Astronomie: Wenn Sterne zusammenprallen
Das Feuerwerk, das die Kollision zweier Sterne entfacht, könnte ein hübscher Anblick sein - solange man sich nicht allzu nahe befände. Entgegen bisheriger Auffassung sind solche kosmischen Verkehrsunfälle in bestimmten Regionen unseres Milchstraßensystems recht häufig.
Von allen möglichen Katastrophen, die dem Leben auf der Erde ein Ende setzenkönnten, wäre der Zusammenprall der Sonne mit einem anderen Stern wohl die dramatischste. Falls das heranrasende Projektil ein Weißer Zwerg wäre – ein überdichter Stern mit der Masse der Sonne, aber nur mit einem Hundertstel ihres Durchmessers – würde die Menschheit ein gewaltiges Feuerwerk erleben. Der Weiße Zwerg würde mit über 600 Kilometern pro Sekunde in unser Tagesgestirn eindringen und dabei eine heftige Stoßwelle erzeugen, welche die gesamte Sonne zusammendrücken und so weit aufheizen würde, dass auch außerhalb ihres Kerns Fusionsreaktionen zündeten.
Nur eine Stunde würde der Weiße Zwerg benötigen, um die Sonne komplett zu durchschlagen – und dabei irreversiblen Schaden anzurichten. Die überhitzte Sonne würde in dieser Zeit so viel Energie freisetzen wie sonst in 100 Millionen Jahren. Durch den aufgebauten Druck würde Gas so schnell herausspritzen, dass es das Sonnensystem verlassen könnte. Innerhalb einer einzigen Stunde wäre die Sonne zerrissen. Der Verursacher dieser Katastrophe, der Weiße Zwerg, würde unterdessen fast unbeschadet seinen Weg fortsetzen – freilich, wir wären nicht mehr da, um uns über diese Unfallflucht aufzuregen.
Bis vor kurzem hielten die Astronomen es geradezu für lächerlich, stellare Kollisionen zu untersuchen. Denn die Abstände der Sterne in der Sonnenumgebung sind einfach zu groß, als dass es je zu Zusammenstößen kommen könnte. Andere Kalamitäten werden in ferner Zukunft über die Sonne (und die Erde) hereinbrechen, aber die Kollision mit einem anderen Stern ist extrem unwahrscheinlich. Am Anfang des 20. Jahrhunderts führte der britische Astronom James Jeans eine einfache Berechnung durch, die vermuten ließ, dass nicht ein einziger der 100 Milliarden Sterne der Galaxis jemals mit einem anderen Stern zusammengestoßen ist.
Aber das bedeutet nicht, dass Kollisionen wirklich ausgeschlossen sind. Die Annahmen – und damit auch das Ergebnis – von Jeans’ Berechnungen gelten für die Umgebung der Sonne, aber nicht für andere, exotische Gegenden des Milchstraßensystems. Dichte Sternhaufen zum Beispiel stellen besonders unfallträchtige Regionen dar. In diesen Anhäufungen von Sternen haben die Beobachter Objekte aufgespürt, deren Existenz nach den Regeln der gewöhnlichen Sternentwicklung verboten wäre. Aber diese Himmelskörper lassen sich als Folgeprodukt stellarer Kollisionen erklären. Zusammenstöße können deshalb die langfristige Entwicklung ganzer Sternhaufen verändern – und die gewaltigsten Kollisionen lassen sich quer durch das halbe Universum hindurch verfolgen.
Die Entdeckung der Quasare im Jahre 1963 brachte einige skeptische Astronomen auf die Idee, stellare Kollisionen ernst zu nehmen. Viele Quasare strahlen so viel Energie ab wie 100 Billionen Sonnen. Da ihre Helligkeit innerhalb eines Tages stark fluktuieren kann, muss ihre Energie erzeugende Region kleiner sein als die Strecke, die das Licht an einem Tag zurücklegt – also etwa so groß wie das Sonnensystem. Wenn man Millionen von Sternen in einem solch kleinen Volumen konzentriert, so fragten sich die Astronomen, würde es dann zu Zusammenstößen kommen? Und könnten diese Kollisionen die gewaltigen Energien der Quasare freisetzen?
