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Wie das Gehirn eine Fliege erkennt

Amphibien verarbeiten Sinneseindrücke weitgehend ähnlich wie Säugetiere – ein unerwarteter Befund. Salamander und Frösche stellen das einfachste Modell dafür dar, wie ein Wirbeltier „sieht“ und das Wahrgenommene für eine Verhaltensreaktion „verrechnet“.


Bis vor kurzem vermuteten Neurobiologen, daß Amphibien – ob Frösche, Kröten oder Salamander – nach Würmern oder Insekten weitgehend stereotyp-reflexhaft schnappen. Heute wissen wir es besser: Das Gehirn von Frosch- und Schwanzlurchen leistet viel mehr, wenn es etwas erkennt und daraufhin entsprechende Verhaltensreaktionen auslöst.

Unter den Wirbeltieren besitzen Amphibien anatomisch gesehen die einfachsten Gehirne. Auch ist die Zahl der Nervenzellen sehr gering: Weist das menschliche Gehirn schätzungsweise 500 Milliarden Neuronen auf – und selbst das von Katzen etwa 3 Milliarden –, so enthalten die Gehirne von Fröschen nur rund fünf Millionen und die von Salamandern nur rund eine Million.

Obwohl sich die Zahl der Nervenzellen zwischen den beiden Wirbeltierklassen um Dimensionen unterscheidet, konnte die Forschung in den letzten Jahren etwas Verblüffendes beweisen: Das Amphibiengehirn ähnelt im Grundaufbau und in vielen Details dem Säugergehirn. Wenn ein Salamander oder Frosch eine Beute identifiziert, lokalisiert und nach ihr schnappt, verarbeitet sein kleines, einfaches Gehirn die visuelle Information im Prinzip in gleicher Weise wie das einer Katze oder eines Primaten, also auch wie das des Menschen.

Seit Jahrzehnten erforschen Neurobiologen an verschiedenen Wirbeltiergruppen die Vorgänge im Zentralnervensystem, die zwischen der Erregung der Sinneszellen in den Augen und der motorischen Reaktion ablaufen. Viele dieser Forschungen wurden an Säugern durchgeführt, hauptsächlich an Katzen und Affen. Noch ist es nicht gelungen, diese Prozesse in allen aufeinanderfolgenden Schritten im Detail zu entschlüsseln. Bei Amphibien ist die Zahl der beteiligten neuronalen Netzwerke erheblich geringer und zum Teil bereits gut erforscht; Wahrnehmung und Verhalten liegen hier enger beieinander. Dennoch finden unerwarteterweise die Integration des Wahrgenommenen und die Verhaltensentscheidung auch bei Amphibien offenbar erst auf einer sehr späten neuronalen Verrechnungsebene statt, nachdem im Gehirn unter anderem Stimmungen und frühere Erfahrungen abgefragt wurden.

Was bedeutet diese Einsicht für die Gehirnforschung? Offensichtlich gilt: Säugetiere benutzen, wenn sie etwas sehen, lokalisieren, dessen Bedeutung erfassen und schließlich eine Reaktion durchführen, weitgehend dieselben Prinzipien wie Vögel, Reptilien oder Amphibien. Damit erweisen sich frühere Modelle der Verhaltensforschung als unzutreffend, wonach sogenannte "niedere" Wirbeltiere wie Amphibien Objekte als "Schlüsselreize" anhand grober Merkmale erkennen und mehr oder weniger reflexhaft reagieren.

Am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen erforschen wir unter anderem Schleuderzungensalamander (Kasten rechts). Unsere Versuchstiere verhalten sich etwa gegenüber Insekten längst nicht so starr, wie sie es nach den alten wissenschaftlichen Konzepten tun müßten. Sie scheinen beispielsweise genau zu wissen, welche Fliegen ihnen schmecken und wo es viele davon gibt, und auch, ob sie ein Tier mit der klebrigen Zungenspitze allein fangen können oder besser die Kiefer zu Hilfe nehmen. Sie lernen auch, bei genügend Tageslicht auf die Größe und die Gestalt eines Insekts zu achten, in fortgeschrittener Dämmerung auf die Bewegungsweise und im völligen Dunkel auf den Geruch – Salamander gehen häufig erst in der Dämmerung auf die Jagd.

