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Wasserflöhe machen sich dünn - oder dick, je nach Feind

Diese Kleinkrebse können ihre natürlichen Feinde vermutlich an deren chemischen Ausscheidungen erkennen und sich in ihrer äußeren Gestalt sowie in ihrem Fortpflanzungsverhalten auf die Gegenwart eines bestimmten Räubers einstellen.


Wasserflöhe der Gattung Daphnia gehören zu den Blattfußkrebsen und sind weltweit mit vielen verschiedenen Arten verbreitet. Als Organismen des Zooplanktons leben sie im Süßwasser und ernähren sich überwiegend von Algen. Die Tiere wachsen, indem sie sich in Abständen, die stark von der Temperatur abhängen, häuten und dabei den alten Panzer wie eine leere Hülle abstreifen.

Die in Europa und Nordamerika sehr häufige Art D. pulex bildet für viele Teichbewohner wie Fische und Insekten eine wichtige Nahrungsgrundlage. Wie bei allen lange etablierten Räuber-Beute-Systemen werden die wenige Millimeter großen Krebstiere dabei jedoch nicht vollständig ausgerottet. Eine altbekannte allgemeine Schutzstrategie von Beutetieren ist, ihren Freßfeinden räumlich oder zeitlich auszuweichen. Erstaunlicherweise wurde bei verschiedenen Tier- und Pflanzengruppen in jüngster Zeit aber auch beobachtet, daß sie sich in ihrer körperlichen Entwicklung so an einen bestimmten vorherrschenden Feind anpassen können, daß sie ihm weniger leicht zum Opfer fallen. Für dieses Phänomen bieten Daphnien ein schlagendes Beispiel.

Verschiedene Erscheinungsformen einer Art


Seit langem kennt man Wasserflöhe, die D. pulex sehr ähnlich sind, aber im Kopf-Nacken-Bereich einen sägezahnartigen Kamm tragen, dessen Zacken ebenso wie der Panzer aus Chitin bestehen (Bild 1). Taxonomen hatten die Tiere ursprünglich einer eigenen Art zugeordnet, die sie D. minnehaha nannten; Donald Krueger und Stanley Dodson von der Universität von Wisconsin in Madison fanden Anfang der achtziger Jahre bei Laborexperimenten jedoch heraus, daß es sich in Wahrheit um Varianten von D. pulex handelt, deren besondere Körperform nur eine Reaktion auf bestimmte Umwelteinflüsse ist. Selbst von genetisch identischen Geschwistern (also Tieren eines Klons), wie sie bei der für Wasserflöhe üblichen Fortpflanzung durch unbefruchtete Eier (Parthenogenese) entstehen, bildeten im Labor – je nach Haltungsbedingungen – die einen Nackenzähne aus und die anderen nicht. Biologen sprechen von phänotypischen Variationen desselben Genotyps.

Der entscheidende Faktor für die Entwicklung der Nackenzähne ist dabei die Anwesenheit von Larven der Büschelmücke. Diese Stechmücke der Gattung Chaoborus ist wie Daphnia in mehreren Arten weit verbreitet, und ihre räuberischen Larven leben in Süßwasserseen und Teichen. Experimente ergaben, daß bezahnte Wasserflöhe den Büschelmückenlarven weniger leicht zum Opfer fallen als unbezahnte.

Ein weiterer Unterschied fiel Krueger und Dodson auf: Bezahnte Tiere wurden bei den Versuchen später geschlechtsreif als ihre unbewehrten, genetisch jedoch vollkommen identischen Geschwister, die ohne Kontakt zu Büschelmückenlarven aufgezogen worden waren. Diese Verzögerung interpretierten die Wissenschaftler als Kosten für die Ausbildung der Abwehrstrukturen: Da das entsprechende Material anderswo eingespart werden müsse, bräuchten die Tiere länger, bis sie zum ersten Mal Nachkommen produzieren können – ihren besseren Schutz gegen Räuber erkauften die bezahnten Weibchen also mit einer niedrigeren Fortpflanzungsrate.

Räuberspezifische Reaktionen


Diese Interpretation von Kosten und Nutzen war der Ansatzpunkt meiner Versuche. In ersten Experimenten hatte ich nämlich festgestellt, daß bezahnte Individuen meiner Daphnienklone nicht nur später, sondern pro Brut auch weniger Nachwuchs bekamen als unbezahnte Kontrolltiere; dafür waren ihre Jungen aber größer. Könnte dies ebenfalls einen Schutzmechanismus gegenüber den Chaoborus-Larven darstellen? Immerhin ist bekannt, daß diese gezielt kleine, noch nicht ausgewachsene Wasserflöhe mit einer Körperlänge von 0,6 bis 1,2 Millimetern fressen. Deshalb interessierte es mich, wie die Beutetiere auf Feinde reagieren würden, die – im Unterschied zu den Büschelmückenlarven – bevorzugt große Individuen verzehren.

Der in vielen Teichen vorkommende Rückenschwimmer (Notonecta glauca ) erschien mir für meine Versuche geeignet. Außer vielen anderen Organismen verspeist diese Wasserwanze bevorzugt dicke, große Daphnien. Wie schon ihr Name besagt, schwimmt sie mit dem Bauch nach oben meist dicht unter der Wasseroberfläche und lauert auf Beute.

