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Wissensvermittlung: Watt erleben

Das „Multimar Wattforum“ im schleswig-holsteinischen Tönning demonstriert, dass Wissenschaft auch Spaß macht. Besucher können spielerisch die faszinierende Zwitterwelt zwischen festem Land und offenem Meer erkunden.


Ein etwa 450 Kilometer langer Streifen der flachen Nordseeküste zwischen den Niederlanden und Dänemark fällt im Rhythmus der Gezeiten zweimal täglich ganz oder teilweise trocken. Dieses Watt ist ein einzigartiger amphibischer Lebensraum. Die Flut spült neben Schlick eine vielfältige Mikrofauna heran, von der sich Muscheln, Schnecken, vielerlei Würmer, Krebse und Fische ernähren. Jeweils bei Ebbe finden See- und Strandvögel einen reich gedeckten Tisch vor.

Das Wattenmeer als Ökosystem ist schon seit langem Gegenstand intensiver Forschung. Besondere Bedeutung kommt dabei den Langzeitbeobachtungen zu, dem so genannten Monitoring. Denn den schmalen Saum zwischen Land und Meer, dessen biologische Vielfalt gerade durch Ungleichgewicht geprägt wird, bedrohen Schadstoffe und unbedachte menschliche Eingriffe. Nur durch Erfassen von Daten über Dekaden hinweg lässt sich herausfinden, wie das empfindliche Ökosystem auf Störungen von außen reagiert, wie man Warnsignale erkennt und welche Schutzmaßnahmen getroffen werden können (Spektrum der Wissenschaft, 5/91, S. 52, und 8/96, S. 16).

Monitoringprogramme haben allerdings ein Image-Problem. In Wissenschaftlerkreisen galten sie lange als wenig spannende Routinearbeit, die schlecht mit Karrieregedanken verträglich und nicht mit bahnbrechenden Erkenntnissen behaftet sei. Zudem hapert es mit der Aufbereitung der Ergebnisse für die breitere Öffentlichkeit: Oft erschöpft sie sich in dürren Pressemitteilungen, aus denen wir über Seehundsterben, Gewässerverschmutzung und Blüten toxischer Algen erfahren.

Das "Multimar Wattforum" in Tönning, gelegen am Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, beschreitet hier nun neue Wege. Eröffnet im Juni 1999, vermittelt dieses Besucherzentrum dem allgemeinen Publikum Forschung und Umweltbeobachtung im Wattenmeer. Kleine Details präsentiert es ebenso wie die großen Zusammenhänge. Förderer der insgesamt 16 Millionen Mark teuren Einrichtung sind das Bundesamt für Naturschutz, die Bundesstiftung Umwelt, das Land Schleswig-Holstein, der Kreis Nordfriesland sowie die Stadt Tönning. Ab dem kommenden Jahr soll es sich als Einrichtung selbst tragen.

Das "Multimar" ist Informationszentrum für den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Es versteht sich als Forum für die Vermittlung wissenschaftlich gewonnener Erkenntnisse. Sie werden teils konventionell in Texten und Bildern, teils spielerisch in Gestalt didaktisch aufbereiteter Erkenntniswege, aber auch im Dialog unterschiedlicher Nutzer und Interessensgruppen erschlossen. Es hat, so der Meeresbiologe Gerd Meurs, Leiter des "Multimar", für die diversen Zielgruppen und Benutzer unterschiedliche Funktionen:

- Der Wissenschaft bietet das "Multimar Wattforum" eine Plattform, auf der ihre Methoden und Inhalte dargestellt werden können,

- für Schulen sowie für ökologisch Interessierte stellt es eine Bildungseinrichtung dar,

- für Urlauber ist es ein Erlebnisraum,

- und schließlich bietet es sich für Konfliktparteien im Spannungsfeld zwischen Naturschutz und wirtschaftlichen Nutzern als Ort der Kommunikation an.

Durch transparente und nachvollziehbare Darstellung der Zielsetzungen und Inhalte versucht das "Multimar" für mehr Akzeptanz des Wattenmeerschutzes bei allen Interessengruppen zu werben. Wenn deutlich wird, warum Salzwiesen für seltene Insekten wichtig sind, wie Seehundsbänke geschützt und die Nahrungsgrundlagen für die zahlreichen Schwärme von Zugvögeln gesichert werden können, werden mehr Menschen – Einheimische wie Urlauber – größeres Verständnis für die Belange des sensiblen Ökosystems Wattenmeer entwickeln.

Die Ausstellung hat mehrere gleichwertige Schwerpunkte. Phänomene, die sich tagtäglich im Watt selbst beobachten lassen, werden aufbereitet und durch Vermittlung von Hintergrundwissen erschlossen und verständlich gemacht. Kinder als besondere Zielgruppe werden in einem speziell ausgestatteten Bereich betreut und erschließen sich unter geschulter Aufsicht ihr Verständnis durch eigene Beobachtungen. Die geräumige Aquarienzeile stellt typische Wattlebensräume wie Miesmuschelbänke oder Seegraswiesen dar. Allerdings kommt die relativ unspektakuläre Lebenswelt des Wattenmeers nicht ganz ohne ergänzende Attraktionen wie etwa Steingründe oder das Helgoländer Felswatt aus, die ebenfalls ihre Heimat im "Multimar" gefunden haben.