Schleuderzungensalamander haben wir als Studienobjekte auch wegen ihres faszinierenden Zungenschlags gewählt: Die Schleuderzunge fängt selbst flinke Insekten und reicht bei manchen Arten eine Körperlänge weit. Aufgrund einer Entwicklungsverlangsamung der heranwachsenden Tiere, "Pädomorphismus" genannt, haben Salamander besonders wenige, dafür aber ausnehmend große Nervenzellen. Das macht den Aufbau ihres nur etwa zehn Millimeter langen Gehirns gut überschaubar. Auch haben die großen Nervenzellen einen vergleichsweise geringen Bedarf an Sauerstoff und Nährstoffen, was bei neurophysiologischen Untersuchungen ein Vorteil ist.

Ob wir eine Kaffeetasse ergreifen oder ein Salamander ein Insekt schnappt: Nervensystem und Bewegungsapparat müssen in beiden Fällen eine Menge leisten, damit das Objekt wahrgenommen und lokalisiert, aber auch seine Bedeutung erkannt wird und daraufhin die richtigen Muskeln tätig werden. Ein Salamander etwa muß wissen, ob er ein Hindernis vor sich hat, ein gutes Versteck, einen Artgenossen, einen Feind oder ein ihm bekömmliches Insekt.

Entsprechende Verarbeitungsbahnen können bei Amphibien viele Zwischenstufen in Anspruch nehmen oder in besonderen Situationen schnell und direkt, das heißt nur über wenige Verarbeitungsschritte, vom Auge über zwei Gehirnstationen bis zur Muskulatur verlaufen.

Das grobe Schema dieses Verrechnungsweges scheint einfach (Kasten rechts): Die Ganglienzellen in der Netzhaut (Retina) empfangen Signale von den Sehzellen; sie schicken im Sehnerv Fortsätze ("Axone") zum Mittelhirndach (Tectum opticum oder kurz Tectum), dessen Nervenzellen die Information abgreifen; und diese Neuronen des Tectums schicken ihrerseits lange Axone in das sogenannte verlängerte Rückenmark (Medulla oblongata) und das vordere Rückenmark zu den prämotorischen und motorischen Zentren. Derartige Nervenzellen, die über Axone in andere Hirngebiete Signale senden, werden "Projektionsneuronen" genannt. Die tatsächliche Verarbeitung ist aber um vieles komplizierter.

Zum Beispiel schicken die Ganglienzellen der Netzhaut Signale auch in andere Gehirngebiete, beispielsweise zum Thalamus, einer visuellen Station im Zwischenhirn. Zu diesen Zentren hat auch das Tectum Kontakt: Es erhält von dorther Nachrichten und sendet auch selbst welche dorthin. Außerdem hat es über sie indirekt auch Verbindung zum Endhirn. Auf diese Weise erfährt das Tectum, ob ein visueller Reiz als Gefahr einzustufen ist oder als Leckerbissen. Das Endhirn der Salamander umfaßt rund 50 Prozent der gesamten Hirnmasse; der Teil, welcher der Großhirnrinde der Säuger entspricht, ist allerdings vergleichsweise klein und ungefaltet.

Die Projektionsneuronen einer Verarbeitungsstation teilen wir in jeweils mehrere Typen oder Klassen ein, und zwar nach den Zielorten ihrer Fortsätze und der Art, wie sie bei bestimmten visuellen Eindrücken unterschiedlich ansprechen, das bedeutet unterschiedliche Aufgaben haben. Neben den Projektionsneuronen wirken auf den einzelnen Ebenen viele nur lokal tätige Nervenzellen mit. Im Tectum der Salamander machen solche "Zwischen"- oder "Interneuronen" rund 95 Prozent, also die Hauptmenge, der dortigen Nervenzellen aus. Beim Italienischen Schleuderzungensalamander (Hydromantes italicus) zählten wir im Tectum 5000 Projektionsneuronen, hingegen 115000 Interneuronen.

Alle Stationen können wir hier nicht im Detail besprechen. Etwas genauer werden wir aber auf die Ganglienzellklassen der Netzhaut und auf den Aufbau des Tectum opticum mit seinen Neuronentypen eingehen. Beides haben wir gründlich anatomisch und neurophysiologisch untersucht. Die Befunde machen deutlich, wie ein visueller Reiz in Merkmalskomponenten zerlegt, mit anderen Komponenten kombiniert, von Stufe zu Stufe weitergegeben und bewertet und schließlich in eine Verhaltensentscheidung überführt wird.

Für unsere Fragestellung müssen wir herausfinden, woher einzelne Nervenzellen Signale erhalten und wohin sie über ihre Axone Nachrichten senden. Wir erfahren das zum Beispiel, indem wir Zellen, deren Antworteigenschaften wir elektrophysiologisch messen, mit einem Farbstoff füllen. Sie verteilen ihn dann in ihren kürzeren Fortsätzen, den "Dendriten", mit denen Nervenzellen einlaufende Informationen von anderen Neuronen abgreifen, und in den meist langen "Axonen", mit denen die Signale weitergeschickt werden. Dadurch wird die Gesamtgestalt einer Nervenzelle sichtbar gemacht. Man kann Nervenzellen auch "von rückwärts", das heißt vom Axon her, anfärben, indem man den Farbstoff in ein bestimmtes Gehirngebiet einbringt. Auf diese Weise erfährt man, wo Zellkörper sitzen, die ihre Axone in dieses Gebiet schicken (Bild rechts).

In der Netzhaut eines Salamanders werden – wie bei allen Wirbeltieren – Seheindrücke in Einzelkomponenten zerlegt, die den Grundeigenschaften des gesehenen Objekts entsprechen. Dies sind vor allem Größe, Kontrast zum Hintergrund, Geschwindigkeit, Richtung und Art einer Bewegung sowie allgemeine Helligkeitsschwankungen im Blickfeld, die von einem großen, sich bewegenden Objekt hervorgerufen werden.

Diese Zerlegung leisten die "Retinaganglienzellen", deren Axone den Sehnerv bilden (Kasten links). Ihnen arbeiten kompliziert miteinander verschaltete lokale Nervenzellen in der Netzhaut zu, die zwischen den Sinneszellen und den Retinaganglienzellen liegen.

Bei den Salamandern haben wir bisher drei Klassen von retinalen Ganglienzellen nachgewiesen und besitzen Hinweise auf eine vierte. Diese Klassen sprechen bei einem visuellen Reiz verschieden an: Während auf bestimmte Merkmale wie Bewegung, Kontrast und Unterschiede in der Größe alle Klassen antworten und sich nur in ihren Antwortstärken unterscheiden, gibt es andere Merkmale wie Helligkeitsschwankungen und Bewegungsweise, auf die einige Klassen antworten, andere aber nicht.

Wir testen dies, indem wir dem Tier Attrappen vorführen: etwa grobe Schablonen von Insekten, Würmern, Raubfeinden und dergleichen, oder auch nur quadratische oder rechteckige verschieden große Pappstückchen, die wir in unterschiedlicher Weise bewegen – und die Reaktion der einzelnen Zellen messen.

So reagieren Zellen der Klasse 1 besonders gut etwa auf kleine krabbelnde oder fliegende Insekten, doch auf Geschwindigkeitsveränderungen und die Bewegungsweise von kleinen Objekten antworten vor allem Zellen der Klasse 2, während die der Klasse 3 auch Bewegungen größerer Objekte registrieren. Die Klasse 4 ist anscheinend zuständig, wenn etwa ein großer Freßfeind oder ein Hindernis auftaucht.

Die verschiedenen Klassen von Retinaganglienzellen weisen also teils getrennte und teils überlappende Antworteigenschaften auf. Frühere Forscher hatten angenommen, daß bei Amphibien schon in der Netzhaut festgestellt wird, ob das Objekt eine potentielle Beute oder ein Freßfeind ist. Da unsere Versuche dies widerlegen und die verschiedenen Zellklassen zudem ihre Informationen getrennt ins Gehirn weiterleiten, ist diese The-se unseres Erachtens falsch: Auch bei Amphibien werden Objekte noch nicht im Auge erkannt!

Der Sehnerv schickt Fasern in vier visuelle Zentren (Kasten links):

‰ zum bereits erwähnten Tectum, dem Hauptintegrationszentrum für visuelle Informationen;

‰ zum Thalamus, einem Teil des Zwischenhirns (er liegt sozusagen zwischen Mittel- und Endhirn);

‰ zum Praetectum, das zwischen Thalamus und Tectum liegt;

‰ und zum Tegmentum, einem Bereich im unteren Mittelhirn.

Die teilweise unterschiedlichen retinalen Eingänge in diese Gehirngebiete bilden eine der Grundlagen dafür, daß die Neuronen dieser vier Zentren unterschiedlich auf die einzelnen Merkmale visueller Objekte reagieren. Während etwa Tectum-Zellen auch bei kleinen, bewegten Objekten, also beispielsweise Insekten, gut ansprechen (allein sie empfangen Retinaganglienzellen der Klasse 1), sind die des Thalamus bei großen Objekten wie Raubfeinden und Hindernissen besonders aktiv. Die Zellen des Praetectums wiederum antworten am besten oder gar ausschließlich auf großflächige Verschiebungen im Gesichtsfeld, wie sie bei Kopfbewegungen des Salamanders entstehen.

Der Thalamus leitet im Gegensatz zum Tectum und Praetectum Signale unter anderem direkt zu Bereichen des Endhirns, und zwar vor allem zu solchen Endhirngebieten, die mit der Integration von Information aus verschiedenen Sinnessystemen, mit Lernen und Gedächtnis sowie mit Motivation und Verhaltensbewertung zu tun haben. Thalamus und Praetectum benachrichtigen wiederum das Tectum, wenn im Gesichtsfeld ein großes, bewegtes Objekt auftaucht. Sie unterdrücken damit Antworten des Tectums etwa auf Freßfeinde.

Das Tegmentum ist an der Steuerung der Blickrichtung beteiligt; neben den Sinneseindrücken vom Auge laufen hier auch die vom Gleichgewichtssystem des Innenohrs ein.

Die Verrechnung im Tectum opticum interessiert uns besonders. Dort treffen – und zwar in der außenliegenden, faserreichen "weißen Substanz" – sowohl Fasern von der Netzhaut und von den anderen visuellen Zentren ein als auch von anderen Sinnessystemen (Hörsystem, Gleichgewichtssystem, Körperempfindungssystem) aus dem verlängerten Mark und Rückenmark.

Insgesamt lassen sich in dieser weißen Substanz des Tectums fünf Schichten unterscheiden, von denen die oberen drei die Eingänge von der Netzhaut enthalten, und zwar für jede Zellklasse in unterschiedlicher Weise (Kasten Seite 61). Auch die Dendritenbäume der Tectum-Interneuronen bilden jeweils verschiedenartige Kontakte mit den Fasern des Sehnervs. Gleiches gilt für die Kontaktmuster zwischen den Interneuronen des Tectums und den aus dem Tectum ziehenden Projektionsneuronen.

Bei den Projektionsneuronen des Tectums fanden wir fünf anatomische Grundtypen, hier T1 bis T5 genannt (T steht für Tectum). Deren Zellkörper sitzen in verschiedenen Tiefen der innen liegenden "grauen" Substanz: die von T1 etwa perlschnurartig am oberen Rand (Bild Seite 59 oben).

An der Art der Verzweigung der Dendritenbäume läßt sich erkennen, von welchen Retinaganglienzellen die jeweiligen Tectum-Neuronen ihre Informationen erhalten. Die einzelnen Typen kombinieren demnach in unterschiedlicher Weise die verschiedenen Eingänge von der Netzhaut (Kasten rechts). So befaßt sich der Typ T1 vornehmlich mit Größen- und Gestalterkennung und wahrscheinlich auch mit der räumlichen Lokalisation von Objekten. Der Typ T2 hingegen verarbeitet vor allem Bewegungsgeschwindigkeiten und Bewegungsmuster, während sich T3-Zellen wiederum unter anderem mit Helligkeitsschwankungen befassen, wie sie im Gesichtsfeld auftreten, wenn ein größeres Objekt sich vor dem Tier bewegt.

Die verschiedenen Typen von tectalen Projektionsneuronen sind direkt – oder über Interneuronen indirekt – miteinander verbunden, wobei sie sich gegenseitig hemmen oder erregen (eventuell auch beides nacheinander). Zusätzlich erhalten einige von ihnen Eingänge von anderen Hirngebieten, wie Thalamus und Praetectum, ebenso wie von anderen Sinnessystemen. Entsprechend komplex sind ihre Antworteigenschaften.

Als wir dies mit Attrappen testeten, fanden wir dasselbe wie schon bei den Retinaganglienzellen: Die Antworteigenschaften der verschiedenen Typen von Tectum-Neuronen überlappen teils stark. Die Zellen antworten nämlich alle auf mehrere visuelle Merkmale gleichzeitig, wenn auch in unterschiedlicher Stärke. Manche Zellen beispielsweise reagieren besonders gut auf große, andere auf kleine Attrappen. Sie erfassen dabei aber, anders als die Ganglienzellen der Netzhaut, jeweils eine volle Größenordnung, etwa Objekte von einem Millimeter bis einem Zentimeter Durchmesser, oder solche von fünf Millimeter bis fünf Zentimeter. Dies bedeutet, daß einzelne Neuronen für eine genaue Bestimmung der Objektgröße ungeeignet sind.

Eine bestimmte Spezialisierung fanden wir dahingehend, daß jene Tectum-Neuronen, die besonders gut auf kleine Objekte reagieren, zur Mitte des Gesichtsfeldes hin ausgerichtet sind. Das dürfte dem Beutefang zugute kommen. Neuronen für große Objekte hingegen antworten, wenn sich am Rande des Gesichtsfelds etwas rührt. Sie scheinen besonders mit Feinderkennung befaßt.

In ähnlicher Weise reagieren Tectum-Zellen bei der Darbietung von bewegten Reizen auf weite Geschwindigkeitsbereiche. Die Bandbreite aller zusammen reicht von einem Winkelgrad pro Sekunde (das entspricht einem langsam vorbei- kriechenden Wurm) bis mindestens 100 Winkelgraden pro Sekunde (wenn ein kleines Insekt vorbeifliegt oder ein Käfer vorbeirennt). Manche Zellen sind allerdings mehr auf schnelle, ande-re auf langsame Geschwindigkeiten ausgerichtet. Viele bevorzugen aber ein mäßiges Tempo von sechs Grad pro Sekunde, so schnell wie etwa ein langsam krabbelnder Käfer. Viele Tectum-Zellen reagieren übrigens besonders gut auf unregelmäßig ruckartige Bewegungen. Auch hier gilt, daß ein einzelnes Tectum-Neuron nicht geeignet ist, die Geschwindigkeit eines Objektes genau zu bestimmen.

Gleiches schließlich finden wir bei Attrappen mit unterschiedlichen Formen. Nahezu alle Tectum-Neuronen bevorzugen mittelgroße, kompakte Attrappen; als nächste in der "Gunst" stehen entweder horizontal oder senkrecht orientierte längliche Attrappen. Die Unterschiede in der Wirksamkeit dieser einfachen Formen sind jedoch selten groß, und häufig verändern sie sich stark in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegen. Bisher haben wir noch keine komplexeren Attrappenformen gefunden, die wesentlich besser als die einfachen beantwortet werden.

Eine echte Sondergruppe bilden Neuronen, die ausschließlich auf großflächige Helligkeitsschwankungen antworten. Diese Zellen reagieren besonders auf Verdunkelung, am empfindlichsten bei einer Beleuchtungsstärke unterhalb von einem Lux. Demnach sehen die von uns untersuchten Salamanderarten, die dämmerungsaktiv sind, noch in sehr schwachem Licht plötzlich auftauchende Schatten.

Zusammengefaßt läßt sich also sagen, daß auch im Tectum auf der Ebene einzelner Zellen keine vollständige Objekterkennung stattfindet. Dies läßt nur den Schluß zu, daß erst eine größere Gruppe (Population) von Tectum-Neuronen gemeinsam so komplexe Merkmale wie die Gestalt und erst recht das vollständige Objekt erfaßt. Dies gelingt erst innerhalb einer Neuronenpopulation, in der die unterschiedlichen Typen von Projektionsneuronen die verschiedenen Merkmale in unterschiedlicher Gewichtung repräsentieren. Diese Leistung nennen Neurobiologen "Populationscodierung" (Bild Seite 64). Selbstverständlich tragen in einer solchen Population neben den verschiedenen Projektionsneuronen auch die Interneuronen zur Merkmalskombination bei.

Die fünf Grundtypen von Tectum-Projektionsneuronen informieren auch andere Gehirngebiete unterschiedlich (Kasten rechts). So schickt T1 als einziger der fünf Typen keine Botschaften "aufwärts" zum Thalamus oder Praetectum. Und als einziger Typ verzweigt sich sein "absteigendes" Axon beidseitig intensiv im Tegmentum. Dieses Kerngebiet spielt eine Rolle bei der Steuerung von Orientierungsbewegungen auf ein Beuteobjekt hin sowie bei der visuellen Aufmerksamkeit.

Wichtig sind unter anderem auch die Verbindungen von T2 bis T5 zum Praetectum. Hierdurch werden Eigenbewegungen des Salamanders mit Bewegungen von Objekten verrechnet; der Salamander kann somit feststellen, ob Bewegungen von Objekten auf der Netzhaut und im Tectum durch ihn selbst oder durch die Objekte verursacht werden.

Die verschiedenen Typen von Tectum-Neuronen senden die Ergebnisse ihrer Verrechnungsarbeit auf getrennten Bahnen "abwärts" in unterschiedliche Bereiche der prämotorischen und motorischen Zentren im verlängerten Mark und Rückenmark. T1 besitzt als einziger Typ Fortsätze, die dabei zur Gegenseite kreuzen; dies ist in allen Wirbeltiergehirnen typisch für Systeme, die mit Orientierungsbewegungen haben.

