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"Weißes Gold aus Sibirien" - eine Ausstellung arktischer Gerätschaften in Hamm


Im Jahre 1987 begannen russische Archäologen auf der Tschuktschen-Halbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens mit Grabungen, in deren Verlauf sie außergewöhnliche Fundstücke eines Volkes bergen konnten, das sich von alters her durch Jagd auf Meeressäuger und Fischfang ernährte. Durch die heute gemeinsam mit internationalen Fachkollegen vorangetriebenen Arbeiten konnten allein in Ekven – nahe der Siedlung Uelen an der Küste der Beringstraße gelegen – bis 1991 mehr als 100 Gräber mit Beigaben aus der Zeit des ersten vor- und des ersten nachchristlichen Jahrtausends freigelegt und untersucht werden. Es handelt sich somit um das bislang größte bekannte Gräberfeld der sibirischen Arktis, das einen nachhaltigen Eindruck von Leben und Kultur eines Urvolkes der Region, der tschuktschischen Paläoeskimos, vermittelt.

Die mühsame, durch den Permafrost erschwerte Feldarbeit wurde durch den überdurchschnittlich guten Erhaltungszustand der Fundgegenstände belohnt. Etwa 400 von ihnen sind zu einer Sonderschau zusammengefaßt, die nach Ausstellungen in Tübingen, München, Moskau und Zürich nun – voraussichtlich zum letzten Mal im deutschsprachigen Raum – im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm zu sehen sind.

Die Kunst- und Kulturwelt der Paläoeskimos war eng mit der Waljagd verbunden, die – von der geringen Tiefe der Beringstraße von nur etwa 30 Metern begünstigt – dort vor ungefähr 3000 Jahren begann. Wichtigstes und zugleich technisch hochentwickeltes Jagdgerät war die Harpune, die vom Kajak aus geworfen wurde. Mehr als einhundert Exponate dokumentieren in der Ausstellung eindrucksvoll die Bedeutung und Schönheit der einzelnen Waffenteile (Kopf, Schaft und Flugstabilisator), deren kunstvolle Ornamentierung die inneren Funktionsstrukturen nachzeichnet. Bevorzugtes Material der Schnitzer war das Walroßelfenbein, dessen Oberfläche glattglänzend oder matt, hellgelb oder braun sein kann.

Der heckflossenartige Stabilisator – dessen Funktion sich erst aus dem Fund einer nahezu vollständig erhaltenen Harpune in Ekven erschloß – wurde stets am aufwendigsten verziert (Bild 1). In die schmetterlingsförmigen Flügel sind häufig tierische Symbole eingraviert, oder sie enthalten geschnitzte Tierköpfe oder Masken, die ihrerseits von zoomorphen Ornamenten flankiert sind.

Offenbar gestanden die Küsten-Tschuktschen ihrem wichtigsten Jagdgerät eigenes Leben zu; es sollte den Jäger vor den Unbilden seiner Tätigkeit schützen und ihm das notwendige Jagdglück verschaffen. Zugleich enthalten die Schnitzereien Botschaften an die Beutetiere und ihre als ebenbürtig anerkannte Seelenwelt. Mensch und Tier wurden als Glieder eines Gesamtsystems verstanden und dieser Mythos als kulturelle Tradition in Form mündlicher Überlieferung an die Nachkommen weitergegeben. (Eine tschuktschische Schriftsprache wurde erst 1930 fixiert.)

Außer den Jagdwaffen sind in Hamm verschiedene Gerätschaften des Alltags sowie Schmuckstücke prähistorischer Eskimos ausgestellt. Die von den beiden russischen Wissenschaftlern Michail Bronschtein und Tamerlan Gabujew eingerichteten Vitrinen präsentieren Meißel und Meißelgriffe, Ulumesser (Frauenmesser), Keramikstempel, Hacken und Nadeln sowie Broschen, Masken und Amulette. Die Funktion vieler kunstvoll angefertigter ritueller Gegenstände ist zum Teil noch nicht verständlich. Bei der in Bild 2 dargestellten mondförmigen Miniaturmaske beispielsweise handelt es sich vermutlich um ein Amulett, das um den Hals getragen wurde, worauf die ösenartigen Öffnungen im oberen Rand und der Fundort im Grab (oberhalb des Brustkorbes) hinweisen.

Beschränkten sich die bisherigen Sonderschauen auf die Präsentation tschuktschischer Funde aus dem Gräberfeld in Ekven, so sind ihnen in Hamm erstmals Zeugnisse der Yuit-Eskimos gegenübergestellt, die Schweizer Archäologen unter der Leitung von Hans-Georg Bandi seit Ende der sechziger Jahre bei Grabungen auf der zu Alaska gehörenden Sankt-Lorenz-Insel sichern konnten (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1989, Seite 40) und die das Historische Museum in Bern als Leihgabe überlassen hat.

Ein angestrahlter blauer Teppich – optisches Symbol für die Beringstraße – trennt die beiden Ausstellungsbereiche im Gustav-Lübcke-Museum. Der von Vitrine zu Vitrine schreitende und vergleichende Betrachter vermag so unmittelbar die Gemeinsamkeiten beider Kulturen festzustellen. Offensichtlich gab es zwischen den nur durch die Meerenge getrennten prähistorischen Einwohnern Alaskas und der Tschuktschen-Halbinsel zahlreiche Verbindungen, die erst durch die politische Grenzziehung nach dem Verkauf von Alaska an die Vereinigten Staaten im Jahre 1867 weitgehend unterbrochen wurden.

Des weiteren versucht das Gustav-Lübcke-Museum, die Alltagswelt der Tschuktschen und Eskimos nachzustellen. So vermitteln der älteste erhaltene Kajak sowie Rekonstruktionen von Kleidungen und Gesichtern prähistorischer Eskimos reiche Aufschlüsse über das Leben einer vergangenen Zeit.

Von den heutigen Bewohnern Tschukotkas, an denen die Tschuktschen mit 15000 Angehörigen nur noch einen Anteil von sieben und die Eskimos einen von 0,9 Prozent haben, sowie ihren Schwierigkeiten und Ängsten berichtet eine begleitende Sonderschau der Umweltorganisation Greenpeace.

Museumspädagogische Begleitprogramme, Führungen, eine Vortragsreihe sowie ein internationales Symposium zum Thema "Aufnahme, Erhaltung und Nutzung arktischer Ökologien" wenden sich an interessierte Besucher und Wissenschaftler gleichermaßen. Die Ausstellung, die noch bis zum 21. Mai zu sehen ist, und das Rahmenprogramm laden ein, die 3000 Jahre alte Kunst sibirischer Waljäger kennenzulernen. (Geöffnet täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr; der Katalog kostet 38,- Mark.)


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1995, Seite 105
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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