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Wassereis auf Merkur

Radarastronomen haben auf dem schattigen Boden etlicher Krater an den Polen des sonnennächsten Planeten Eis aufgespürt. Seine Herkunft ist allerdings noch rätselhaft.


Trotz intensiver Forschungen mit irdischen Teleskopen, Satelliten und Raumsonden in den letzten beiden Jahrzehnten sind im Sonnensystem immer noch überraschende Entdeckungen möglich – auch und gerade dort, wo die Sonne niemals scheint. So wurde erst jetzt festgestellt, daß es auf dem Merkur offenbar eisbedeckte Flächen gibt. Diese Entdeckung ist um so erstaunlicher, als auf dem sonnennächsten Planeten am Äquator Temperaturen von 400 Grad Celsius und darüber herrschen, bei denen sogar Metalle wie Zinn und Blei schmelzen. Außerdem existiert nur eine äußerst dünne Atmosphäre, die keinen Wasserdampf enthält.

Bereits im Oktober 1991 zeigten sich bei zwei unabhängigen Radarbeobachtungen des Merkur starke Reflexe, die wie Spiegelungen von Eisflächen wirkten ("Science", Band 258, Seiten 635 und 640). Sie glichen den Echos von Eis, das auf Mars und den Galileischen Monden des Jupiter mit Radar nachgewiesen und mit Raumsonden photographiert worden ist ("Science", Band 253, Seite 1508 ). Damals diente das 70-Meter-Goldstone-Radioteleskop der NASA in der Mojave-Wüste Südkaliforniens als Sender und das Very Large Array bei Socorro (New Mexico) mit seinen 27 Einzelteleskopen von je 25 Metern Durchmesser als Empfänger. Die zweite Beobachtung wurde mit dem Arecibo-Teleskop gemacht – einer 304-Meter-Radioantenne, die in einem Talkessel auf Puerto Rico aufgespannt ist.

Allerdings waren diese Messungen noch nicht genau genug, um die Möglichkeit auszuschließen, daß der Radarstrahl von freigelegtem Grundgestein oder frischer Lava gestreut würde, die ebenfalls sehr glatte Oberflächen haben können. Mit weiteren Beobachtungsreihen am Arecibo-Observatorium bei einer Frequenz von 2,4 Gigahertz gelang es John K. Harmon vom Astronomie- und Ionosphärenzentrum auf Puerto Rico und seinen Mitarbeitern jetzt jedoch, ihre ursprüngliche Vermutung zu erhärten ("Nature", Band 369, Seite 213). Durch Summation der Ergebnisse konnten sie eine Auflösung von nur mehr 15 Kilometern erreichen. Dabei fanden sie rund 30 ungewöhnlich starke, depolarisierte Echos um Merkurs Nord- und Südpol bis jeweils zum 80. Breitengrad (Bild auf Seite 22 links). Der ausgedehnteste Reflex stammte von einer Region am Südpol mit 125 Kilometern Durchmesser und war schon 1991 mit dem Krater Chao Meng-Fu in Verbindung gebracht worden. Die anderen hatten Durchmesser von bis zu 60 Kilometern und waren alle ebenfalls annähernd kreisförmig.

Wegen der hohen Auflösung der Radarbilder kann man einen Großteil der Echos nun mit großer Sicherheit Geländeformationen auf dem Merkur zuordnen. In den Jahren 1974 und 1975 hatte sich die amerikanische Raumsonde Mariner 10 bei drei Vorbeiflügen dem Planeten, der mit einem Äquatordurchmesser von 4878 Kilometern nach Pluto der zweitkleinste im Sonnensystem ist, bis auf 694 Kilometer genähert. Ihre rund 2700 Photos zeigen eine kraternarbige Oberfläche, die der des Mondes verblüffend ähnlich sieht (Bild rechts). Allerdings hatte die Sonde, bedingt durch ihre Flugbahn, nur etwa 50 Prozent der Merkur-Oberfläche photographieren können; gerade in Polnähe hatten weite Bereiche des Planeten im Schatten gelegen. Immerhin ließen sich die Positionen von gut der Hälfte der Radarechos mit Kratern identifizieren, die auf den MarinerPhotos zu sehen sind. Dazu mußte das Mariner-Koordinatennetz der NASA allerdings geringfügig verschoben werden.

