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Wie das Alphabet nach Japan kam

Als die ersten Europäer nach Japan gelangten, konfrontierten sie die Bewohner des insularen Landes mit einer völlig fremden Art zu schreiben. Die Rezeption der Alphabetschrift zog sich über mehrere Jahrhunderte hin. Heute ist sie integraler Bestandteil des japanischen Sprachlebens; ihre Verwendung hat sogar das Flair des exotisch Modernen.

Wann die Japaner erstmals von der Existenz alphabetischen Schrifttums erfuhren, wissen wir nicht mit Bestimmtheit. Ihre Verbindungen mit China und Korea gehen bis in die ersten Jahrhunderte nach der Zeitenwende zurück; im 14. Jahrhundert trieben sie Überseehandel bis nach Indonesien und Malaya. Wahrscheinlich erfuhren sie durch diese Kontakte von der uns geläufigen Art zu schreiben; aber die ersten alphabetisch geschriebenen Bücher erreichten Japan erst im 16. Jahrhundert. Dadurch begegneten sich zwei einander völlig fremde Schreibkulturen.

Aus der Adaptierung der chinesischen Schrift für das Japanische war ein System von ungewöhnlicher Komplexität entstanden. Die japanische Schrift verwendet die Zeichenarten Kanji und Kana. Kanji sind chinesische Schriftzeichen und stehen jeweils für ein (einsilbiges) Wort; Kana sind über mehrere Stufen als Vereinfachungen von Kanji entstanden und nicht mit einer Bedeutung, sondern allein mit einem Laut verknüpft: Jedes Kana bezeichnet eine an sich bedeutungslose Silbe. Von den zwei geläufigen Varianten namens hira-gana und kata-kana werden letztere heute nur für bestimmte Zwecke wie fremde Namen und Telegramme verwendet.

Heute wie schon im 16. Jahrhundert pflegt man die Bedeutung eines Wortes durch ein Kanji, seine grammatische Funktion jedoch durch hira-gana auszudrücken; das ist so, als würde man im Deutschen Wortstamm und Endung eines Verbs mit verschiedenartigen Buchstaben schreiben. Während die Aussprache eines Kanji nicht immer ohne weiteres zu bestimmen ist, sind Kana leicht und eindeutig lesbar und werden deshalb gelegentlich den Kanji als Lesehilfen beigestellt (Bild 2).

Die Missionare, die im 16. Jahrhundert von Niederländisch-Ostindien und Macao weiter nach Osten vorstießen, brachten nun alphabetisch geschriebene Bücher mit sich, allen voran die Jesuiten (denen wenig später die Kaufleute folgten; Bild 1). Sie waren es, die zum ersten Mal – für ihre eigenen Zwecke – Japanisch mit alphabetischen Lettern schrieben. Einer von ihnen, Franz Xaver (1506 bis 1552), der gut Japanisch lernte, folgte dabei den Regeln der portugiesischen Orthographie (soweit die bereits eindeutig fixiert waren).

Alessandro Valignano (1539 bis 1606), der wie Xaver Jesuit war, verfaßte 1591 das erste alphabetisch geschriebene japanische Buch, eine Heiligengeschichte mit dem Titel "Sanctos no gosagveo no vchi nvqigaqi" ("Auszüge aus den Werken der Heiligen"; nach der heute üblichen Konvention würde man Sanctos no gosagy¯o no uchi nukigaki schreiben). Aufschlußreich ist das Werk nicht nur, weil aus ihm hervorgeht, wie die Portugiesen die Schreibkonventionen ihrer Sprache auf eine andere übertrugen und welche Inkonsistenzen ihnen dabei unterliefen, sondern auch, weil es uns erste Anhaltspunkte für die Schwierigkeiten liefert, die so ein Text japanischen Augen bot.

Die Jesuiten wußten zum Beispiel nicht, wie sie einen fortlaufenden Text in einzelne Worte zerlegen (segmentieren) sollten. Mal schrieben sie to xite xixi tamayeba, mal toxite xixitamayeba (Bild 3 links). Aus japanischen Texten konnten sie eine richtige Einteilung nicht entnehmen, denn die wurden damals wie heute ohne Wortabstände geschrieben. Eine Segmentierung ergab sich lediglich durch die funktionsspezifische Verwendung der Zeichenarten Kanji und Kana, die jedoch damals in den diversen Schreibstilen keineswegs einheitlich durchgehalten wurde.

Wenn Valignano geglaubt hatte, den Fremden mit dem Alphabet eine überlegene Kulturleistung mitzubringen, die diese nur begeistert aufgreifen müßten, dann bereiteten ihm die Japaner eine bittere Enttäuschung: Um seinen Text besser lesen zu können, übertrugen sie ihn nachträglich in ihre Schrift (Bild 3 rechts). Dadurch wurde das alphabetische Original lediglich zu einem Hilfsmittel für diejenigen, die normales Japanisch mangels Schulung nicht lesen konnten.

