Wenn Hände falsch fühlen
Ähnlich wie die Augen bei optischen geometrischen Täuschungen können sich auch Hände verschätzen. Manchmal macht der Tastsinn sogar die gleichen Fehler.
Meistens dürfen wir unseren Sinnen trauen. Sehr präzise erzählen sie uns, was mit unserer Umgebung los ist. Doch es gibt Ausnahmen. Dann werden wir getäuscht.
Allgemein bekannt sind optische Täuschungen, zum Beispiel bei räumlichen Proportionen. Solche geometrischen Illusionen nutzten schon Baumeister und Künstler der Antike. Um räumliche Tiefe zu erzeugen, wenden etwa Bühnenbildner sie auch heute an. Denn in vielen Fällen sieht der Mensch die Verhältnisse weiterhin trügerisch, selbst wenn er um den Trick weiß.
Im 18. und noch stärker im 19. Jahrhundert begannen Wissenschaftler, optische Täuschungen genauer zu erforschen. Sie benannten einige davon nach den Namen der Entdecker. Die Forscher glaubten bis ins 20. Jahrhundert hinein, nur das Auge als einziges Sinnesorgan lasse sich in der Weise beirren. Fehlwahrnehmungen schrieben sie dem Aufbau des Auges zu. Dagegen postulierte die damals aufblühende Gestalttheorie, solche Fehlleistungen verursache das Gehirn. Es setze die wahrgenommenen Einzelteile einer Figur zu einem Gesamtbild zusammen. Die Täuschungen entstünden durch Wechselwirkungen zwischen den Wahrnehmungen der Einzelteile. Also nahmen die Gestalttheoretiker an, das Gehirn würde alle Sinne gleich behandeln. Selbst Täuschungen mussten darum für alle Sinne die gleichen sein.
Dass dies nicht grundsätzlich stimmt, erkannte 1933 der holländische Gestaltpsychologe Georg Revesz. Doch er entdeckte auch, dass zumindest die so genannte Müller-Lyer'sche Täuschung beide Sinne betrifft. (Hierbei erscheint die gleiche Linie länger, wenn die Struktur etwa durch Pfeile an beiden Enden verlängert wird.) Trotz der langen Forschungsgeschichte konnten die Wissenschaftler bis heute nicht grundsätzlich klären, inwieweit Bau und Funktionsweise des Auges oder die Verarbeitung der Sinnesreize im Gehirn eine optische Illusion hervorrufen. Sie vermochten hierfür immer noch keine übergeordnete Theorie zu entwickeln.
Erst seit etwa vierzig Jahren erforschen Psychologen geometrische Täuschungen des Tastsinns systematisch. Unter anderem wollen sie dadurch auch die visuellen räumlichen Illusionen besser verstehen. Denn Fälle von ähnlichen Erscheinungen bei beiden Sinnen würden auf eine Beteiligung derselben oder vergleichbarer Gehirnmechanismen hinweisen. Andernfalls, wenn eine Figur nur eine optische Illusion hervorruft, könnte es sich eher um einen Mechanismus im Auge handeln.
An sich erfassen Gesichts- und Tastsinn die Welt auf ganz verschiedene Art. Der Gesichtssinn ist ein Distanzsinn, der einen großen Bereich des Raumes praktisch auf einmal erfassen kann. Der Tastsinn als Kontaktsinn nimmt – in vielen Schritten nacheinander – einen kleinen Ausschnitt des Umfeldes auf. Allerdings kann die Person zum Ausgleich Körperteile bewegen oder selbst im Raum umhergehen. Streng genommen werden bei einer taktilen Wahrnehmung nur die Erregungen der Tastsinneszellen in der Haut verrechnet. Doch beim Abtasten von Figuren erfasst das Zentralnervensystem auch Stellung und Bewegung der Gelenke sowie die motorischen Befehle zur Bewegung von Fingern, Händen und Gliedmaßen. Physiologen sprechen darum genauer nicht vom Tastsinn, sondern vom haptischen Sinn. Der Einfachheit halber verwende ich im Folgenden aber in den Regel den Begriff taktil, wenn ich haptisch meine.
