Im erhitzten Wasser hingegen ist ein Teil der gelösten Luft entwichen, so daß in den dann abgekühlten Proben mehr Plätze für die Kristallbildung zur Verfügung stehen. Schließlich üben die unterschiedlichen Konvektionsströmungen, die der Chaos-Theorie zufolge unvorhersagbare Formen annehmen, eine größere Wirkung auf die Statistik des spontanen Gefrierens aus als bisher vermutet.

Mpembas Verfahren zur Eiskremherstellung ist demzufolge nur für Ungeduldige zu empfehlen, die einen schaumigen Geschmack bevorzugen. Diejenigen, die ihr Speiseeis vollständig durchgefroren mögen, bleiben besser dabei, eine kalte und nicht eine erhitzte Mischung in den Gefrierschrank zu stellen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1996, Seite 15
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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