Für einen Japaner, der seine Art zu schreiben mit derjenigen der Portugiesen verglich, waren deren Prinzipien schwer zu durchschauen. Brauchten sie doch eine ganze Reihe von Zeichen, um ein einziges japanisches Wort, ja meist sogar mehrere Zeichen, um eine einfache Silbe wiederzugeben (Bild 4). Sie schrieben nicht einmal, was man hätte erwarten können, dieselben Silben immer mit denselben Buchstaben. So verwendeten sie e oder ye für ein und dasselbe Zeichen, cu oder qu für ein anderes. Als Inkonsistenz mußten die Japaner es auch betrachten, daß Silben mit dem gleichen k-Anlaut, die im japanischen System in eine Reihe gehören, nicht mit demselben Anfangsbuchstaben geschrieben wurden: ca, qe, qi, co und cu oder qu.

Die Portugiesen schrieben auch zum Beispiel atayetamaite, "verleihen" (Bild 3 links), was in heutiger Transkription ataetamaite zu schreiben ist. Das y steht für eine leichte Palatalisierung: einen kurzen Anklang an ein j zur Erleichterung des Übergangs zwischen den Vokalen a und e, der nicht als eigenständiger Laut (Phonem) gelten kann. Schreibweisen dieser Art deuten darauf hin, daß die Portugiesen weder das ihrer eigenen Schrift zugrundeliegende Prinzip völlig durchschauten noch eine Phonemanalyse der japanischen Sprache durchzuführen imstande waren – was nach heutigem wissenschaftlichen Standard der alphabetischen Erstverschriftung einer Sprache hätte vorausgehen müssen. Das alphabetische Japanisch der Portugiesen wirkt deshalb oft provisorisch und inkonsistent.


Die Instabilität des Alphabets

Nach den Portugiesen kamen andere Handlungsreisende in himmlischen und irdischen Gütern aus Europa an japanische Gestade: Italiener (siehe Kasten auf der nächsten Seite), Franzosen und Deutsche. Naheliegenderweise gab jeder Europäer die Laute, die er hörte, nach den Rechtschreibregeln seiner Sprache wieder (Bild 5). Wer diese Sprachen nicht beherrschte, mußte recht hilflos vor einer solch verwirrenden Verwendung von Zeichen stehen: Angeblich standen sie für Sprachlaute, aber man konnte sich nicht darauf verlassen, daß die – zugegebenermaßen wenig zahlreichen – Zeichen stets auf dieselbe Weise zu lesen waren.

Eine historisch-systematische Analyse hätte die Japaner gewiß darüber ins Bild setzen können, daß die Verwendung von x und s, k, c und q und solcher Digraphen wie ch, sc und tç durchaus nachvollziehbaren Regeln folgte. Aber bedeutete das nicht einfach, daß die alphabetischen Zeichen insgesamt ziemlich unbeholfen und instabil waren und in ihrem Wert von der Sprache des jeweiligen Schreibers abhingen? Auf den Gedanken, die japanische Sprache mit alphabetischen Lettern zu schreiben, kam außer den Fremden daher begreiflicherweise niemand, und wenn doch jemand solche Gedanken gehegt haben sollte, fand er damit keinen Anklang.


Die Niederländer kommen

Dennoch gab es für die Japaner gute Gründe, das Alphabet zu lernen. Schon immer aufnahmebereit für Anregungen von außerhalb, sahen sie auch darin eine Technologie, die vielleicht einmal nützlich sein konnte, zum Beispiel um die Sprachen zu lernen, für die es offensichtlich keine bessere Schrift gab. Das Problem war nur, daß jede weitere Sprache – zum Beispiel Niederländisch – weitere Verwirrung stiftete. Wo sollte man da anfangen?

Die Japaner lösten das Problem auf ihre Weise. Anfang des 17. Jahrhunderts beschlossen die Machthaber, ihr Land gegenüber den europäischen Eindringlingen, die auch andernorts in Asien für Verwirrung sorgten, abzuschließen und nur den Niederländern eine Handelskonzession einzuräumen (Bild 6) – eine Kontaktsperre, die erst 1854 unter dem militärischen Druck der USA wieder aufgegeben wurde.

Mit den Gründen haben sich die Historiker ausführlich beschäftigt. Meine eigene Erklärung dafür ist eingestandermaßen in der Geschichtsschreibung nicht allgemein akzeptiert, aber dennoch plausibel: Die Japaner wollten das alphabetische Prinzip lernen und sich dabei auf eine Sprache konzentrieren, statt sich von miteinander rivalisierenden Lehrmeistern immer wieder verunsichern zu lassen. Von den Portugiesen, Spaniern und anderen Katholiken wußten sie, daß die sich in Glaubensfragen – und um solche geht es ja bei Orthographien meist – immer recht schnell in die Haare gerieten. Nüchterner waren die mehr nach Wert und Dringlichkeit kalkulierenden Niederländer, die erstmals im Jahre 1600 mit der "Liefde" Japan erreichten. Niederländisch also.

Es konnte niemanden mehr überraschen, daß man sich dadurch abermals neue Schreibweisen einhandelte: tsoe für /tsu/, (in den Sanctos tçu), tsijo für /t¼o/ und su für /¼u/. Bei genauerer Betrachtung zeigte sich auch, daß die Niederländer sehr schwankend in ihrer Verwendung der Buchstaben waren (wobei sie auch noch häufig von dem abwichen, was in ihrer eigenen Sprache üblich war). Das Wort für "Mensch" (gesprochen /ç›t /, wobei /ç/ für das Gaumen-ch und /›/ für das kurze i steht) schrieben sie in drei verschiedenen Versionen: f›to, h›to und sto.


