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Wasserschwall und Überschall

An einer bestimmten Stelle bricht sich schießendes Wasser auf dem Teller, im Spülbecken oder im Auslauf einer Talsperre. Aber wo genau? Die Antwort erfordert einen Ausflug in die Theorie des Überschallflugs.


Wassersprung: Einen Teller abzuspülen ist keine Kunst. Wir halten ihn in einen Wasserstrahl – und übersehen nur zu leicht ein kleines Wunder der Natur.

Nehmen wir einen flachen Teller. Tiefe Suppenteller könnten voll Wasser laufen und das Phänomen in einem kleinen See ertränken. Wir drehen das Wasser nicht zu stark auf, um das, was wir beobachten wollen, nicht über den Tellerrand zu spülen. Sollte auch ein flacher Teller noch zu tief sein, versuchen wir es mit seiner Rückseite, indem wir den Standring des Porzellans als ein provisorisches "Wehr" zum Stau des Wassers verwenden. Wenn wir den Teller waagerecht in den Strom halten und den Strahl, so gut wir können, auf seine Mitte lenken, ist die Strömung kreissymmetrisch um den Wasserstrahl, und diese Symmetrie vereinfacht die Beschreibung. Die Wasserzufuhr lässt sich am Wasserhahn kontrollieren. Der Vorgang hängt außer von der pro Zeiteinheit zufließenden Wassermenge von der Auftreffgeschwindigkeit des Wassers auf dem Teller ab, die sich durch die Wahl der Fallhöhe des Wasserstrahls in Grenzen regeln lässt. Bei sehr dünnem Strahl sollte der Abstand des Tellers vom Wasserhahn nicht so groß sein, dass der Strahl in Tropfen zerfällt, ehe er den Teller erreicht.

Der Teller lenkt das Wasser, ohne dass es spritzt, sanft in die Waagerechte. Der geeignet eingeregelte Wasserstrom "schießt" (wie die Hydrauliker es nennen) zunächst vom Strahl weg als flacher Flüssigkeitsfilm in alle Himmelsrichtungen. Bei einem bestimmten Radius staut er sich in einem "Wassersprung", einem wirbelnd durchströmten Ringwall, in dem der Wasserspiegel dramatisch ansteigt. Hinter dieser "Staustufe" ohne Mauer fließt das Wasser in einer dickeren Schicht und entsprechend langsamer nach außen weiter, um sich schließlich über den Tellerrand zu ergießen.

Wer einmal einen Wassersprung auf dem Teller gesehen hat, entdeckt leicht überall, wo Wasserstrahlen auf feste Wände fallen, kreisförmige, parabolische und anders geformte Wassersprünge: im Waschbecken, in der Badewanne, unter der Dusche und bei heftigen Regenschauern gelegentlich auf dem Asphalt der Straße.

Überschall: Wassersprünge sind an sich erstaunlich genug. Noch bemerkenswerter ist jedoch ihre physikalische Verwandtschaft mit den Stoßwellen, die ein Flugzeug abstrahlt, sobald es schneller als der Schall fliegt. Diese Verwandtschaft ist mehr als eine Analogie. Ihr steht nicht entgegen, dass Schallwellen sich räumlich, Wasserwellen aber nur in einer flachen Schicht an der Oberfläche ausbreiten.

Überschall-Flieger nähern sich nicht nur leise, sondern im Wortsinne unhörbar. Wir können sie kommen sehen, denn das Licht breitet sich (fast eine Million Mal) schneller aus als der Schall. Aber erst wenn das Flugzeug längst über uns hinweg geflogen ist, meldet auch der Schall seine Ankunft – durch zwei kurze, rasch aufeinander folgende Knallwellen ("Bäng-bäng"), die von Bug und Heck des Rumpfes ausgehen. Die Schallwellen, die uns die Nachricht vom Vorbeiflug bringen, kommen nicht von dem Ort, an dem sich das Flugzeug in diesem Augenblick befindet, sondern von der weit zurück liegenden Stelle, von der sie ausgesandt wurden.