Die Stärke einer Muschelbank hinter Glas liegt gleichwohl in der Entdeckung des vordergründig Unscheinbaren: das gleichmäßige Schlagen der Filterbeine unzähliger Seepocken, die Wahrnehmung der grünen, gut getarnten Seenadel zwischen wogenden Seegrasblättern. Kernstücke der Ausstellung sind eigens für diesen Zweck gestaltete vertikale "Koffer", die wie eine Muschel zweiklappig sind und sensorgesteuert auf- und zugehen, wenn sich Besucher nähern oder entfernen. Hier werden Themen der Umweltbeobachtung wie zum Beispiel Klima, Nationalpark, Fischerei oder Küstenschutz beleuchtet, und Schlüsselfunktionen und -prozesse des Ökosystems wie Fortpflanzung oder Produktion erschlossen.

Das gemeinsame Dach aller dieser Themen und Ausstellungselemente ist das Monitoring- und Forschungsprogramm. Seit 1994 wird im gesamten Nordsee-Wattenmeer von Esbjerg in Dänemark über Deutschland bis Den Helder in den Niederlanden das "Trilateral Monitoring and Assessment Program" (TMAP) durchgeführt. Der schleswig-holsteinische Teil fließt in die Ausstellung ein. Das TMAP ist ein ökosystemares Umweltbeobachtungsprogramm mit einem umfassenden Anspruch. Leitthemen (so genannte "Issues of Concern") sind gegenwärtige oder zu erwartende Problemfelder im Wattenmeer, zum Beispiel Klimaänderungen und touristische Aktivitäten. Für jedes Problemfeld wurden Hypothesen oder plausible Annahmen formuliert, aus denen Parameter abgeleitet wurden.

Das TMAP führt Daten der unterschiedlichsten Messprogramme diverser Fachrichtungen zu einem Querschnittsprofil zusammen: Klima- und Wetterdaten, Wattmorphologie und -topographie, Ökologie, Hydrologie, Fernerkundung und Sozio-Ökonomie. Behörden und Institutionen der deutschen Wattenmeerküstenländer Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein sowie des Bundes arbeiten gemeinsam bei der Durchführung des Programms.

Das TMAP hat in erster Linie laufende Messprogramme zu einem ökosystemaren Ansatz zusammengeführt. Für eine Reihe von Parametern konnten jedoch aus unterschiedlichen Mitteln in den vergangenen Jahren neue Programme geschaffen werden, beispielsweise die Erfassung der räumlichen Verteilung der Miesmuschelbänke und ihrer Dynamik, oder ein Messprogramm für die Sedimente und Bodenfauna des Eider-Ästuars und ihre Schadstoffbelastung. Die Stärke des TMAP gegenüber anderen Monitoringprogrammen liegt in dem relativ einheitlichen und eng gefassten Operationsfeld Wattenmeer, im Zusammenwirken und im Austausch innerhalb des heterogenen Disziplinengemenges sowie in der Breite seines thematischen Spektrums. Das TMAP ist eingebunden in die trilaterale Zusammenarbeit der Umweltminister der drei Wattenmeeranrainer.

Das "Multimar Wattforum" hatte einen guten Start. Im ersten Jahr wurden 170000 Besucher gezählt. Dieser Erfolg zeigt, dass die Öffentlichkeit wissenschaftliche Ergebnisse in-teressiert aufnimmt, wenn diese geeignet aufbereitet und verständlich präsentiert werden. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass es ansonsten in der Region an vergleichbaren Attraktionen mangelt. Das "Multimar" hat hier zweifellos den Charakter einer Initialzündung mit Sogwirkung im sekundären und tertiären Sektor.

Eines jedoch wird das "Multimar" nur schwer aufhalten können: den Trend zu weniger Forschung und weniger anspruchsvollem Monitoring im Umweltbereich, der in der Finanznot der öffentlichen Hand, aber letztlich auch in der Wahl politischer Prioritäten begründet ist. Das schwächste Glied des trilateralen Wattenmeermonitorings nämlich ist die begleitende Forschung, die in der Konzeptionsphase des Programms als die unentbehrliche flexible Ergänzung des vordefinierten Monitorings erdacht wurde. Sie scheiterte bislang am Mangel politischer Zuwendung und folglich an Ressourcen. Bleibt zu hoffen, dass sich Katastrophen wie das Seehundsterben 1988 dennoch nicht wiederholen und dass "Multimar" nicht nur Umwelt-, sondern auch Verantwortungsbewusstsein bei allen Menschen im Lande weckt.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2000, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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