Täuschende Pfeile
In Vergleichsstudien, wie sie hier vorgestellt werden, bewegen die Versuchspersonen nur Hände oder Arme. Gewöhnlich sollen sie mit einem Finger tasten. Die Wissenschaftler legen ihnen für beide Sinne im Prinzip die gleichen Bilder vor. Nur sind die Formen im einen Fall gezeichnet, im anderen stehen die Linien reliefartig hervor. Beim Tasten operieren die Probanden mit verbundenen Augen.
Besonders aufschlussreich ist oft der Vergleich mit blinden Personen, um die beteiligten physiologischen Mechanismen zu klären. Für manche Illusionen macht es sogar einen Unterschied, ob jemand von Geburt an blind ist oder erst später im Leben das Augenlicht verlor. Spät Erblindete nutzen, wie Sehende, beim Tasten mentale Bilder, die von Seherfahrungen stammen. Andererseits kompensieren von Geburt an Blinde vieles durch einen hervorragend geübten Tastsinn. Der Vergleich gibt dennoch Aufschluss, ob eine geometrische Illusion allein auf visueller Erfahrung beruht. Wenn umgekehrt eigenständige taktile Prozesse mitwirken, erleben auch Geburtsblinde die taktile Täuschung.
Wir haben drei bekannte geometrische Illusionen untersucht:
- die Müller-Lyer'sche Täuschung,
- die Vertikalen-Täuschung
- und die Illusion von Delbœuf.
Der in Straßburg und München tätige Psychologe und Soziologe Franz Carl Müller-Lyer (1857-1916) beschrieb 1889, dass man die wahrgenommene Länge einer geraden Linie durch Pfeilspitzen an den Enden verändern kann. Insbesondere wirkt die Linie länger, wenn die Pfeilspitzen von außen her zur Linie zeigen. Gleiches gelingt mit anderen Strukturen an den Enden der Linie, die das gesamte Gebilde verlängern. Viele Studien haben erwiesen, dass der Tastsinn der gleichen Illusion unterliegt. Auch Blindgeborene erleben diese Täuschung.
Wie groß der Effekt bei sehenden Erwachsenen ist, maßen vor zehn Jahren japanische Forscher von der Universität Niigata. Die Versuchspersonen sahen auf einer Tafel nebeneinander zwei Linien, an deren Enden rechtwinkelige Pfeilspitzen saßen. Die linke Linie blieb immer gleich lang: drei Zentimeter, wobei die Pfeilspitzen zur Linie hin zeigten. An der rechten Linie wiesen die Pfeilspitzen nach außen; sie verlängerten die Linie nicht. Die Länge dieser rechten Linie veränderte der Experimentator jeweils, und die Teilnehmer sollten angeben, wann beide Linien ihrer Ansicht nach gleich lang waren.
Im Sehtest überschätzten die Versuchspersonen die linke Linie um den Faktor 1,3. Das heißt, sie hielten den Strich mit den von außen kommenden Pfeilarmen für dreißig Prozent länger, als er wirklich war, und wählten auf der rechten Seite eine um den entsprechenden Anteil zu lange Figur. Das gleiche Ergebnis kam heraus, als diese Personen bei verbundenen Augen mit einem Finger die gleichen Figuren fühlen sollten. Auch hierbei erschien ihnen die Figur mit den nach außen ragenden Strichen um fast ein Drittel länger als in Wirklichkeit.