Bei meinen Experimenten hielt ich D. pulex von zwei verschiedenen Klonen, die aus verschiedenen Seen stammten, in großen wassergefüllten Gefäßen. In diese hängte ich feinmaschige Netze, die teils Büschelmückenlarven und teils Rückenschwimmer enthielten oder aber leer waren (Kontrolle). Durch das Netz waren die Wasserflöhe im Glas geschützt, die Ausscheidungen des jeweiligen Feindes konnten sich aber im Wasser verbreiten. Wie man weiß, vermögen Daphnien diese Ausscheidungen wahrzunehmen und erkennen daran vermutlich den Freßfeind.

Die Jungen der Daphnien wurden nun täglich vermessen – bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie selber Nachkommen geboren hatten. Auf diese Weise habe ich bei einigen hundert Wasserflöhen das Vorhandensein von Nackenzähnen, die Körperlänge, den Zeitpunkt der ersten Eiproduktion und die Anzahl der Jungen ermittelt.

Das Ergebnis war eindeutig. Bei den Kontrollweibchen konnte man die ersten Eier im Mittel am sechsten Tag im Brutraum – einem Hohlraum zwischen Körper und Rückenseite des Panzers – durchscheinen sehen. In Gegenwart der Büschelmückenlarven waren die Daphnien dagegen erst etwa zwei Tage später soweit; dafür hatten sie sich bis zu diesem Zeitpunkt einmal mehr gehäutet als die jünger gebärenden Kontrolltiere und waren somit größer als diese. Dagegen bekamen die meisten Weibchen, die den Rückenschwimmern ausgesetzt waren, ihren ersten Nachwuchs bereits einen Tag früher als die Kontrolltiere.

Auch Anzahl und Größe der Jungen unterschieden sich deutlich: Während unbehelligte weibliche Wasserflöhe in ihrer ersten Brut durchschnittlich vier bis fünf Eier produzierten, brachten es Weibchen beider Klone, die mit Büschelmückenlarven zusammen gehalten wurden, im Mittel nur auf drei bis vier; dafür waren ihre Jungen deutlich größer. Dagegen hatten Weibchen, die den Rückenschwimmern ausgesetzt waren, einen nahezu doppelt so großen ersten Wurf wie die Kontrolltiere, der jedoch aus kleineren Individuen bestand.

Flexible Anpassung


Es gibt in der Ökologie diverse Theorien darüber, welche der Strategien, über die ein Tier im Rahmen seiner genetischen Ausstattung verfügt, es in einer bestimmten Umwelt verfolgen sollte, um möglichst viele überlebensfähige Nachkommen zu haben. Nach einer Hypothese, die David Reznick von der Universität von Kalifornien in Riverside durch Versuche mit Fischen untermauert hat, haben Beutetiere die Tendenz, ihre Größe so zu modifizieren, daß sie für ihre Feinde zu klein oder zu groß werden. Zugleich besteht bei sehr vielen Tierarten – so auch bei den Daphnien – ein Zusammenhang zwischen Größe und Anzahl der Nachkommen.

Auf dieser Grundlage lassen sich meine Versuchsergebnisse zwanglos erklären. Ist ein Feind vorhanden, der mit Vorliebe große Tiere frißt (in diesem Beispiel der Rückenschwimmer), sollten die Tiere früh geschlechtsreif werden und kleine, aber mehr Nachkommen produzieren, die als geschlechtsreife Tiere ebenfalls kleiner bleiben. Das Umgekehrte ist zu erwarten, wenn der Räuber – wie die Büschelmückenlarven – kleine Beutetiere bevorzugt. Dabei beweisen meine Versuche, daß allein chemische Substanzen, welche die Anwesenheit eines Räubers verraten, die Beutetiere zu ihrer phänotypischen Anpassung veranlassen. Da kein direkter physischer Kontakt bestand, war insbesondere eine direkte Nahrungsselektion des Räubers – er frißt einfach so lange, bis nur noch große beziehungsweise kleine Tiere in einer Beutetierpopulation übrig sind – als Ursache ausgeschlosssen.

Experimente von Herwig Stibor am Max-Planck-Institut für Limnologie in Plön bestätigten diesen Befund: Wurde D. hyalina in Wasser gehalten, in dem vorher Goldorfen (Leuciscus idus) geschwommen hatten, reduzierten sich Körpergröße und Alter der geschlechtsreifen Daphnien. Bei Anzeichen für die Anwesenheit dieser Fische, die wie die Wasserwanzen bevorzugt große, ausgewachsene Daphnien fressen, verwendeten die Weibchen offenbar mehr Energie für die Bildung von Eiern und weniger für ihr Körperwachstum (Bild 2).

Eine solche flexible Anpassung an die jeweiligen Lebensbedingungen bietet immer dann Vorteile, wenn die Umwelt sehr variabel ist und fallweise Feinde mit stark differierendem Freßverhalten vorhanden sein können. Unter diesen Umständen entsteht kein über längere Zeit wirksamer Selektionsdruck in ein und dieselbe Richtung, dem die Art durch eine dauerhafte Festlegung auf eine bestimmte Größe oder Nachkommenzahl im Sinne einer Darwinschen Evolution nachgeben könnte.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 25
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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