Um das Jahr 1970 wurde jedoch klar, dass die Antwort auf die zweite Frage »Nein« lautet. Zudem können stellare Kollisionen nicht die dünnen Materiestrahlen erklären, die so genannten Jets, die aus dem Zentrum der Quasare herausschießen. Die einleuchtendste Erklärung lieferten schließlich extrem massereiche Schwarze Löcher. Allerdings haben kürzlich einige Forscher vorgeschlagen, dass Sternkollisionen dazu beitragen könnten, diese Schwarzen Löcher mit Materie zu füttern.
Während die Fachleute für extragalaktische Systeme also die Idee der stellaren Zusammenstöße aufgaben, stürzten sich jene Kollegen, die Vorgänge innerhalb der Galaxis untersuchen, geradezu darauf. Der Satellit Uhuru, 1970 mit der Aufgabe gestartet, den Himmel nach Röntgenquellen abzusuchen, hatte über hundert helle Quellen im Milchstraßensystem entdeckt. Zehn Prozent dieser neuen Objekte fanden sich in den dichtesten Sternenansammlungen, den Kugelsternhaufen. Solche Haufen enthalten aber nur 0,01 Prozent der Sterne des Milchstraßensystems. Aus irgendeinem Grund enthalten Kugelsternhaufen also einen überproportional hohen Anteil an Röntgenquellen.
Eine Welt, in der Sterne Sterne fressen
Um das Rätsel von einer anderen Seite aus zu betrachten, fragen wir, welcher Prozess denn eigentlich die Röntgenstrahlung produziert. Die Astronomen vermuten, dass es sich bei den Röntgenquellen um Paare von Sternen handelt, von denen einer bereits sein normales Dasein beendet hat und zu einem Neutronenstern oder Schwarzen Loch kollabiert ist. Dieser ehemalige Stern »ernährt« sich nun kannibalisch von seinem Partner und heizt dabei das Gas so stark auf, dass es Röntgenstrahlung aussendet. Derart morbide Sternenpaarungen sind jedoch selten. Die gleichzeitige Entwicklung zweier neugeborener Sterne in einem Doppelsystem erzeugt nur in einem von einer Milliarde Fälle eine intensiv strahlende Röntgenquelle.
Wie wird in den Kugelsternhaufen diese Unwahrscheinlichkeit überwunden? Es dämmerte den Astronomen, dass die hohe Sternendichte der entscheidende Faktor ist. Eine Million Sterne sind in den Kugelsternhaufen in ein Volumen gestopft, das nur wenige Dutzend Lichtjahre Durchmesser hat – ein ähnliches Volumen in der Umgebung der Sonne enthielte gerade einmal hundert Sterne. Wie in einem Bienenschwarm bewegen sich die Sterne auf ständig wechselnden Bahnen. Solche mit niedriger Masse können aus dem Haufen hinausgeschleudert werden, wenn sie nahe an massereicheren Einzel- oder Doppelsternen vorüberziehen und dabei Energie aufnehmen. Dieser Prozess wird als »Verdampfung« bezeichnet, da er dem Entweichen von Molekülen aus einer erhitzten Flüssigkeit ähnelt. Die zurückbleibenden Sterne, die Energie verloren haben, konzentrieren sich noch enger zum Zentrum des Haufens hin. Im Laufe der Zeit werden die dicht gepackten Sterne anfangen, miteinander zu kollidieren.
Freilich ist sogar in einem Kugelsternhaufen der Abstand zwischen den Sternen weitaus größer als ihr Durchmesser. Aber im Jahr 1975 zeigten Jack G. Hills und Carol A. Day, damals an der Universität von Michigan in Ann Arbor, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenstoß nicht einfach vom geometrischen Wirkungsquerschnitt eines Sterns abhängt. Weil sich die Sterne in einem Kugelhaufen – nach kosmischen Maßstäben – im Schneckentempo bewegen, nämlich mit zehn bis zwanzig Kilometern pro Sekunde, hat die Schwerkraft eine Menge Zeit, um während naher Vorübergänge auf die Sterne einzuwirken. Ohne Schwerkraft könnten zwei Sterne nur miteinander kollidieren, wenn sie sich direkt aufeinander zu bewegen. Die zwischen beiden wirkende Schwereanziehung verbiegt jedoch ihre Bahnen. Sind die Sterne gewissermaßen zunächst rein ballistische Flugkörper, so liefert die Schwerkraft das Lenksystem zum Anpeilen des Ziels. Ein Zusammenstoß wird dadurch hundertmal wahrscheinlicher. Tatsächlich hat vermutlich etwa die Hälfte aller Sterne in der Zentralregion eines Kugelsternhaufens in den letzten 13 Milliarden Jahren mindestens eine Kollision erlebt.