Die optische und die haptische Müller-Lyer'sche Täuschung stimmen noch in anderer Hinsicht überein. Die Illusion erscheint etwa in beiden Fällen umso ausgeprägter, je spitzer die Pfeile sind. Dieses Phänomen entdeckte 1966 Ray Over von der Universität Otago (Neuseeland). Auch nimmt die Fehleinschätzung bei beiden Sinnen während wiederholter Versuche ab, sogar dann, wenn der Versuchsperson der Sinnesfehler nicht bewusst wird. Den Gewöhnungseffekt wiesen Rita Rudel und Hans-Lukas Teuber vom Massachusetts Institute of Technology bereits 1963 nach.
Kopf stehende Buchstaben
Die Vertikalen-Täuschung – auch Mittelsenkrechten-Täuschung oder Horizontal-Vertikal-Täuschung genannt – lässt einen senkrechten Balken länger erscheinen als einen gleich langen waagerechten, auf dem der senkrechte Balken steht. Diese Illusion – Höhe gegen Breite – nutzte der Architekt Eero Saarinen, als er den Gateway Arch entwarf, das Wahrzeichen von Saint Louis in Missouri.
Der gleiche Illusionseffekt tritt beim Tasten auf. Er ist sogar gleich groß. Sehende Personen überschätzen die senkrechte Linie in beiden Fällen um zwanzig Prozent. Dieselbe Täuschung erfahren auch blinde Menschen, selbst Personen, die niemals sehen konnten.
In den Wahrnehmungstests spielen die Psychologen mit Figuren wie einem spiegelverkehrten "L" oder einem Kopf stehenden "T". Aus den Ergebnissen visueller Tests schlossen sie früher, die natürliche Krümmung der Netzhaut trage teilweise Schuld an der Täuschung. Sie vermuteten zugleich, dass manchmal, etwa beim umgedrehten "T", auch mitwirkt, dass der senkrechte Strich den waagerechten in der Mitte unterbricht, man also praktisch zwei kurze waagerechte Balken sieht, die der Verarbeitungsmechanismus nicht gemeinsam als eine lange Linie bewertet. Dieser Effekt scheint genauso auch beim Fühlen aufzutreten: Beim umgedrehten "T" erlebt man nämlich auch beim Tasten die senkrechte Linie länger als bei einem verkehrten "L".
Andererseits rechnet das Gehirn beim Ertasten einer Figur offensichtlich die Bewegung der Gliedmaßen mit ein. Dies wies vor einigen Jahren Tong Wong von der Universität Stirling (Schottland) nach. Meistens liegt das zu ertastende Bild vor der Versuchsperson flach auf dem Tisch. Das bedeutet aber, dass diese den Finger, die Hand oder den Arm vom Körper weg bewegen muss, wenn sie den senkrechten Balken abtastet. Für den waagerechten Balken bleibt die Bewegung etwa im gleichen Abstand zum Körper. Ähnliches könnte bei der visuellen Illusion mitwirken: Auch hierbei liegt die Zeichnung oft flach auf dem Tisch, und die Versuchsperson schaut sozusagen tiefer in den Raum, wenn ihre Augen den senkrechten Balken abfahren.
Anscheinend erfordern jedoch beim Tasten die verschiedenartigen Bewegungen unterschiedliche mechanische Belastungen der Muskeln und Knochen. Es dauert außerdem länger, den Arm vom Körper fort oder zu ihm hin zu bewegen. Wir wollten darum wissen, was geschieht, wenn man die Figuren zum Er tasten senkrecht darbietet, also an der Wand oder auf einer aufgehängten Tafel. Eigentlich müsste der Effekt jetzt verschwinden, und beim verkehrten "L" tut er das tatsächlich. Beim Kopf stehenden "T" bleibt er allerdings bestehen. Nach unserer Vermutung macht sich in dem Fall wie bei der visuellen Illusion die Zweiteilung bemerkbar.
Zur taktilen Vertikalen-Täuschung trägt außerdem die Größe der Bewegung bei. Forscher von der Universität von Illinois entdeckten: Die Einschätzung wird besser, wenn die Figur so klein ist, dass der Zeigefinger zum Abtasten genügt. Die größte Illusion tritt auf, wenn man den ganzen Arm bewegen muss. Solche ausgreifenden Bewegungen sind wohl zum Abtasten ursprünglich nicht vorgesehen. Es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet unsere Hände unsere besten Tastinstrumente darstellen.