Metaschriften

Welche Schlüsse mußte ein Japaner daraus für die Schreibung des Niederländischen ziehen? Die Annahme war naheliegend, daß die alphabetisch geschriebene Form eines Textes dessen Aussprache nicht eindeutig (oder zumindest nicht unmittelbar einleuchtend) bestimmte, sondern vielmehr unterstützender Ausspracheangaben bedurfte; das nämlich gilt für ihre eigene Schrift (Bild 2). Damit lag für sie das Mittel auf der Hand, sich der Alphabetschrift zu nähern: eine Metaschrift.

Mit diesem Namen will ich ein Notationssystem bezeichnen, das verwendet wird, um eine andere Schrift – die in diesem Zusammenhang Objektschrift genannt wird – zu ergänzen oder zu erläutern. In diesem Sinne ist Kana Metaschrift zu Kanji – eine schon seit dem 10. Jahrhundert bestehende Tradition, die bis heute lebendig geblieben ist. Durch die Ankunft des Alphabets im japanischen Schriftkosmos hat sie eine neue Wendung genommen, aber das zugrundeliegende Prinzip ist, wie noch zu zeigen sein wird, das gleiche geblieben. Kana diente – und dient – als Metaschrift des Alphabets.

Man beobachtet nun regelmäßig, daß eine Metaschrift, wo immer sie verwendet wird, zum Referenzsystem wird: Das Objekt wird den Vorgaben des Beschreibungssystems unterworfen. An den "Oranda moji ryakk¯o" ("Bemerkungen zu den niederländischen Zeichen"; das Wort oranda ist von "Holland" abgeleitet), die der Niederlandist und Wissenschaftler Aoki Kony¯o (1698 bis 1769) im Jahre 1746 verfaßt hat, ist das deutlich zu erkennen. (Nach japanischer Konvention steht der Familienname Aoki an erster, der persönliche Name Kony¯o an zweiter Stelle.)

Es handelt sich um eine der ersten systematischen Studien des niederländischen Alphabets, vielleicht die erste, die ein Japaner unternommen hat. Aoki nannte die Buchstaben oranda moji, "niederländische Zeichen"; dieser Name blieb ihnen mehr als 100 Jahre erhalten. Seine Untersuchung beginnt mit der Auflistung des Zeicheninventars. Er vermerkt, daß die Buchstaben in drei verschiedenen Formen vorkommen, die von den Niederländern trekletter, merkletter und drukletter (Kleinbuchstaben, Großbuchstaben und Fraktur) genannt wurden, und gibt ihre Namen in Katakana wieder.

Zur Aussprache der einzelnen Buchstaben war, wie die Japaner bereits wußten, ohne Kontext nicht viel zu sagen, selbst wenn man sich auf eine einzige Sprache beschränkte. Das in einem systematischen Regelwerk in den Griff zu bekommen, mußte künftigen Generationen vorbehalten bleiben. Den Japanern jener Zeit blieb nichts anderes übrig, als Wortlisten anzufertigen, die viele Seiten umfaßten.

In Bild 7 ist der Eintrag für das japanische Wort fuyu, "Winter", vergrößert wiedergegeben. Auf der linken Seite steht in strahlender Einfachheit und Schönheit das chinesische Zeichen, daneben eine Reihe von Buchstaben, deren Namen mittels darunter gesetzter Katakana wiedergegeben werden. Die allerdings verraten nicht, wie die Buchstaben im Wort zu sprechen sind. Deshalb muß dieses außerdem in Silben eingeteilt werden, deren Aussprache mit darübergesetzten Kana dargestellt wird. Sich an ihnen entlanghangelnd gelangt man zu der Lautfolge /uintoru/, was für die erfolgreiche Kommunikation mit einem gutwilligen und phantasiebegabten Niederländer ausreicht.

Wörter sind aber nun sehr zahlreich. Aoki machte sich deshalb daran, etwas handlichere Einheiten aufzulisten, nämlich Silben, wie sie ihm vom Kana-System her vertraut waren. Systematisch notierte er zunächst alle Kombinationen aus Vokal und Konsonant, dann alle Kombinationen aus Konsonant und Vokal, jeweils in der Reihenfolge des lateinischen Alphabets. Silben, die Konsonantengruppen enthalten, ließ er unberücksichtigt, wohl wegen der großen Zahl, die dann für Vollständigkeit notwendig gewesen wäre.

Randbemerkungen Aokis beziehen sich auf die Behandlung von Ligaturen wie æ (im modernen Niederländisch durch aa ersetzt), was eine Abkürzung der beiden Lettern a und e sei. Zu lesen sei dieses Symbol als /a:/. (Hier und im folgenden steht anstelle der Kana-Zeichen, die Aoki verwendete, deren Aussprache zwischen Schrägstrichen in der internationalen Lautschrift. Der Doppelpunkt bezeichnet einen lang gesprochenen Vokal.) Die Zeichenfolge 't sei /hæ'to/ zu lesen, da es eine Abkürzung der Buchstabengruppe het (des bestimmten sächlichen Artikels) sei. Da alle Kana – mit Ausnahme des silbischen /n/ – vokalisch auslautende Silben repräsentieren, können Konsonanten in Endstellung nicht als solche korrekt dargestellt werden.

Aoki wagte sich auch an das Problem der Buchstabengruppen heran, die als Einheiten fungieren. Dabei zeigten sich besonders deutlich die Schwierigkeiten, auf die sein Versuch, die niederländische Sprache mit dem Raster der eigenen Schrift faßbar zu machen, stoßen mußte: Die Ausspracheanweisungen für die Silben lassen sich nicht mechanisch auf Wörter übertragen. Zwischen der Silben- und der Wortliste gibt es Inkonsistenzen. Zum Beispiel zerlegt Aoki das Wort schaep (im modernen Niederländisch schaap), "Schaf", als s-chae-p, was in der Metaschrift, wieder transliteriert, auf shi-ka-pu hinauslief. Die niederländische Buchstabengruppe scha wurde in der Silbenliste aber su-ka-a dargestellt. Aoki hätte eine kontextsensitive Regel haben müssen, die festlegt, daß scha vor -e nicht als Einheit fungiert. Seine Angabe zur Aussprache des Wortes schaep ist zwar nicht schlecht; daß er das s abtrennte und das cha mit e zu einer Schreibsilbe verband, entspricht der damaligen niederländischen Aussprache recht gut. Aber das Problem der Graphem-Phonem-Zuordnung hatte er damit nicht gelöst.


Die Silbe als Einheit

In einer anderen frühen Untersuchung finden sich weitere Belege für das genannte Prinzip, daß die Silbe (genauer: die More, nämlich die kurze Sprechsilbe) als Einheit des Kana-Systems die Kategorisierung der niederländischen Zeichen vorgibt. In seiner Studie "Oranda yakubun ryaku" ("Abriß über niederländische Übersetzung") von 1771 stellte der Arzt und Wissenschaftler Maeno Ry¯otaku (1723 bis 1803) die Buchstaben des ABC zunächst einzeln vor und teilte sie dann in Gruppen mit gleichem Anlaut ein, so daß sie den entsprechenden Kana zugeordnet werden konnten (Bild 8 links). Außerdem stellte er ähnlich wie Aoki Kony¯o eine Silbentafel zusammen.

Er ging aber noch einen Schritt weiter und demonstrierte, daß sich einfache japanische Texte mit niederländischen Zeichen aufzeichnen lassen. Als Beispiel diente ihm das Yamato-Lied, das zu seiner Zeit üblicherweise als Merkvers zum Erlernen der Kana verwendet wurde. Ebenso wie in der Kana-Schreibung hat Maeno auch die alphabetischen Lettern nach Silben und nicht nach Wörtern gruppiert.

Das Segmentieren, dessen war sich Maeno deutlich bewußt, war eine Grundvoraussetzung für die wissenschaftliche Durchdringung eines Gegenstands; denn er war, gemeinsam mit Sugita Gempaku und anderen Wissenschaftlern, einer der ersten Japaner, die einer medizinischen Sektion beiwohnten. Dabei wurden die "Ontleedkundige Tafelen" verwendet, eine Übersetzung der "Anatomischen Tafeln" des Deutschen Johann Adam Kulmus (1689 bis 1745). Maeno und seine Kollegen waren von der Präzision der Darstellung so beeindruckt, daß sie – eine Pioniertat – das Werk ins Japanische übersetzten. Das ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, weil die Japaner den Zugang zur westlichen Wissenschaft in erster Linie über die Medizin fanden und die an der Leiche praktizierte Kunst des Zergliederns zum Vorbild für wissenschaftliche Betätigung überhaupt wurde. Dabei diente ihnen die niederländische Handelsfaktorei in Nagasaki als wichtigste Informationsquelle.

Rangaku, "Niederlandistik", war bis zum Ende der Abschließungspolitik Mitte des 19. Jahrhunderts der Oberbegriff für Wissenschaft überhaupt, und Niederländisch war für die Japaner die Sprache der Wissenschaft. Für manche wißbegierigen Pioniere trat sie in Konkurrenz zum klassischen Chinesisch, der traditionellen Sprache der Gelehrsamkeit. Jeder, der in die moderne Wissenschaft eingeweiht werden wollte, mußte Niederländisch lernen, und das hieß in erster Linie die Schrift. Es war deshalb von größter Wichtigkeit, niederländische Texte richtig zu zergliedern.

Wie das zu geschehen hatte, demonstrierte Maeno Ry¯otaku mit einem weiteren Beispiel, dem schon erwähnten I-ro-ha-Gedicht (Bild 8 rechts). Von der Version, die Francesco Carletti von seiner Weltreise mit nach Hause gebracht hatte, unterscheidet sich die Maenos nachhaltig, nicht nur weil die alphabetischen Lettern bei ihm niederländische statt italienische Lautwerte haben.

Fortan wurde das Alphabet in Japan im wesentlichen so verwendet – sofern es überhaupt verwendet wurde. Ernsthafte Bestrebungen, es für die Schreibung der japanischen Sprache zu verwenden, gab es noch immer nicht. Das änderte sich erst viel später, als das Niederländische seine Vorzugsstellung durch die Öffnung Japans zum Westen eingebüßt hatte.


Aus Oranda moji werden R¯omaji

Als Mitte des 19. Jahrhunderts amerikanische Kanonenboote die zweieinhalb Jahrhunderte der Abschließung zu einem Ende brachten und die Japaner plötzlich mit Amerikanern und Europäern diverser Länder in Berührung kamen, erwies sich zum Staunen so manches strebsamen Rangaku-Studenten, daß Niederländisch nur eine von vielen Sprachen der westlichen Zivilisation war, und nicht einmal die wichtigste. Die von den Niederländern verwendeten Schriftzeichen waren überdies keineswegs wirklich die ihren, sondern offenkundig Gemeingut der Westler. Man erfuhr, daß sie ursprünglich aus Rom stammten, und hielt es für geboten, ihnen einen korrekten Namen zu geben. Aus Oranda moji wurden so R¯omaji, "römische Zeichen". Im Zuge der Öffnung des Landes kam es in Japan zu einer intellektuellen Blüte. Es gab einen ungeheuren Nachholbedarf, die Errungenschaften des Westens kennenzulernen, von denen die Japaner bis dahin nur in beschränktem Umfang erfahren hatten. Bücher aller wissenschaftlichen und technischen Gebiete wurden eingeführt und übersetzt. Sie alle waren alphabetisch geschrieben. Auf einmal erschien die chinesische Literatur, die jahrhundertelang alle Gelehrsamkeit verkörpert hatte, als altmodisch und unnütz und die Schrift, in die sie gekleidet war, als ein Hemmschuh der Entwicklung. In diesem Klima wurden die ersten ernstgemeinten und ernstzunehmenden Vorschläge zur Übernahme einer lateinischen Alphabetschrift für das Japanische artikuliert. Einer dieser Vorschläge war das 1869 veröffentlichte Traktat "Sh¯ukokugo ron" ("Für eine Verbesserung der Landessprache") von Nanbu Yoshikazu. Im Laufe der nächsten Jahre unterstützten andere einflußreiche Intellektuelle wie der Philosoph Nishi Amane und der Japanologe Otsuki Fumihiko die Idee. In den frühen Jahren der Meiji-Zeit (1868 bis 1911) war Schriftreform ein vieldiskutiertes Thema, wobei die Ersetzung der überkommenen chinesischen Schrift sowohl durch Kana als auch durch die Lateinschrift erwogen wurde. Einige Befürworter der Alphabetschrift schlossen sich 1885 zur R¯omaji kai (Lateinschrift-Gesellschaft) zusammen, und noch im selben Jahr erschien die erste Ausgabe ihrer Zeitschrift "R¯omaji zasshi" (Bild 9). Eine der kontroversen Fragen, mit denen sich die Gesellschaft sogleich beschäftigte, war die Systematik der Lateinschrift. Die Erfahrung hatte gelehrt, daß sich die Verwendung der alphabetischen Buchstaben nach der jeweiligen Sprache richtete. Es war deshalb geboten, ein den Gegebenheiten des Japanischen angepaßtes System zu entwickeln. Das Vokalsystem des Japanischen ist einfach; deshalb lag es nahe, für deren Schreibweise einem europäischen Standard zu folgen, der am reinsten im Italienischen verwirklicht ist. Die Vokale aller Kana sind kurz und werden im wesentlichen so ausgesprochen wie die gleich geschriebenen kurzen Vokale im Deutschen. Lange Vokale bestehen nach den Regeln der japanischen Phonologie aus jeweils zwei Moren, zu schreiben als zwei Kana, und werden gewöhnlich transliteriert. Bei der Konsonantenschreibung hingegen orientierte man sich an der englischen Orthographie. So wurde etwa /*i/ shi, /t*i/ chi und /t*a/ cha geschrieben. Der amerikanische Missionar James Curtis Hepburn (1815 bis 1911) übernahm das System der R¯omaji kai für die 1886 erschienene dritte Auflage seines japanisch-englischen Wörterbuchs; deswegen wurde es allgemein als "Hepburn-System" bekannt. Andererseits hatte bereits 1881 der Geophysiker Tanakadate Aikitsu (1856 bis 1952) ein anderes System vorgelegt, das auf der goj¯u onzu ("Tabelle der fünfzig Laute") basierte. Diesem sprachwissenschaftlichen Raster der vormodernen Zeit lagen die mit Kana dargestellten einfachen Silben als Einheiten zugrunde. In diesem Nipponshiki ("japanische Methode") genannten System wurde /*i/ si, /t*i/ ti und /t*a/ tya geschrieben. Die Unterschiede zwischen Hepburn-System und Nipponshiki resultieren aus rivalisierenden Prinzipien: In ersterem wird der Transfer der Regeln aufs Englische beziehungsweise vom Englischen optimiert, während letzteres in seiner inneren Systematik konsistent und phonemisch ausgerichtet ist. Beide Systeme fanden ihre Anhänger und wurden benutzt, obwohl die Lateinschrift-Gesellschaft sich bereits 1892 auflöste, in einer Phase der Meiji-Zeit, in der viel Kritik gegen die übereifrige Annahme westlicher Sitten und Gebräuche laut wurde. Zu einer offiziellen Entscheidung für eines der Systeme oder einem Kompromiß zwischen ihnen kam es nicht. Erst 1930 setzte das Erziehungsministerium eine Kommission ein, die Richtlinien für die Darstellung der japanischen Sprache mit alphabetischen Lettern erarbeiten sollte. Das 1937 vorgelegte Ergebnis ihrer Arbeit steht inhaltlich dem Nipponshiki näher als dem Hepburn-System. Es wurde aufgrund eines Kabinettsbeschlusses veröffentlicht und deshalb Kunreishiki (r¯omaji tsuzurikata), "offizielle lateinische Schreibweise", genannt. Die Unterschiede zwischen den drei Systemen sind nicht sehr erheblich (Bild 10). Inzwischen war aber von der Ersetzung der japanischen Schrift – die ihrerseits 1948 durch eine Reform vereinfacht wurde – keine Rede mehr, obschon verschiedene Vereinigungen dieses Ziel aktiv weiterverfolgten. Neuen Auftrieb erhielten die Verfechter der Yokomoji, der "Querzeichen", wie sie wegen der horizontalen Schriftrichtung auch genannt wurden, erst wieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Die amerikanischen Sieger befürworteten eine entsprechende Schriftreform als Demokratisierungsmaßnahme, die jedoch letztlich an den zutiefst konservativen Strukturen der japanischen Gesellschaft scheiterte. Dennoch zog die amerikanische Besatzung das Vordringen der Alphabetschrift in weitere Bereiche des japanischen Sprachalltags nach sich.