Schallwellen und Flachwasserwellen: Der Schallgeschwindigkeit (Druck p, Dichte r, Adiabaten-Exponent g = 1,40), mit der sich Verdichtungswellen in der Luft ausbreiten, entspricht bei Oberflächenwellen auf flachem Wasser die Grundwellengeschwindigkeit (Wassertiefeh, Schwerebeschleunigung g). Wasser, das schneller strömt als die Grundwellengeschwindigkeit, schießendes Wasser also, schwemmt Oberflächenwellen stromab. Diese Wellen können also keine Nachricht von einem möglichen Stau am Tellerrand ins Innere tragen, ebenso wenig, wie die Schallwelle einem Überschallflugzeug vorauseilen kann. Schallwellen und Flachwasserwellen ist gemeinsam, dass Wellen aller Wellenlängen sich mit gleicher Geschwindigkeit fortpflanzen.

Wenn die Fortpflanzungsgeschwindigkeit einer Welle von ihrer Wellenlänge abhängt, hat das Medium eine so genannte Dispersion. Wenn es sie bei Schallwellen gäbe, wäre das katastrophal für die Übertragung von Musik. In Konzertsälen würden sich Töne verschiedener Höhe mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ausbreiten und in jedem Ohr an jedem Ort eine andere Mischung, ein anderes Geräusch, erzeugen.

Wirft man dagegen einen Stein in einen Teich, kann man die Dispersion der (Tiefwasser-) Oberflächenwellen beobachten. Teiche sind für Oberflächenwellen immer "tief", und Wellen laufen darauf um so schneller, je größer ihre Wellenlänge ist (Wellen der Wellenlänge l mit der Geschwindigkeit). Daher sieht man auf der Wasserfläche lange Wellen unter den kurzen durchtauchen und sie vorübergehend auf den Rücken nehmen.

Sprungradius: Aber woher "weiß" das Wasser, wo es vom Schießen zum gemächlichen Abfließen übergehen soll? Der Vorgang ist "komplex". Er setzt sich aus mehreren Prozessen zusammen: Das Wasser

- strömt aus der Leitung, wodurch die Rohrströmung zum Freistrahl mutiert,

- trifft im freien Fall auf den Teller auf,

- wird zum Wandstrahl umgelenkt und "schießt" radial nach außen, mit überkritischer Geschwindigkeit und daher unbeeinflusst von dem Wassersprung, auf den es zu strömt,

- strömt weiter außen sehr langsam auf den Tellerrand zu und

- steilt sich, mittendrin, zum Wassersprung

auf, dessen Lage und Höhe von den Bedingungen der Strömung auf seinen beiden "Ufern" bestimmt wird.

Innerhalb des Wassersprungs selbst ist die Flüssigkeit in heftiger, turbulenter Bewegung – für den Theoretiker etwas vom Schwierigsten (Spektrum der Wissenschaft 12/1997, S. 92). Zugleich ändern sich gewisse Größen des Systems – in diesem Fall Strömungsgeschwindigkeit und Höhe des Wasserspiegels – sehr rasch auf kleinem Raum. Beide Eigenschaften hat der Wassersprung mit der Überschall-Stoßwelle gemeinsam, und die Physiker wählen für beide Probleme ähnliche Lösungswege: Sie setzen ausnahmswei-se das geheiligte Prinzip "Die Natur macht keine Sprünge" außer Kraft, zumindest für die theoretische Modellierung.

Wenn man genau hinschaut, ist der Wasserspiegel im Wassersprung nicht geformt wie eine kantige Treppenstufe. Für die Modellierung ist es jedoch hilfreich, so zu tun, als wäre er es. Die Variable h, welche die Höhe des Wasserspiegels beschreibt, ist also an dieser Stelle unstetig. Manche physikalischen Gesetze sind dann nicht mehr anwendbar, denn sie sind Differenzialgleichungen: In ihnen stehen Größen, die nicht nur stetig, sondern sogar differenzierbar sein müssen, damit die Gleichung überhaupt einen Sinn hat. Der Höhenunterschied zwischen zwei Punkten müsste also rasch gegen null gehen, wenn die beiden Punkte sich einander annähern. Das ist in einer Unstetigkeit nun gerade nicht der Fall.

Also müssen die Physiker für diese Fälle neue Bedingungen ("Übergangsbedingungen") finden, welche die Zustände beiderseits der Unstetigkeit miteinander verknüpfen, und dafür gelegentlich Prinzipien heranziehen, die im differenzierbaren Fall keine Rolle spielen. Bei der Überschall-Stoßwelle ist es interessanterweise das Entropieprinzip: Über den Stoß hinweg kann die Entropie (das thermodynamische Maß für die Unordnung) höchstens zunehmen.

Literaturhinweis


Wassersprünge. Von Jearl Walker. Experiment des Monats, Spektrum der Wissenschaft 06/1981, S. 138.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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