Ebenfalls etwa Mitte der 1970er Jahre schlugen Andrew C. Fabian, James E. Pringle und Martin J. Rees von der Universität Cambridge vor, streifende Kollisionen und sehr enge Vorübergänge könnten aus zwei Einzelsternen ein Doppelsystem werden lassen. Eigentlich sind nahe Vorübergänge von Sternen symmetrisch: Sie nähern sich einander an, beschleunigen, schwingen sich aneinander vorbei und fliegen mit abnehmender Geschwindigkeit wieder auseinander. Wenn jedoch einer der beiden ein Neutronenstern oder ein Schwarzes Loch ist, dann kann dessen Schwerkraft den anderen Stern deformieren, wodurch ein Teil der kinetischen Energie umgewandelt und der Stern am Entweichen gehindert wird. Diesen Vorgang nennen die Astronomen Gezeiten-Einfang. Der Neutronenstern beziehungsweise das Schwarze Loch tut sich dann an dem eingefangenen Stern gütlich und erzeugt so Röntgenstrahlen.
Sind an einem engen Vorübergang nicht zwei, sondern drei Sterne beteiligt, dann ist die Bildung eines Röntgen-Doppelsterns sogar noch wahrscheinlicher. Die Dynamik von drei Körpern ist sehr komplex und manchmal sogar chaotisch. Normalerweise wird die Energie bei einer solchen Begegnung so umverteilt, dass die beiden massereicheren Sterne ein neues Paar bilden und der dritte Stern wieder herauskatapultiert wird. Die typische Situation wäre die Begegnung zwischen einem einsamen Neutronenstern und einem gewöhnlichen Doppelstern. Kommt der Neutronenstern dem Pärchen zu nahe, so tauscht er die Rolle mit einem der normalen Sterne – ein Röntgen-Doppelstern ist entstanden, der verdrängte normale Stern fliegt als Einzelgänger davon.
Ein Crash-Szenario Insgesamt führen Drei-Körper-Begegnungen und Gezeiten-Einfang dazu, dass die Entstehungsrate von Röntgenquellen in Kugelsternhaufen tausendmal höher ist als gewöhnlich. Damit ist also das von Uhuru gelieferte Rätsel gelöst.
Was passiert nun, wenn zwei Sterne aufeinanderprallen? Wie beim Zusammenstoß zweier Fahrzeuge hängt das Ergebnis von mehreren Faktoren ab: der Geschwindigkeit der beiden kollidierenden Objekte, ihrem Aufbau und dem Impakt-Parameter. Letzterer beschreibt, ob der Zusammenstoß streifend ist oder frontal. Bei einigen Zusammenstößen werden lediglich die Stoßstangen verbogen – andere enden an beiden Fahrzeugen mit Totalschaden. Eine frontale Kollision mit hoher Geschwindigkeit würde am effektivsten kinetische Energie in Hitze und Druck verwandeln.
Obwohl die Astronomen auf Supercomputer angewiesen sind, um den Zusammenprall von Sternen in allen Einzelheiten zu simulieren, sind die Grundprinzipien recht einfach. Am wichtigsten ist dabei der Dichte-Unterschied. Ein Stern hoher Dichte nimmt bei einer Kollision weit weniger Schaden als ein Stern geringer Dichte – so wie eine Pistolenkugel keinen Kratzer erleidet, wenn sie eine Wassermelone zerfetzt. Gemeinsam mit meinen Kollegen Giora Shaviv und Oded Regev, damals an der Universität Tel Aviv und heute am Technion-Israel Institut für Technologie in Haifa tätig, habe ich in den 1970er und 1980er Jahren erstmalig den Frontalzusammenstoß zwischen einem sonnenähnlichen Stern und einem erheblich dichteren Stern, einem Weißen Zwerg, untersucht. Während der sonnenähnliche Stoßpartner völlig zerstört wird, kommt der Weiße Zwerg, der rund zehn Millionen Mal dichter ist, mit einer geringfügigen Erwärmung seiner Außenschichten davon. Abgesehen von einer ungewöhnlich großen Häufigkeit von Stickstoff an der Oberfläche erscheint der Weiße Zwerg anschließend unverändert.