Aber auch andere Teile des Gehirns schicken die Ergebnisse ihrer Informationsverarbeitung direkt zum Mark: das Praetectum, der Thalamus und mehrere Gebiete im Endhirn – wie die Basalganglien und die Amygdala, denen die visuellen Zentren Mitteilung gemacht hatten. Im Mark laufen also eine Vielzahl von Bahnen zusammen, die alle unterschiedliche Informationen tragen (Schema oben).

Dieses Ergebnis hatten wir nicht erwartet. Eine "parallele" Verarbeitung und Weiterleitung von Fragmenten der Sinneseindrücke und von Verrechnungsergebnissen in mehreren Gehirngebieten war von Säugern bekannt, nicht aber von Amphibien. Das Resultat dürfte bedeuten, daß das Tectum opticum als visuelles Integrationszentrum ein gesichtetes Objekt zwar mehr oder weniger genau identifiziert, daß dies für die Verhaltensentscheidung aber noch nicht ausreicht. Vielmehr findet die endgültige Entscheidung über eine Verhaltensreaktion des Tieres offensichtlich erst auf der Stufe der Prämotorik und Motorik im Mark statt, nachdem Informationen von anderen Zentren hinzugekommen sind, die zum Beispiel mit der Unterscheidung von Eigen- und Fremdbewegung, mit Motivation und Beuteerfahrung zu tun haben. Der ganze Prozeß stellt sich also als eine parlamentarische Entscheidung dar, in die viele Gesichtspunkte einfließen.

Wie der abschließende Verrechnungs- und Entscheidungsprozeß im Mark im Detail abläuft, ist noch unbekannt. Fest steht nur, daß bei Salamandern genauso wie bei allen anderen Wirbeltieren die Motorkerne, die unmittelbar die Muskeln aktivieren, von ausgedehnten Netzwerken (der retikulären Formation) umgeben sind. Diese spielen bei dem komplizierten Prozeß der Umsetzung der vielen Informationen aus dem Gehirn in Bewegungsabläufe eine wichtige Rolle.

Gut bekannt ist hingegen der Ablauf der eigentlichen Beutefanghandlung. Hieran sind die Motorkerne des fünften bis zwölften "Hirnnerven" (mit Ausnahme des achten) sowie des zweiten "Spinalnerven" beteiligt, welche die zum Beutefang wichtigen Muskeln innervieren und sich der Länge nach über das verlängerte Mark bis in das Rückenmark hinein erstrecken: für Kopfbewegungen (11. Hirnnerv, Accessorius), Maulöffnen (7. Hirnnerv, Facialis), Heben des Mundbodens, um die Zunge in Schußposition zu bringen (ebenfalls 7. Hirnnerv), Vorschnellen der Zunge (9. und 10. Hirnnerv, Glossopharyngeus und Vagus), Zurückholen der Zunge (12. Hirnnerv, Hypoglossus, und 2. Spinalnerv) und Maulschließen (5. Hirnnerv, Trigeminus).

Bei dieser Präzisionsleistung des Hervorschnellens und Zurückholens der Zunge, die in wenigen Hunderstel Sekunden abläuft, schießt die Zunge beispielsweise schon heraus, wenn das Maul sich noch öffnet: Zungenvorschnellmuskel und Maulöffnermuskel werden gleichzeitig aktiviert. Die Schußweite der Zunge wird durch den zeitlichen Abstand zwischen der Aktivierung des Vorschnell- und des Rückholmuskels sowie durch die Schubkraft des Vorschnellmuskels verändert. Die Schleuderzungensalamander kombinieren den Zungenschuß zudem manchmal mit einer schnellen Kopfbewegung, wenn die Beute seitlich vorbeiläuft.

Dieses ganze Geschehen sei zum Schluß an zwei konkreten Fällen durchgespielt. Was geschieht zum Beispiel, wenn ein Schleuderzungensalamander eine Stubenfliege sieht? Der Anblick dieser Leibspeise aktiviert, was Größe, Geschwindigkeit und Bewegungsweise angeht, vornehmlich Klasse-1- und Klasse-2-Retinaganglienzellen. Sie melden über den Sehnerven ans Tectum: "Etwas Kleines, Bewegtes".