Das Alphabet im gegenwärtigen Schrifttum: Eiji

Im Jahre 1954 veröffentlichte die Regierung eine Richtlinie, die das Kunrei-System zur alphabetischen Darstellung der japanischen Sprache empfahl, wenn auch nicht bindend vorschrieb. Manche Regierungsämter wie das Bauministerium und – was sehr wichtig war – die Nationale Parlamentsbibliothek übernahmen es. Andere Behörden, zum Beispiel das Außenministerium und die staatliche Eisenbahn, behielten das Hepburn-System bei, das nach wie vor am weitesten verbreitet ist und auch in den meisten japanisch-englischen Wörterbüchern und in Englisch-Lehrbüchern verwendet wird sowie in der Kartographie, in Pässen, auf Visitenkarten, in der englischsprachigen Presse Japans sowie außerhalb Japans in der Japanologie das Feld beherrscht. Während der Besatzungszeit (bis 1952) und danach wurde zudem alphabetisches Schrifttum wegen des dominierenden amerikanischen Einflusses im öffentlichen Bewußtsein immer mehr mit der englischen Sprache assoziiert. Das kam auch darin zum Ausdruck, daß die R¯omaji immer öfter Eiji, "englische Zeichen", genannt wurden.

Eine Anwendung alphabetischer Lettern, die rasch um sich griff und aus dem heutigen Sprachalltag nicht mehr wegzudenken ist, ist die Dekoration. Die Wirkung dieser Buchstaben verbindet Modernität mit Exotismus, was sich besonders auffällig in der Reklame und bei Markennamen zeigt (Bild 11). Alles, was modern wirken soll, bekommt einen alphabetisch geschriebenen Namen. Nicht ein einziges Auto zum Beispiel hat eine in Kanji geschriebene Typenbezeichnung. Die Firmennamen werden zwar mit chinesischen Zeichen geschrieben, da es sich um Personennamen (Honda) oder Abkürzungen sinojapanischer Bezeichnungen (Nissan) handelt, aber auch sie erscheinen auf den Produkten in alphabetischer Schrift.

Publikumszeitschriften, die ein modernes Image pflegen, haben praktisch ohne Ausnahme alphabetisch geschriebene Titel. Einige Beispiele: "Asahi Journal", "Auto Sports", "Baccus", "Be Love", "Brutus", "City Road", "The Computer", "Cycle World", "Dime", "Emma", "FM", "Focus", "Friday", "Flash", "Information", "Jazz", "Muffin", "Olive", "Quark", "TV Cosmos", "Viva Rock". Man erwartet jedoch nicht, daß der Kunde diese Namen aussprechen kann. Vielmehr versieht man sie, ebenso wie Kanji-Zeichen, die den durchschnittlichen Bildungsstandard überfordern, mit einer metaschriftlichen Lesehilfe in Kana. Das ist zwingend erforderlich bei Namen, die aus anderen Sprachen entlehnt sind. Die obigen Beispiele sind alle englischen Ursprungs und in englischähnlicher Aussprache zu lesen, aber es gibt auch einige Zeitschriften mit anderssprachigen Titeln, zum Beispiel "Arbeit", "Beruf", "Le c“ur", "25 ans".