Bei einer streifenden Kollision ist es für den Zwergstern allerdings schwerer, seine Spuren zu verwischen. Einen solchen Zusammenstoß habe ich erstmalig mit Regev, Noam Soker von der Universität Haifa in Oranim und der Universität von Virginia, sowie Mario Livio vom Space Telescope Science Institute in Baltimore simuliert. Die Trümmer des zerstörten sonnenähnlichen Sterns bilden in diesem Fall eine massereiche Scheibe um den Zwergstern. Bislang hat niemand solche Scheiben nachgewiesen, aber die Astronomen könnten sie leicht mit Masse austauschenden Doppelsternen in Sternhaufen verwechseln.
Aus zwei mach eins
Wenn die kollidierenden Sterne vom gleichen Typ sowie von gleicher Dichte und Größe sind, verläuft das Geschehen gänzlich anders. Den Fall zweier sonnenähnlicher Sterne haben erstmalig in den 1970er Jahren Alastair G. W. Cameron, damals an der Universität Yeshiva und jetzt an der Universität von Arizona, und Frederick G. P. Seidl vom Goddard-Institut für Weltraumwissenschaften der Nasa simuliert. Während die zunächst kugelförmigen Sterne sich zunehmend durchdringen, verdichten und deformieren sie sich gegenseitig zu halbmondförmigen Gebilden. Temperatur und Dichte erreichen dabei aber niemals so hohe Werte, dass es zu einer zerstörerischen thermonuklearen Explosion kommen könnte. Während wenige Prozent der Sternmasse senkrecht zur Bewegungsrichtung herausgequetscht werden, vermischt sich der Rest einfach: Innerhalb von einer Stunde ist aus zwei Sternen ein einziger geworden.
Es ist allerdings sehr viel wahrscheinlicher, dass zwei Sterne nicht exakt frontal, sondern etwas versetzt zusammenprallen, und es ist auch sehr viel wahrscheinlicher, dass ihre Masse ein wenig verschieden ist. Diesen allgemeinen Fall haben Willy Benz von der Universität Bern, Frederic A. Rasio von der Northwestern-Universität, James C. Lombardi vom Vassar College und ihre Koautoren in allen Einzelheiten untersucht. Bei einer solchen Kollision kommt es zu einem wundervollen Vermählungstanz der beiden Sterne, der in eine Vereinigung der beiden Partner mündet.
Das entstehende Objekt ist dabei völlig verschieden von einem gewöhnlichen Einzelstern wie unserer Sonne. Ein Einzelstern hat keine Möglichkeit, seinen ursprünglichen Vorrat an Brennstoff wieder aufzufüllen. Seine Lebensspanne ist deshalb vorherbestimmt. Je massereicher der Stern ist, desto heißer ist er und desto schneller verbrennt er seinen Vorrat. Aus der Farbe eines Sterns, die ein Maß für seine Temperatur ist, können Computermodelle die Lebensdauer eines Sterns mit hoher Genauigkeit vorhersagen. Aber ein verschmolzener Stern folgt anderen Regeln. Die Vermischung der Gasschichten während der Kollision kann frischen Wasserstoff in den Kern des Sterns bringen – und damit als Jungbrunnen wirken. Es ist, als würfe man trockene Zweige in ein heruntergebranntes Lagerfeuer. Da der entstehende Stern massereicher ist als seine Vorgänger, ist er auch heißer, blauer und heller. Wenn ein Beobachter aus seiner Farbe und seiner Leuchtkraft auf sein Alter zu schließen sucht, wird er sich also gehörig verschätzen.
Die Sonne hat zum Beispiel eine Lebensspanne von zehn Milliarden Jahren. Ein Stern mit der doppelten Masse hingegen leuchtet zehnmal heller, dafür aber nur 800 Millionen Jahre. Wenn also zwei sonnenähnliche Sterne in der Mitte ihres Daseins miteinander verschmelzen, entsteht ein heißer Stern, der bereits fünf Milliarden Jahre alt ist, aber aussieht, als müsste er jünger als 800 Millionen Jahre sein. Die noch verbleibende Lebenszeit für den verschmolzenen Stern hängt davon ab, wieviel Wasserstoff während der Kollision in sein Zentrum eingedrungen ist. Im Allgemeinen wird sie geringer sein als die Lebenserwartung der ursprünglichen Sterne. Und selbst in seinem Tod unterscheidet sich ein verschmolzener von einem gewöhnlichen Stern. Wenn ein solcher Stern stirbt – in dem er sich zu einem Roten Riesen aufbläht, einen Planetarischen Nebel erzeugt und zu einem Weißen Zwerg wird, ist er erheblich heißer als andere, ältere Weiße Zwerge mit vergleichbarer Masse.