Die von ihnen erregten Tectum-Neuronen integrieren die Informationen über das gesichtete Objekt arbeitsteilig weiter und fassen sie zusammen: Mit seiner Größe und seiner Kontur beschäftigen sich T1 und T5, mit der Bewegungsgeschwindigkeit und -weise T2 und T4. Auf dieser Ebene wird die Fliege insofern "erkannt", als ihre Konturen und das Bewegungsmuster erfaßt werden. Das Tectum interpretiert gewissermaßen: "Kleines, ruckartig bewegtes Objekt: potentielle Beute".

Vom Thalamus kommt in dem Fall kein Einspruch, denn ein so kleines Objekt erregt die Retinaganglienzellen, die hierhin projizieren, nicht besonders. Damit ist der Weg frei, die Botschaft des Tectums über den Thalamus an die Gedächtniszentren im Endhirn zu senden, vor allem zum medialen Pallium, zur Amygdala und zum Nucleus accumbens (also Strukturen, die denen des "limbischen Systems" der Säuger entsprechen). Hier wird überprüft, ob es mit dem identifizierten Objekt irgendwelche früheren Erfahrungen gibt und welcher Art diese waren.

Im Fall der Stubenfliege heißt die Auskunft: "Es gibt Erfahrungen, und sie waren gut!" Dies wird zu den Basalganglien (Striatum, Globus pallidus) im Endhirn weitergeleitet, und von ihnen geht zu den prämotorischen und motorischen Zentren im verlängerten Mark die Meldung ab: "Falls du hungrig bist (was der Hypothalamus mitteilt), wende dich dem Objekt zu, warte, bis es nah genug herankommt (oder nähere dich dem Objekt) und schnapp zu!"

Gleichzeitig teilen Tectum-Neuronen den motorischen Zentren die genauen "Raumkoordinaten" der Beute mit, damit der Fang überhaupt präzise ausgeführt werden kann. Die motorischen Zentren, welche die Bewegungsbefehle generieren, erhalten somit aus verschiedenen Hirngebieten zugleich Auskunft: Aus dem Hypothalamus über den Hunger, aus dem Tectum über den Ort, die Art des Objekts und seine Größe, aus dem Endhirn über die Bewertung als schmackhafte Beute.

Taucht jedoch eine Biene auf, dann reagiert der Salamander anders – falls er damit bereits schmerzhafte Erfahrungen gemacht hat. Zwar klassifizieren auch in diesem Fall die Erkennungssysteme von Netzhaut und Tectum das Insekt aufgrund von Gestaltmerkmalen und Bewegungsmuster als potentielle Beute und teilen dies den limbischen Zentren des Endhirns mit. Dort meldet aber gleichzeitig die Amygdala: "Nicht gut!" Entsprechend werden auch die motorischen Zentren informiert, woraufhin sie veranlassen, daß der Salamander flieht oder sich zumindest von der Biene abwendet.

Ein unerfahrener Salamander schnappt allerdings ohne Zögern nach einer Biene, wie wir in Verhaltensversuchen festgestellt haben (bei Fröschen ist dies übrigens ebenso). Der Einstufung im Tectum als potentielle Beute steht in diesem Fall ja noch keinerlei schlechtes Erlebnis entgegen. Daher erfolgt vom Endhirn her schlicht das Kommando an die motorischen Zentren: "Schnapp zu und stell fest, was passiert!" Das Ergebnis wird dann im Gedächtnis gespeichert; dies hat zur Folge, daß Salamander oder Frosch ein zweites Mal nicht so unbekümmert handeln!

Neu ist an diesen Ergebnissen vor allem, daß die Verarbeitung eines visuellen Reizes bei Amphibien prinzipiell der bei Säugern ähnelt. Trotz ihres einfacheren Gehirns verfügen Salamander offensichtlich in wesentlichen Bereichen über ähnliche Mechanismen und vergleichbare Instanzen wie die, mit denen ein Primat "sieht". Auch in ihrem Gehirn werden Entscheidungen unter Mitsprache mehrerer Instanzen, bis hin zu solchen des Endhirns, getroffen.

Das Erkennen von Feinden und Hindernissen geschieht offenbar vornehmlich in einem Teil des Thalamus, das Identifizieren und Lokalisieren von Beutetieren im Tectum opticum. Für Wendebewegungen von Kopf und Körper auf Beuteobjekte hin sind spezialisierte Subsysteme im Tectum in Zusammenarbeit mit dem Praetectum zuständig. Der Hypothalamus liefert Informationen über Bedürfniszustand und Stimmung (etwa Hunger und Aggression). Das Endhirn vergleicht die Information, die Thalamus und indirekt Tectum ihm geben, mit früheren Erfahrungen (Amygdala für schlechte und Nucleus accumbens für gute) und integriert dies in den Basalganglien zu einer Entscheidung, ob ein Beutefang vorteilhaft ist. Die verschiedenen Gehirnteile bilden aus den ihnen jeweils verfügbaren Informationen unterschiedliche Repräsentationen der Objekte sowie der Gesamtsituation, die dann teils parallel, teils in Stufen nacheinander wechselwirken, bis das Resultat in den Motorzentren zusammenfließt. Genauso wenig wie im Gehirn von Primaten gibt es im Salamandergehirn ein "oberstes" Erkennungszentrum, welches das Verhalten direkt steuert.

In vielen Labors versuchen Wissenschaftler heute mit Hilfe bestimmter mathematischer Methoden, sogenannter "Neuronaler Netzwerke", und des Computers Leistungen des Gehirns rechnerisch nachzubilden und zu simulieren. Solche Modelle berücksichtigen in begrenztem Maße die tatsächlich gemessenen Eigenschaften von Neuronen und deren Verknüpfungen. Auch wir haben versucht, einfache Verhaltensleistungen wie zum Beispiel die Ausrichtung des Kopfes auf ein bewegtes Beuteobjekt, die räumliche Lokalisation einer Beute und das "Abschießen" mit der Schleuderzunge auf diese Weise nachzubilden. Mit nur wenigen hundert simulierten Tectum-Neuronen bzw. Inter- und Motorneuronen waren die Programme "Simulander I" und "Simulander II" in der Lage, ein schnell bewegliches, kleines Objekt ständig im Blickfeld zu behalten beziehungsweise zu "fangen". Zur Zeit entwickeln wir ein Modell für Objektwahrnehmung ("Simulander III"), das auf den hier dargestellten Forschungsergebnissen aufbaut.

Solche Simulationen helfen beim Verständnis der tatsächlich im Gehirn ablaufenden Prozesse, da man hier von außen in den Ablauf eingreifen und bestimmte Gegebenheiten verändern kann. So lassen sich zum Beispiel im Modell einzelne Gruppen von Neuronen mit bestimmten Eigenschaften gezielt ausschalten. Durch solche Veränderungen haben wir unter anderem herausgefunden, daß Neuronen mit großen visuellen "Einzugsbereichen" (rezeptiven Feldern) Objekte nicht etwa ungenau lokalisieren, sondern daß es gerade diese Großfeldneuronen sind, die aufgrund der hochgradigen Überlappung ihrer Dendritenbäume auch kleine Objekte im Raum genau orten können.

Neurobiologen dachten früher, daß ein Amphibiengehirn visuelle Informationen relativ starr, nach instinktiven Mustern, verarbeitet. Sie vermuteten sogar verschiedene Sorten von spezialisierten Erkennungsneuronen für unterschiedliche Beute- und Feindobjekte. Getäuscht wurden sie unter anderem von der Schnelligkeit, mit der Amphibien Beuteobjekte fangen, die ihnen bekannt sind. Deren Repräsentationen "verdrahten" sich – genauso wie in unserem Gehirn – mit zunehmender Erfahrung immer fester, und dies ermöglicht eine schnellere und "automatisierte" Reaktion. Konfrontiert man Frösche und Salamander hingegen mit unbekannten Objekten, dann zögern sie häufig, ehe sie zuschnappen – oder eben nicht zuschnappen.

Auch wenn wir schon länger wissen, daß es bei Amphibien keine "Wurm"- oder "Fliegen"-Neuronen gibt – daß das visuelle und visuomotorische System von Salamandern und Fröschen so komplex aufgebaut ist, wie wir herausgefunden haben, ist überraschend.

Literaturhinweise


Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Von Gerhard Roth und Wolfgang Prinz (Hg.). Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1966.

Salamander with a ballistic tongue. Von S. M. Deban, D. B. Wake und G. Roth in: Nature, Bd. 389, S. 27-28, 4. Sept. 1997.

Salamander und Simulander. Experimente und Modellierung zur Raumorientierung bei Schleuderzungensalamandern. Von W. Wiggers et. al. in: Neuroforum, Bd. 1, März 1995, S. 6-14.

Morphology, Axonal Projection Pattern, and Response Types of Tectal Neurons in Plethodontid Salamanders. I und II. Von Ursula Dicke bzw. von Gerhard Roth et. al. in: The Journal of Comparative Neurology, Bd. 404, 1999, S. 473-488 und 489-504


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1999, Seite 56
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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