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Bundestagswahl Teil II:: Wer wird Präsident?

Welcher unter den Kandidaten soll als gewählt gelten? Derjenige, der dem Willen der Wähler am genauesten entspricht. Aber wie auch immer man dieses Ziel versteht, es ist unerreichbar. Immerhin lassen sich einige Betrügereien und Paradoxien samt zugehöriger Enttäuschung vermeiden.


Es ist schlicht abwegig zu glauben, dass in diesem Frühjahr mehr Franzosen den rechtsextremen Jean-Marie Le Pen zum Präsidenten haben wollten als den damaligen sozialistischen Regierungschef Lionel Jospin. Gleichwohl ergab sich genau diese Reihenfolge im ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen. Damit hat sich in krasser Form bestätigt, was ich im Original dieses Artikels (der vor der Wahl in "Pour la Science" erschienen ist) nur als Vermutung äußern konnte: Wahrscheinlich ist ein anderer Präsident gewählt worden als der, den die Wähler wirklich wollten.

Jean-Charles Chevalier de Borda (1733-1799), ein vielseitiger Mathematiker, hat schon 1770 argumentiert, dass diese Situation immer dann eintreten kann, wenn mehr als zwei Kandidaten zur Wahl stehen. In der Zwischenzeit ist diese abstrakte Möglichkeit mehrfach realisiert worden, zu verschiedenen Zeiten und unter Anwendung verschiedener Verfahren. Wie kann es dazu kommen?

Der amerikanische Fehler: die Mehrheitswahl

In den USA werden die Senatoren in einer Mehrheitswahl mit einem einzigen Wahlgang bestimmt. (Jeder Bundesstaat hat zwei Senatoren, aber wegen überlappender Amtszeiten geht es bei jeder Wahl höchstens um einen Senatssitz pro Bundesstaat.) Jeder Wähler gibt einem Kandidaten seine Stimme, und es gewinnt der Bewerber mit der größten Stimmenzahl. Bei der Wahl von 1970 im Staate New York kandidierten James Buckley, der dem rechten Flügel der Republikaner angehörte und für die konservative Partei antrat, Richard Ottinger, ein gemäßigter Demokrat, sowie Charles Goodell vom linken Flügel der Republikaner, der sowohl von seiner Partei als auch von den Liberalen vorgeschlagen worden war. Buckley wurde mit 39 Prozent der Stimmen gewählt, Ottinger erreichte 37 Prozent und Goodell 24 Prozent. War Buckley wirklich der vom Wahlvolk gewünschte Senator?

Wohl nicht. Es ist nämlich anzunehmen, dass ein Buckley-Wähler lieber Goodell als Ottinger gehabt hätte und ein Ottinger-Wähler lieber Goodell als Buck-ley. Die Wähler, die für Goodell gestimmt hatten, hätten in einem Vergleich zwischen Buckley und Ottinger evetuell eine leichte Präferenz für Letzteren gehabt. In einer Stichwahl hätte Goodell sowohl gegen Ottinger als auch gegen Buckley gewonnen.

Was braucht es mehr, um zu rechtfertigen, dass Goodell derjenige war, den die Wähler wirklich wollten? Dieses Prinzip vertrat der Marquis de Condorcet (1743-1794): "Es soll jeder Wähler seinen Willen vollständig ausdrücken, indem er jeweils zwei Kandidaten vergleicht, und aus dem Ergebnis der Mehrheitsentscheidungen für all diese Vergleiche soll der allgemeine Wille abgeleitet werden." Ein Bewerber wie Goodell, der jeden einzelnen Gegenkandidaten aussticht, wird der Condorcet-Sieger dieser Wahl genannt.

Dieselbe Idee ist schon bei dem mittelalterlichen Universalgelehrten Ramón Llullo (Raimundus Lullus, um 1234-1316) zu finden.