Ausgiebig wird das Alphabet auch in Abkürzungen verwendet, sowohl für japanische als auch für fremdsprachige, vor allem englische Wörter: KKD, (Kokusai Denshin Denwa, eine Telephongesellschaft), CATV (Community Antenna Television), JNR (Japanese National Railway) oder TBS (Tokyo Broadcasting System). Für die Angabe von Maßen, Gewichten und chemischen Verbindungen werden ebenfalls alphabetische Kürzel benutzt. Manchmal werden einfache, international übliche Abkürzungen auch in Klammern hinter dem entsprechenden japanischen Terminus in den Text eingefügt wie zum Beispiel GDP für Gross Domestic Product (Bruttoinlandsprodukt). OPEC, NATO und COMECON sind einige weitere Beispiele.

Immer häufiger tauchen alphabetische Abkürzungen englischer Wörter wie PKO (Peace Keeping Order) und FAX in japanischen Texten auf, die als Quasi-Neologismen (Wortneubildungen) anzusehen sind, weil die Schreiber und Leser die Bedeutung der Abkürzung nicht kennen. Von zunehmender Integration ins japanische Schrifttum zeugen auch Mischwörter aus alphabetischen und chinesischen Zeichen.

Allen alphabetischen Abkürzungen ist gemein, daß sie nach englischem Vorbild ausgesprochen werden, das heißt unter Verwendung der englischen Buchstabennamen, wie sie sich durch den Filter der Kana-Transliteration darstellen, und zwar unabhängig davon, aus welcher Sprache die Kürzel stammen. Also: NHK (Nippon H¯os¯o Ky¯okai, die japanische Rundfunkanstalt) wird /en-eit¼-kei/ gesprochen, CD (Compact Disc) /si:-di:/ und BMW /bi:-em-daburuju:/. Im allgemeinen Bewußtsein ist das Alphabet primär das graphische Medium der englischen Sprache. Die der japanischen Aussprache adaptierten englischen Buchstabennamen sind sogar zu einem Bestandteil des japanischen Sprachbewußtseins geworden.

Alphabetschriftliche Wörter werden zwar in großem Maße zusätzlich ins Schrifttum übernommen, ersetzen aber kaum mit traditionellen Zeichen geschriebene Wörter. Außerdem dienen Kana, wie wir gesehen haben, nach wie vor als metaschriftliches Referenzsystem. Doch während R¯omaji noch vor einer Generation ein Zeichensystem für Fachleute waren, sind Eiji heute zum Allgemeingut geworden.

Im Straßenbild und in den Massenmedien sind sie allgegenwärtig. Auch lernt jedes japanische Kind heute im Kindergarten oder in der Schule das ABC in englischer Aussprache, gewöhnlich lange vor und unabhängig von irgendwelchem Fremdsprachenunterricht. Viele Japaner gehen täglich in ihrer Arbeit mit alphabetisch geschriebenen Texten anderer Sprachen um, und alphabetische Lettern tauchen zunehmend in japanischen Texten auf – einerseits als Zeichen für Sprechsilben (Buchstabennamen), andererseits zur Darstellung hauptsächlich von Lehnwörtern, gelegentlich auch von japanischen Wörtern.

Wie zu erwarten, ruft diese Entwicklung in konservativen Kreisen Kritik hervor. So prangerte Michio Tsuchiya 1978 in einem Aufsatz "die Geringschätzung des Japanischen" an und warnte: "Losgelöst von Sprache und Schrift entsteht kein Denken. Einfache Worte und einfache Schrift erzeugen nur Einfachheit im Denken." Diese Warnung scheint freilich – selbst wenn es mit der unterstellten Kausalität zwischen Schrift und Denken etwas auf sich hätte – wenig begründet, denn zum einen ist das Alphabet, wie sich gezeigt hat, gar nicht so einfach, und zum anderen deutet wenig darauf hin, daß es das traditionelle japanische Schriftsystem verdrängen wird; vielmehr fügt es ihm eine weitere Dimension hinzu und macht es noch komplexer.

Von anderer Qualität sind kulturnationalistische Argumente, wie sie etwa Suzuki Takao, Professor für allgemeine Sprachwissenschaft, 1985 in dem Aufsatz "Ist die Zunahme der Alphabetwörter ein Zeichen des Niedergangs der japanischen Kultur?" artikuliert hat. In auch in Europa geläufiger puristischer Manier hält er das Alphabet und die mit ihm ins japanische Schrifttum eindringende "Flut westlichen Wortguts" für eine Bedrohung der Integrität der japanischen Kultur.

Dem Unbehagen solcher intellektuellen Traditionalisten zum Trotz ist indes keine Verringerung der Bereitschaft zu erkennen, das Alphabet als einen Teil des japanischen Sprachlebens zu akzeptieren. Und selbst wenn sich etwa die Presse bei dessen Integration Zurückhaltung auferlegen würde, hat es sich doch auf eine andere, oberflächlich weniger auffällige, aber letztlich folgenreichere Weise einen wichtigen Platz in der japanischen Schriftkultur erobert.

Wissenschaft und Technologie bedienen sich in Katalogen, Verzeichnissen und anderen Mitteln der Informationsspeicherung und -verarbeitung seit langem des alphabetischen Codes als Ordnungssystem. Zwar sind einsprachige japanische Wörterbücher nach der Reihenfolge der Kana beziehungsweise nach dem Lexikalisierungsprinzip der chinesischen Zeichen geordnet, aber bereits die japanisch-anderssprachigen Wörterbücher listen in der Regel auch die japanischen Stichwörter alphabetisch auf. Viele Japaner haben sich dadurch daran gewöhnt, in bestimmten Kontexten den Zugriff zu Einheiten ihrer eigenen Sprache über den alphabetischen Code zu suchen. In noch viel größerem Umfang wird das durch die moderne Informationstechnologie gefördert.


Der Computer als fünfte Kolonne

Japanische Textverarbeitungssysteme arbeiten alle mit einer normalen Schreibmaschinentastatur. Zwar ist diese sowohl mit Kana als auch mit dem Alphabet belegt; gewöhnlich bevorzugt jedoch auch ein Japaner für die Texteingabe letzteres. Dafür ist es ersichtlich unabdingbar zu wissen, wie man japanische Wörter alphabetisch schreibt. Die wenigen Differenzen zwischen den verschiedenen erwähnten Lateinschriftsystemen können die Software-Hersteller ohne weiteres tolerieren: Die Eingaben ti und chi zum Beispiel liefern auf dem Bildschirm und auf dem Papier das gleiche Kana. Auch die Darstellung gespannter Laute (verlängerter Konsonanten), die in Kana durch ein spezielles, in kleinerem Schriftgrad nachgestelltes Zeichen ausgedrückt werden, bereitet keine Schwierigkeiten. Bei der alphabetischen Eingabe kann man entweder Doppelkonsonanten oder ein dem zu verlängernden Konsonanten vorausgehendes L verwenden. Aber wie man die Eingabe im einzelnen auch handhabt, man muß das Prinzip der Alphabetschrift begriffen haben.

Das hat bedeutende Konsequenzen für das Sprachbewußtsein. Vielen Mitgliedern der japanischen Sprachgemeinschaft gilt die schriftliche Darstellung eines Wortes als dessen primäre Existenzform. Ein Wort existiert zunächst als Schriftzeichen, und dieses hat eine bestimmte Aussprache oder – gerade im Japanischen – je nach Kontext mehrere verschiedene. So jedenfalls pflegen die Japaner ihre Sprache wahrzunehmen, noch bestätigt dadurch, daß sie (in Kanji geschriebene) Wörter oft mit Verständnis lesen oder auch schreiben können, ohne sich der korrekten Aussprache sicher zu sein. Was einem Deutschen allenfalls bei Wörtern wie "Zucchini" oder dem Namen des polnischen Staatspräsidenten Lech Wa/lþesa passiert, ist für einen Japaner nichts Außergewöhnliches.

Durch den alphabetischen Code als Medium der Eingabe wird nun dieses Verhältnis von lautlicher und graphischer Gestalt eines Wortes umgekehrt. Man kann kein Wort mehr schreiben, dessen Aussprache man nicht kennt. Dadurch wird diese primär und verweist die Darstellung mit chinesischen Zeichen auf den zweiten Rang.

Die Maschine verwandelt die alphabetische Eingabe in eine Ausgabe bestehend aus Kanji und Kana. Bei Homonymen (bedeutungsverschiedenen, aber gleichlautenden Wörtern) bietet sie dem Schreiber Alternativen an, zwischen denen er auszuwählen hat. Er muß also nach wie vor Kanji beherrschen, allerdings auf einem niedrigeren Niveau.

Durch die Textverarbeitungstechnologie ändern sich mithin Zugang und Haltung zur Schriftsprache erheblich. Was genau im Gehirn des Schreibenden vor sich geht, wenn nun der primäre Zugriff zu den Einheiten der japanischen Sprache über den alphabetischen Code geht, wissen wir mangels experimenteller Befunde nicht. Es könnte sein, daß er sich das, was er schreiben will, innerlich vorspricht und dann die Silbenfolge ohne Rückgriff auf die Kanji-Darstellung eintippt. Oder er denkt zuerst an ein Kanji und überlegt sich erst dann, wie das Morphem, für das es steht, alphabetisch darzustellen sei.

Selbst wenn man den zweiten Fall unterstellt, wenn also mental nach wie vor das chinesische Zeichen primär wäre, hätte das Alphabet im Sprachbewußtsein der Japaner in den letzten fünfzehn Jahren wesentlich an Bedeutung gewonnen.

Literaturhinweise

- The Writing Systems of the World. Von Florian Coulmas. Blackwell, Oxford 1989.

– A History of Writing in Japan. Von C. Seeley. E. J. Brill, Leiden 1991.

– Language and the Modern State. The Reform of Written Japanese. Von Nanette Twine. Routledge, London/New York 1991.

– Japanese Writing and the Romaji Movement. Von Tanakadate Akitsu. The Eastern Press, London 1920.

– Japanese orthography in the computer age. Von J. M. Unger in: Visible Language, Band 18, Heft 3, Seiten 238 bis 253. 1984.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1994, Seite 90
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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