Tatsächlich sollte es Eisflächen auf dem Merkur nur am Boden von polnahen Kratern geben. Weil die Rotationsachse des Planeten nahezu senkrecht zu seiner Bahnebene verläuft, steht die Sonne an den Polen immer in Horizontnähe. Somit herrscht im Inneren größerer Krater ewige Finsternis, und das Eis ist vor der Strahlungswärme geschützt. Nach thermischen Modellrechnungen sollten die Temperaturen an den Polen zwar auch bei glatter Oberfläche nur –100 Grad Celsius betragen. Dies würde jedoch ausreichen, daß möglicherweise vorhandenes Wassereis sich rasch verflüchtigt.

Der Siedepunkt einer Substanz liegt nämlich um so tiefer, je niedriger der Atmosphärendruck ist. Auf Merkur mit seiner äußerst dünnen Gashülle aus Helium, Argon und Natriumdampf beträgt er weniger als 2 x 10–7 Pascal oder zwei Billionstel des Wertes auf der Erde. Deshalb kann Wassereis dort sehr viel leichter sublimieren, also verdampfen, ohne vorher flüssig zu werden. Im Kraterschatten dagegen sollten die Temperaturen –170 Grad Celsius nicht übersteigen; unter diesen Bedingungen kann sich Wassereis durchaus Jahrmilliarden lang halten. Die Radarastronomen vermochten übrigens nur deshalb in die Krater hineinzuspähen, weil die Merkurbahn zur Erdbahn um sieben Grad geneigt ist.

Woher das Eis stammt, ist bislang unklar. Wasser könnte aus dem Planeteninneren ausgegast sein und sich dann niedergeschlagen haben. Eine andere Möglichkeit wäre, daß es mit Meteoriten – Planetoiden oder, was wahrscheinlicher wäre, Kometen – auf den Planeten herabgestürzt ist. Vielleicht hat es sich aber auch bei der Reaktion von Eisenoxid auf der Merkuroberfläche mit Wasserstoff vom Sonnenwind gebildet.

Man weiß nicht einmal, ob das Eis ein Relikt aus der Frühzeit des Planeten oder jüngeren Datums ist; womöglich wird es auch fortwährend erneuert. Weil die Radarsignale bei der Reflexion die anfängliche Ausrichtung in einer Schwingungsebene teilweise verlieren (ihre Echos depolarisiert werden ), muß das Eis mit Staub oder Steinen durchsetzt sein. Möglicherweise liegt es auch unter einer dünnen Staubschicht verborgen oder enthält weitere leichtflüchtige Verbindungen, die mit ihm zusammen eingefroren sind.

Die Entdeckung von Eis auf Merkur dürfte Pläne der NASA und der Europäischen Weltraumagentur ESA für eine neue Merkur-Mission fördern. Dann ließe sich prüfen, ob die Positionen der Radarechos auch in den bislang nicht photographierten Gebieten mit Kratern zusammenfallen. Mit einem Ultraviolett- oder Neutronen-Spektrometer oder besser noch mit Landeprojektilen zur direkten Analyse von Bodenproben wäre zudem Genaueres über Zusammensetzung und Herkunft des Eises in Erfahrung zu bringen.

Die Ergebnisse vom Merkur sollten aber auch dazu anregen, in den polaren Kratern des Erdmondes nach Wassereis zu suchen. Keine Sonde war bisher dafür ausgerüstet – auch nicht der erst vor wenigen Monaten gestartete und wegen eines technischen Defekts nun angeschlagene Orbiter Clementine. Eis auf dem Mond könnte sogar praktische Bedeutung haben, indem es Langzeitaufenthalte in bemannten Stationen erleichtern würde.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1994, Seite 21
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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