Blaue Vagabunden
Verschmolzene Sterne sollten in einem Kugelsternhaufen sofort auffallen. Denn alle Mitglieder eines solchen Haufens sind ungefähr zur selben Zeit entstanden – ihre Zustandsgrößen Temperatur und Helligkeit entwickeln sich sozusagen im Gleichschritt. Ein verschmolzener Stern jedoch wäre aus dem Tritt geraten. Er erschiene außergewöhnlich jung; andere Sterne vergleichbarer Helligkeit und Farbe wären längst vergangen. Die Anwesenheit solcher Sterne in den Kernbereichen von Kugelsternhaufen ist eine der wichtigsten Vorhersagen der Theorie der Stern-Kollisionen.
Tatsächlich entdeckte Allan R. Sandage von der Carnegie-Institution in Washington in den frühen 1950er Jahren ungewöhnlich heiße und blaue Sterne in Kugelsternhaufen, so genannte Blaue Vagabunden oder Blaue Nachzügler (englisch: blue stragglers). Seither haben sich die Wissenschaftler ein gutes Dutzend Theorien über den Ursprung dieser Himmelskörper ausgedacht. Erst im vergangenen Jahrzehnt konnte das Hubble-Weltraumteleskop gewichtige Indizien dafür liefern, dass die Blauen Vagabunden etwas mit Sternkollisionen zu tun haben.
Im Jahr 1991 fanden Francesco Paresce, George Meylan und ich, damals alle am Space Telescope Science Institute in Baltimore, dass das Zentrum des Kugelsternhaufens 47 Tucanae dicht mit Blauen Vagabunden vollgepackt ist – genau da also, wo die Theorie eine große Zahl verschmolzener Sterne vorhersagt. Sechs Jahre später konnten David Zurek vom Space Telescope Science Institute, Rex A. Saffer von der Villanova-Universität und ich erstmalig die Masse eines Blauen Vagabunden bestimmen. Er weist ungefähr die doppelte Masse auf wie die massereichsten normalen Sterne des Haufens – genau wie erwartet, wenn es sich um einen verschmolzenen Stern handelt. Saffer und seine Kollegen haben einen anderen Blauen Vagabunden gefunden, der dreimal so viel Masse besitzt wie gewöhnliche Sterne in seinem Haufen. Den Astronomen ist bislang keine andere Möglichkeit eingefallen, solche schweren Objekte in diesen Umgebungen herzustellen, als Sternkollisionen.
Gegenwärtig sind wir dabei, die Massen und die Rotation von Dutzenden von Blauen Vagabunden zu bestimmen. Währenddessen halten Beobachter Ausschau nach den anderen vorhergesagten Effekten der Zusammenstöße. So haben zum Beispiel S. George Djorgovski vom California Institute of Technology in Pasadena und seine Mitautoren herausgefunden, dass es im Kernbereich von Kugelsternhaufen erheblich weniger Rote Riesen gibt als erwartet. Rote Riesen haben Wirkungsquerschnitte, die viele tausendmal größer sind als bei sonnenähnlichen Sternen, sodass sie ungewöhnlich große Ziele darstellen. Ihre geringe Zahl lässt sich also durch Kollisionen erklären, bei denen sie ihre äußeren Schichten verloren haben und dabei in Sterne einer anderen Art umgewandelt wurden.
Einsame Planetenwaisen
Freilich, all dies sind nur indirekte Indizien. Ein eindeutiger Beweis für Sternkollisionen ist schwerer zu finden. Die mittlere Zeit zwischen zwei Kollisionen in den 150 Kugelsternhaufen des Milchstraßensystems beträgt rund 10000 Jahre – im Rest der Galaxis sind es Milliarden von Jahren. Nur wenn wir extremes Glück hätten, würde eine Kollision so nahe bei uns stattfinden – nicht weiter als wenige Millionen Lichtjahre entfernt –, dass die Astronomen den Vorgang mit den heutigen technischen Mitteln beobachten könnten. Der erste direkte Nachweis einer Sternkollision könnte von den Gravitationswellen-Detektoren kommen, die gerade in Betrieb gehen. Die nahe Begegnung von zwei stellaren Massen sollte nämlich das Raumzeit-Kontinuum stören. Das Signal wäre besonders stark im Falle kollidierender Schwarzer Löcher oder Neutronensterne. Derartige Ereignisse gelten auch als eine mögliche Erklärung für die enorm energiereichen Gammastrahlungs-Ausbrüche.