Grafik: Senatswahl im Staate New York 1970

Der französische Fehler: zwei Wahlgänge

In Frankreich wird das Mehrheitswahlsystem mit zwei Wahlgängen praktiziert. Jeder Wähler verfügt wieder über eine einzige Stimme. "Der Präsident der Republik wird nach der absoluten Mehrheit der gültigen Stimmen gewählt. Wird diese im ersten Wahlgang nicht erreicht, so findet am übernächsten Sonntag ein zweiter statt. Zugelassen sind dann nur die ersten zwei Kandidaten …" (Artikel 7 der französischen Verfassung). Ähnlich lautet die Regel für die Parlamentsmitglieder, wobei jedoch im zweiten Wahlgang jeder Kandidat antreten darf, der im ersten mindestens 12,5 Prozent der Stimmen erhalten hat.

Wären also Buckley, Goodell und Ottinger Präsidentschaftskandidaten in Frankreich gewesen, so wäre Goodell nach dem ersten Wahlgang ausgeschieden und Ottinger im zweiten gewählt worden. Bei Parlamentswahlen hätte Goodell am zweiten Wahlgang teilnehmen dürfen, aber wohl ohne Erfolgs-aussichten. Also wird auch mit diesem System der "richtige" Kandidat nicht gewählt.

Höchstwahrscheinlich hat es eine vergleichbare Situation bereits bei den französischen Präsidentschaftswahlen von 1988 gegeben. Es ist kaum zu bezweifeln, dass Raymond Barre im Zweikampf gegen Jacques Chirac gewonnen hätte. Es ist weniger sicher, wird aber von vielen für wahrscheinlich gehalten, dass er auch François Mitterrand geschlagen hätte. Doch Barre kam nicht über den ersten Wahlgang hinaus.

Grafik: Französische Präsidentschaftswahlen von 1988

Der australische und irische Fehler: die Vorzugswahl

Australien und Irland kennen die Vorzugs- oder Alternativwahl (preference voting oder alternative voting). Jeder Wähler bestimmt unter allen Bewerbern seine erste, zweite, …, letzte Wahl (in Australien muss er alle Kandidaten in eine Rangfolge bringen, sonst ist sein Stimmzettel ungültig). Jeder Stimmzettel besteht also – theoretisch – aus einer Folge von Plätzen, auf die der Wähler in der Reihenfolge seiner Präferenzen die Kandidaten setzt.

Hat ein Kandidat die Mehrheit der ersten Plätze, so ist er gewählt. Andern-falls wird der Kandidat mit der geringsten Anzahl an ersten Plätzen von allen Stimmzetteln gestrichen, und die anderen Kandidaten rücken in die dadurch frei gewordenen Plätze auf. Insbesondere gelten die Kandidaten, die den zweiten Platz hinter dem Gestrichenen belegt hatten, nunmehr als erste Wahl dieser Wähler. Man prüft nun, ob nach dieser Aufwertung ein Kandidat eine Mehrheit an ersten Plätzen erreicht. Dieser gilt dann als gewählt; ansonsten wird das Verfahren nach dem gleichen Prinzip weitergeführt.

Was wäre das Ergebnis bei der Wahl des Senators von New York gewesen? Hätten die Wähler ihre Präferenzen nach der Tabelle im Kasten oben angegeben, so hätte es zuerst keine Mehrheit an ersten Plätzen gegeben. Goodell wäre dann ausgeschieden, und Ottinger hätte mit 51 Prozent der neuen ersten Plätze gesiegt: auch hier eine "falsche" Wahl.

Schlimmer noch: Ein Kandidat kann unter Umständen dadurch verlieren, dass gewisse Wähler ihre Meinung zu seinen Gunsten ändern. Der Beweis steht im Kasten Seite 76 unten: 15 Prozent der Wähler, die ursprünglich B > C > D > A gestimmt hätten, lassen sich durch eine Rede von A überzeugen und entscheiden sich neu für die Rangfolge A > B > C > D. Sonst bleibt alles gleich. Das Ergebnis: A, der ursprünglich gesiegt hätte, verliert nun gegen D, obwohl er von mehr Wählern bevorzugt wird als zuvor. Eine schreiende Ungerechtigkeit!

Da nun alle diese Systeme unter schwer erträglichen Widersprüchen leiden: Warum erklärt man nicht einfach den Condorcet-Sieger für gewählt? Weil es ihn nicht immer gibt. Nehmen wir als Beispiel abermals die Senatorenwahl von New York 1970, unterstellen jedoch den Wählern etwas andere Präferenzen, die immer noch mit dem tatsächlichen Wahlergebnis in Einklang sind. In einem direkten Zweikampf würde Buckley jetzt Goodell besiegen (mit 60 Prozent), Goodell würde mit 51 Prozent der Präferenzen über Ottinger triumphieren, aber überraschenderweise würden 51 Prozent der Wähler Ottinger vor Buckley setzen. Damit hätten sie die Kandidaten in die absurde Rangfolge B > G > O > B gebracht. Das ist das Paradox von Condorcet.

Grafik: Der Konstruktionsfehler der Vorzugswahl

Arrows Paradox

Hier gewinnt jeder Kandidat gegen den Sieger der Konfrontation zwischen den anderen. Bei einem zweistufigen Wahlmodus, in dem der dritte Kandidat erst in der zweiten Runde gegen den Sieger der ersten antritt, wird jeder versuchen, den ersten Wahlgang zu vermeiden. Die Reihenfolge der Abstimmungen spielt eine wichtige Rolle, wie jeder weiß, der in irgendeinem Gremium an Beschlussfassungen teilgenommen hat.

Kenneth Arrow, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Stanford (Kalifornien), hat das Paradox von Condorcet erheblich verallgemeinert (und erhielt dafür 1972 den Nobelpreis der Wirtschaftswissenschaften). Ist es möglich, die Ranglisten der einzelnen Wähler in sinnvoller Weise zu einer für das gesamte Wahlvolk gültigen Rangliste zusammenzufassen (nennen wir sie die "Bundesrangliste")? Dabei ist unter "sinnvoll" nur die Befolgung dreier vernünftiger, bescheidener, ja fast harmloser Regeln zu verstehen:

- Wenn alle Wähler in ihren Listen A vor B setzen (ein sehr seltenes Ereig-nis!), so muss auch in der Bundesrang-liste A vor B stehen.

- Wenn die Wähler ihre Meinung dergestalt ändern, dass A von keinem Wähler schlechter als vorher eingestuft wird, so darf er in der Bundesrangliste nicht zurückfallen.

- Die Reihenfolge von – beispielswei-se – drei Kandidaten in der Bundesrangliste darf nur von ihrer Reihenfolge in der Rangliste der einzelnen Wähler abhängen und nicht etwa von den Rängen anderer Kandidaten.

Arrow bewies, dass dieses Problem bei einer Wahl mit mindestens drei Kandidaten nur eine Lösung besitzt: Die Rangliste eines einzelnen Wählers (des "Diktators") wird zur Bundesrangliste erklärt. Die einzige zulässige Lösung eines scheinbar harmlosen Problems der Demokratie ist höchst undemokratisch: die Diktatur eines Einzelnen! Trotzdem müssen in einer Demokratie Abgeordnete, Bürgermeister und Ratsmitglieder gewählt werden.

Die Methode von Borda

Manche schwören auf ein von dem vielseitigen Wissenschaftler Jean-Charles Chevalier de Borda (1733-1799) vorgeschlagenes Verfahren als ein Allheilmittel. Es wurde hier und da verwendet, unter anderem eine Zeit lang für die Wahlen zur französischen Akademie der Wissenschaften, ist aber zurzeit nir-gends in Gebrauch. Borda hatte in seiner eingangs zitierten Schrift kritisiert, dass der Wähler seine Meinung nur unvollständig ausdrücken kann, und schlug vor, dass die Wähler Präferenzlisten aufstellen wie bei der Vorzugswahl, dass aber diese Listen in Punktwertungen umgesetzt werden. Bei sechs Bewerbern bekäme der Höchstplatzierte 5 Punkte, der Kandidat der zweiten Wahl 4 Punkte, bis hinunter zu 0 Punkten für den letzten Kandidaten. Im Endeffekt bekommt jeder Kandidat so viele Punkte, wie er – in den Augen dieses speziellen Wählers – Zweikämpfe gewinnen würde. Diese Punktzahlen werden addiert, und der Kandidat mit der höchsten Gesamtpunktzahl gewinnt.

Bei der Senatorenwahl von 1970 hätte Buckley 2x39+10x1=88 Punkte erhalten, Goodell 124 und Ottinger 88. Goodell, der Condorcet-Kandidat, hätte also haushoch gewonnen.

Trotzdem hat diese Methode mehrere Nachteile. Das erfundene Beispiel zeigt, dass der Condorcet-Sieger A von C geschlagen wird. Auch ist die dritte Bedingung von Arrow nicht erfüllt: Wenn sich die schwächsten Kandidaten D, E und F zurückziehen, erhält B plötzlich 117 Punkte, A 105 und C 77. Bei sechs Bewerbern ist also die Rangliste C > A > B, bei nur dreien jedoch genau umgekehrt: B > A > C. Also könnte die Wahl durch Störkandidaturen verfälscht werden.

Obendrein könnte ein Wähler dazu neigen, die gefährlichsten Rivalen seines Wunschkandidaten an den Schluss zu setzen, unabhängig von seinen eigenen Präferenzen. Die Methode verführt also zu taktischen Überlegungen, wenn auch nicht unbedingt zum Betrug. Borda selber war sich dieser Gefahr bewusst und betonte, dass seine Methode nur für ehrliche Wähler gedacht sei.

Grafik: Das Verfahren von Borda

Das Verfahren von Condorcet

Condorcet hatte seinerseits ein Verfahren entwickelt, das sein Paradox eliminierte, wenngleich ihm in den Einzelheiten Fehler unterliefen. Heute scheint sein Vorschlag in Vergessenheit geraten zu sein.

Das Verfahren geht von der idealistischen Vorstellung aus, es gebe eine "wahre" Rangfolge. Einer der Kandidaten sei objektiv der Beste, ein anderer der Zweitbeste und so weiter. Es gelte nur noch, diese Wahrheit zu finden, und der Wahlvorgang sei eine Art physikalischer Messprozess oder eine Meinungsumfrage: zwar fehlerbehaftet, aber durch die Zusammenfassung vieler Einzelmessungen letztlich doch erfolgreich.

Condorcet postuliert ehrliche Wähler, die mit einer Wahrscheinlichkeit von p > 0,5 die Qualitäten jedes Kandidatenpaares richtig beurteilen. Weiter sollen all diese Urteile unabhängig voneinander gefällt werden. Das Ergebnis ist eine Präferenztabelle paarweiser Vergleiche wie etwa im Kasten auf Seite 78. Ganz im Sinne der Statistik ist dann die Bundesrangliste nach Condorcet diejenige Präferenzliste, die am wahrscheinlichsten ist unter der Voraussetzung, dass die gegebenen "Messwerte" (Wahlergebnisse) vorliegen.

Das ist relativ leicht auszurechnen. Die Condorcet-Punktzahl einer Rangliste, etwa A > B > C > D, ist gleich der Anzahl der Wählerstimmen, die A vor B gesetzt haben, plus die derjenigen mit A vor C, A vor D, B vor C, B vor D und C vor D. Die wahrscheinlichste Rangliste ist diejenige mit der höchsten Condorcet-Punktzahl.

Im Beispiel von Seite 78 ist das die Rangfolge A > B > C > D > F > E, während das Borda-Verfahren die völlig andere Rangordnung C > A > B > D > E > F liefert. Man überzeugt sich leicht, dass ein Condorcet-Sieger auch in der Condorcet-Rangfolge zuoberst wäre, in unserem Beispiel Kandidat A, der in allen Feldern seiner Zeile ein Ergebnis über 50 Prozent erzielt.

Natürlich sind nicht alle Bedingungen von Arrow erfüllt; so ist die dritte verletzt, da zusätzliche Kandidaturen die Reihenfolge ändern können. Im besprochenen Beispiel ergibt der direkte Vergleich zwischen D und E eine Mehrheit von 59 Prozent zu Gunsten von E, während in der Condorcet-Rangfolge D vor E kommt. Immerhin ist Arrows dritte Bedingung im folgenden eingeschränkten Sinn erfüllt: Kandidaten, die in der Rangliste direkt hintereinander erscheinen, wie hier D, F und E, werden auch dann in dieser Reihenfolge bleiben, wenn alle anderen Kandidaten nicht berücksichtigt werden.

Im Beispiel schließen sich die Präferenzen für D, E und F zum Kreis: D > F > E > D. Das Verfahren von Condorcet bricht diesen Kreis auf, indem es die kleinste der drei Punktzahlen (59 Prozent für E über D) zu Gunsten der anderen (66 für F über E und 64 für D über F) vernachlässigt.

Ist dieser Vorschlag nun in der Praxis anwendbar oder nur eine schöne mathematische Konstruktion? Für die Wahl eines Präsidenten oder Parlaments ist er leider zu kompliziert, zu undurchsichtig und daher möglicherweise Misstrauen erregend. Einfachheit und Transparenz sind fundamentale Elemente eines Wahlmodus.

Strategien des Wählers

Wenn, wie beim zweiten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen, nur zwei Bewerber gegeneinander antreten, dann muss der Wähler nicht lange nachdenken: Er stimmt für den von ihm bevorzugten Kandidaten, und die Mehrheitsregel funktioniert in diesem Fall einwandfrei.

Bei mehreren Kandidaten ändert sich die Strategie je nach Wähler und Wahlmodus. In Frankreich, beim dort beliebten System mit zwei Wahlgängen, heißt es oft: "Im ersten Wahlgang nach dem Herzen, im zweiten nach dem Geldbeutel", oder: "Im ersten wird ausgeschieden, im zweiten gewählt", oder auch umgekehrt: "Im ersten wird gewählt, im zweiten ausgeschieden". Hinter jedem dieser Sprüche steckt eine Strategie, ein Ratschlag an den Wähler, die Wahl in seinem Sinne zu beeinflussen. Hätten die Wähler sich irgendwie anders verhalten, wenn sie Mitterrands Sieg über Chirac im zweiten Wahlgang von 1988 geahnt hätten? Soll man "zweckmäßig" wählen oder, umgekehrt, seine Ideologie, seine Überzeugung, seinen Widerstand ausdrücken? Soll man, wenn der bevorzugte Kandidat A die besten Aussichten auf das Erreichen des zweiten Wahlganges besitzt, für einen schwachen Gegner B stimmen, damit ihm der starke C im zweiten Wahlgang nicht mehr gefährlich werden kann? Politisches Taktieren ist heikel!

Diese Schwierigkeit kommt mathematisch in dem mathematischen Satz von Gibbard und Satterthwaite zum Ausdruck: Für mehr als zwei Kandidaten gibt es keinen Wahlmodus, bei dem das optimale Verhalten eines Wählers nicht durch strategische Überlegungen bestimmt wäre – abgesehen von Arrows Diktatur. Um seinen Kandidaten optimal zu helfen, muss der rational denkende Wähler manchmal unehrlich handeln, also für einen unbeliebten Gegner stimmen oder eine Rangliste aufstellen, die seinen Präferenzen widerspricht.

Die Wahl durch Zustimmung

Ein kürzlich vorgeschlagenes Verfahren ist einfach, leicht verständlich und könnte mindestens zwei schwere Ärgernisse aus dem Weg räumen: den Zwang zur strategischen Unehrlichkeit und die Möglichkeit, dass ein Condorcet-Sieger die Wahl nicht gewinnt. Die "Wahl durch Zustimmung" (approval voting) erfordert einen einzigen Wahlgang. Dabei hat der Wähler die Möglichkeit, für nur einen, für mehrere oder gar für alle Kandidaten zu stimmen, allerdings nur einmal für jeden. Der Kandidat mit den meisten erhaltenen Stimmen ist dann gewählt.

Mit diesem System wäre bei der Senatorenwahl von 1970 wahrscheinlich Goodell, der Condorcet-Sieger, gewählt worden. Unter der Annahme, dass die Hälfte der Wähler nur ihre erste Wahl, die andere Hälfte ihre erste und zweite angekreuzt hätten, wäre der Stimmanteil für Buckley 39+10/2=44 gewesen, für Goodell 39/2+37/2+10+14=62 und für Ottinger 37+14/2=44.

Bei drei Kandidaten kann man zeigen, dass die Wahl durch Zustimmung das einzige Verfahren innerhalb einer gewissen Klasse ist, das die Wähler zur Ehrlichkeit zwingt: Man muss immer für seine erste Wahl stimmen, nie für seine letzte. Ob man seine zweite Wahl erwähnt, hängt von strategischen Überlegungen ab, was aber der Ehrlichkeit keinen Abbruch tut. Sind jedoch vier Kandidaten vorhanden, die von einem bestimmten Wähler in der Reihenfolge A > B > C > D beurteilt werden, und lassen die Umfragen ungefähr gleiche Ergebnisse für A und B einerseits, für C und D andererseits erwarten, so könnte unser Wähler zur Unehrlichkeit neigen und nur für A und C stimmen.

Trotzdem ist dieses Verfahren vernünftig und anwendbar. Realistische Annahmen über die Möglichkeit knapper Entscheidungen lassen erwarten, dass sich die Wähler ehrlich verhalten würden. Warum sollte jemand für A und nicht für B stimmen, wenn er B für besser hält? Die optimale Strategie eines ehrlichen Wählers wäre, für jeden seiner Meinung nach überdurchschnittlichen Kandidaten zu stimmen.

Die üblichen Wahlverfahren, bei welchen nicht alle Präferenzen ausgedrückt werden, lassen einen Condorcet-Sieger nicht immer erkennen. Bei einer Wahl durch Zustimmung ist diese Gefahr viel kleiner, sodass dieser Modus eine interessante Alternative zum Verfahren mit zwei Wahlgängen darstellt. Man kann mit ihm sowohl nach dem Herzen als auch nach dem Geldbeutel wählen, man kann eliminieren und auswählen, zweckmäßig oder idealistisch stimmen, unterstützen und ablehnen. Deshalb wird er mehr und mehr angewendet: bei Wahlen an Hochschulen oder bei solchen für die Präsidentschaft wissenschaftlicher Gesellschaften (einige davon mit über 400000 Mitgliedern), bei einem Referendum im Staate Oregon, wo fünf Vorschläge zur Auswahl standen, und in Russland, wo die Wähler aufgefordert werden, Namen auf dem Wahlzettel zu streichen.

Grafik: Alle Paradoxien in einem einzigen Beispiel

Was tun?

Welche Schlüsse kann die Nachwelt aus diesen theoretischen Ausführungen ziehen?

Die Aufgabe der Mathematik besteht darin, alle erwünschten Eigenschaften eines Wahlverfahrens aufzulisten und die Grenzen des Machbaren aufzuzeigen. Aber nach einem sprichwörtlich gewordenen Wort von François de Fénelon (1651-1715) "genügt es nicht, die Wahrheit zu zeigen, man muss sie auch liebenswert darstellen".

Wir brauchen einfache und direkte Wahlverfahren. Die Wahl durch Zustimmung ist eine Möglichkeit, die bereits mit Erfolg angewendet wurde, wenn auch nicht aus rein mathematischen Gründen. Es gibt keine endgültige mathematische Lösung, und es wird nie eine geben.

Man muss also experimentieren. Damit wird man das Verhalten der Wähler bei den verschiedenen Verfahren besser verstehen. Die Wahl durch Zustimmung wurde beim ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen am 21. April 2002 in einem Pariser Vorort sowie in einem Dorf südöstlich der Hauptstadt getestet. Die Wähler wurden an beiden Orten gebeten, sowohl den offiziellen Wahlzettel auszufüllen als auch an einer Wahl durch Zustimmung teilzunehmen.

Literaturhinweis


Symmetry, Voting, and Social Choice. Von Donald G. Saari in: The Mathematical Intelligencer, Bd. 10, Heft 3, 1988, S. 32.



Man nimmt allgemein an (und dieser Ansicht ist meines Wissens nie widersprochen worden), dass in einer Wahl die Mehrheit der Stimmen dem Wunsch der Wähler entspricht, dass also der Kandidat, der diese Mehrheit erreicht, notwendigerweise derjenige ist, den die Wähler seinen Konkurrenten vorziehen. Ich werde jedoch zeigen, dass diese Meinung wohl für eine Wahl zwischen zwei Kandidaten zutrifft, in allen anderen Fällen aber falsch sein kann.

Jean-Charles Chevalier de Borda am 16. Juni 1770 in einer Sitzung der Académie Royale des Sciences

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2002, Seite 74
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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