Der Bewegungseffekt dürfte unerkannt den Ausgang früherer Tastexperimente beeinflusst haben, wie Vergleichsstudien derselben amerikanischen Wissenschaftler zeigten. Sie ließen die Versuchsteilnehmer beim Tasten mit dem Finger manchmal den Unterarm auf den Tisch auflegen, manchmal in der Luft halten. Tatsächlich war die Illusion bei erhobenem Arm stärker.
Als Nächstes stellten diese Psychologen verschiedene Teile des Armes ihrer Probanden durch übergestülpte Röhren ruhig. Ein Teil der Versuchsteilnehmer konnte beim Tasten keinen Finger mehr krümmen und auch nicht das Handgelenk oder den Ellbogen rühren; sie mussten dazu also den ganzen Arm im Schultergelenk bewegen. Andere Teilnehmer erhielten Röhren, in denen Schulter- und Ellbogengelenk arretiert waren. Die Finger blieben aber beweglich. Wie erwartet ergab die Bewegung des ganzen Armes von der Schulter aus einen starken Täuschungseffekt, während bei einer Bewegung allein des Fingers eine sehr geringe Fehleinschätzung auftrat, wenn überhaupt. Das Ausmaß des Schätzfehlers hängt, wie wir herausfanden, auch von der Größe der zu ertastenden Figur ab. Je größer der erfasste Raum, umso ausgeprägter wird die Fehleinschätzung. Vermutlich verrechnet das Gehirn dabei auch die Muskelkraft gegen die Schwerkraft.
Analytisches Tasten
Bei der dritten hier besprochenen Illusion, der Täuschung von Delbœuf (benannt nach Joseph Delbœuf, 1831- 1896), geht es um die Größe eines von einem anderen umschlossenen Kreises. Man hält den inneren Kreis für kleiner, als er wirklich ist. Als optische Täuschung ist diese Fehleinschätzung lange bekannt.
Wie nun eine von uns (Hatwell) zeigte, tritt diese Illusion beim Tasten nicht auf. Sie kommt selbst dann nicht vor, wenn die Verhältnisse der Kreise für die optische Täuschung optimal sind. Genauso wenig erleben Geburtsblinde oder spät Erblindete diese Täuschung.
Hatwell beobachtete die Versuchspersonen genauer. Sie erkannte, dass die Tastbewegungen hierbei einem völlig anderen Schema folgen als beim Sehen. Die Probanden untersuchen das Objekt von der Mitte ausgehend. Sie fahren zunächst mit der Kuppe des Zeigefingers nur am inneren Kreis entlang und wechseln dann zum Vergleichskreis daneben. Den äußeren Kreis beachten sie dabei im Grunde gar nicht.
Dieses Ergebnis weist auf einen grundsätzlichen Unterschied beider Sinne hin. Der Tastsinn arbeitet viel stärker analytisch: Er zerlegt die Figuren in Einzelelemente, die er nacheinander erfasst.
Wie sich zeigt, treten nicht alle optisch-geometrischen Täuschungen auch beim Fühlen mit den Händen auf. Manche sind zwar beiden Sinnen gemeinsam. Sie könnten folglich weitgehend auf übergeordneten Eigenschaften des Gehirns beruhen, scheinen also nicht von den einzelnen Sinnesorganen selbst abzuhängen. Doch offenbar existieren auch sinnesspezifische Mechanismen sowohl für das Auge als auch für die Hände. Insgesamt lässt sich der Tastsinn weniger leicht täuschen.
Literaturhinweis
Toucher pour connaître. Psychologie cognitive de la perception tactile manuelle. Von Yvette Hatwell, Arlette Streri und Édouard Gentaz. PUF, 2000.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2002, Seite 74
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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