Zusammenstöße von Sternen sind, so zeigt sich, für das Verständnis von Kugelsternhaufen und anderer Himmelsobjekte wichtig. Computer-Simulationen deuten darauf hin, dass die Entwicklung der Haufen stark von eng gebundenen Doppelsternen bestimmt wird, die Energie und Drehimpuls mit dem gesamten Haufen austauschen. Haufen können sich sogar komplett auflösen, wenn durch Beinahe-Kollisionen ein Stern nach dem anderen aus dem Haufen herausgeschleudert wird. Piet Hut vom Institute for Advanced Study in Princeton (New Jersey) ist der Meinung, Dynamik und Entwicklung der Sterne würden sich gegenseitig mittels subtiler Rückkopplungseffekte beeinflussen.
Neuerdings wird auch untersucht, was mit eventuell vorhandenen Planeten bei einer nahen Begegnung von Sternen geschieht. Ihnen ergeht es im Allgemeinen schlecht, wie numerische Simulationen von Jarrod R. Hurley vom American Museum of Natural History in New York zeigen: Sie werden von ihrem Stern oder einem ihrer Planeten-Geschwister verschlungen, sie werden auf eine einsame Reise durch den Sternhaufen geschickt oder gar ganz aus diesem Haufen herausgeschleudert, dazu verdammt, auf ewig allein durch den interstellaren Raum zu ziehen. Jüngste Beobachtungen mit dem Hubble-Weltraumteleskop, die Ron Gilliland vom Space Telescope Science Institute und mehrere Kollegen durchführten, zeigten, dass Sterne in Kugelsternhaufen tatsächlich keine jupitergroßen Planeten zu besitzen scheinen. Allerdings ist der Grund dafür bislang nicht bekannt.
Trotz aller offener Fragen: Der Fortschritt auf diesem Forschungsgebiet ist erstaunlich. Vor nicht allzu langer Zeit noch war allein die Idee von Sternkollisionen absurd. Hinter der scheinbaren Ruhe des Nachthimmels versteckt sich aber offenbar ein Universum von geradezu unvorstellbarer Zerstörungskraft, in dem in jeder Stunde Tausende von Sternpaaren zusammenprallen. Neue Techniken könnten uns schon bald erlauben, diese Ereignisse direkt und routinemäßig zu beobachten. Wir werden dabei zuschauen, wie einige Sterne gewaltsam sterben – und andere wie Phönix aus der Asche neu geboren werden.
Literaturhinweise
The Promiscuous Nature of Stars in Clusters. Von Jarrod R. Hurley und Michael Shara in: Astrophysical Journal, Bd. 570, Heft 1, Teil 1, S. 184 (1. Mai 2002).
Star Cluster Ecology III: Runaway Collisions in Young Compact Star Clusters. Von Simon Portegies Zwart et al. in: Astronomy and Astrophysics, Bd. 348, Heft 1, S. 117 (1999).
The First Direct Measurement of the Mass of a Blue Straggler in the Core of a Globular Cluster: BSS 19 in 47 Tucanae. Von Michael Shara, Rex A. Saffer und Mario Livio in: Astrophysical Journal Letters, Bd. 489, Heft 1, Teil 2, S. L59 (1997).
In Kürze
- Die konventionelle Ansicht, Sterne würden niemals zusammenstoßen, ist falsch. Kollisionen können in Sternhaufen vorkommen, insbesondere in Kugelsternhaufen, wo die Sterndichte groß ist und die gravitativen Wechselwirkungen die Chancen für Zusammenstöße erhöhen.
- Es gibt zwei wichtige Indizien für das tatsächliche Auftreten von Kollisionen. Erstens enthalten Kugelsternhaufen so genannte Blaue Vagabunden, die sich am ehesten als Kollisionsprodukte erklären lassen. Zweitens enthalten Kugelsternhaufen eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Röntgenquellen – ebenfalls am ehesten als Produkt von Sternkollisionen zu erklären.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2003, Seite 28
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben