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Wie eine molekulare Anstandsdame Proteine zur (Ent-)Faltung bringt

Indem das Hitzeschock-Protein Cpn-60 mit frisch synthetisierten Eiweißstoffen einen komplizierten Tanz aufführt, bei dem es sie immer wieder wegstößt und heranzieht, während der zelluläre Energieträger ATP den Takt angibt, bringt es sie recht in Form.


Seit man Anfang der sechziger Jahre herausgefunden hatte, daß Zellen nach einer kurzzeitigen Überwärmung verstärkt bestimmte Proteine herstellen, wurde über deren Funktion gerätselt. Erst in den letzten Jahren zeigte sich,
daß solche Hitzeschock-Proteine eine wichtige Rolle bei der Proteinfaltung spielen (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1993, Seite 40). Vergleichbar den Anstandsdamen oder Chaperons, die in al-ter Zeit die Töchter aus besserem Hause abschirmten, schützen sie die heranwachsenden Proteinmoleküle vor unerwünschten Kontakten und helfen ihnen dabei, zu ihrer richtigen dreidimensionalen Struktur zu finden.

Zu diesem Zweck binden sie den ungeordneten Peptidstrang vorübergehend an sich und hindern ihn so daran, sich wahllos zu verknäulen und als unlöslicher, unbrauchbarer Klumpen auszuflokken. Wie erstmals anhand des Hitzeschock-Proteins Chaperonin-60 (Cpn-60 oder – nach einer älteren, unsystematischen Bezeichnung – GroEL) und der Faltung des Enzyms Citrat-Synthase bewiesen wurde, beschleunigen sie dabei allerdings keineswegs den Faltungsprozeß, sondern verlangsamen ihn zum Teil sogar erheblich. Weil sie jedoch die falschen Verknüpfungen noch stärker benachteiligen, erhöht sich der Anteil der Moleküle, die sich richtig krümmen, ringeln und in Schlaufen legen.

Faß mit Deckel


Wie Cpn-60 seine Beschützerrolle im einzelnen spielt, wird derzeit in vielen Labors weltweit untersucht. Was man bisher weiß, ist freilich erst so schemenhaft wie das aus mehreren elektronenmikroskopischen Aufnahmen rekonstruierte Strukturbild des Moleküls (Bild 1). Cpn-60 bildet einen faßartigen Komplex aus zwei Ringen mit je sieben Untereinheiten. Diese haben ein Molekulargewicht von 57 Kilodalton und sind nierenfömrmig, was möglicherweise bedeutet, daß sie aus zwei sich unabhängig faltenden Strukturregionen – Biologen sagen: Domänen – bestehen. Zu diesem Faß gibt es einen Deckel aus ebenfalls sieben ringförmig angeordneten Einheiten des kleineren Proteins Cpn-10 mit einem Molekulargewicht von je 10 Kilodalton. In Zellextrakten finden sich gewöhnlich Partikel mit einem Deckel pro Faß; doch wurde auch schon über fußballförmige Teilchen mit zwei Deckeln berichtet.

Über die Funktion des Komplexes weiß man, daß er während der Proteinfaltung, aber auch in Abwesenheit eines Substratproteins den Energieträger Adenosintriphosphat (ATP) zu Adenosindiphosphat (ADP) abbaut, also Energie verbraucht. Da 14 Moleküle ATP gleichzeitig umgesetzt werden können, verfügt offenbar jede einzelne Untereinheit über ein aktives Zentrum.

Diese ATPase-Aktivität ist erst im letzten Jahr umfassend beschrieben worden und für sich allein schon ziemlich kompliziert. Während bei fehlendem Deckel alles ATP zu ADP umgesetzt wird, tritt in seiner Gegenwart ein komplexer Regelmechanismus in Aktion. Dadurch kommt es bereits nach dem ersten Durchgang zu einer Art Produkthemmung: Das gebildete ADP inaktiviert jeweils die Hälfte der 14 Einheiten. Nach einer gewissen Zeit, die von den Konzentrationen an ATP und Kalium abhängt, endet auch diese zweite, halbaktive Phase, und das Enzym ist vollständig blockiert.

Menage a trois


Auf der Basis sorgfältiger neuer Untersuchungen haben F. Ulrich Hartl und seine Mitarbeiter am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York jetzt erstmals den Versuch gewagt, einen Reaktionszyklus für Cpn-60 aufzustellen, der auch Substratmoleküle einschließt ("Nature", Band 366, Seiten 228 bis 233, 18. November 1993). Ihr Mo-dell beruht hauptsächlich auf Bindungsstudien, in denen die Reaktionsgemische in verschiedenen Stadien durch Gelfiltration getrennt werden; aneinandergebundene Komponenten bleiben dabei zusammen und lassen sich somit identifizieren.

Auch die zeitweise Freisetzung eines Bindungspartners konnte durch raffinierte Experimente getestet werden. Gibt man in Gegenwart von ATP zum Beispiel Cpn-60 und ein ungefaltetes Substratprotein (Substrat 1) zusammen, so binden sich beide nur aneinander; das freie, gefaltete Protein (Enzym 1) entsteht nicht. Kippt man diese Mischung jedoch zu einem Ansatz. der einen Komplex aus Cpn-60, Cpn-10 und einem anderen Substratprotein (Substrat 2) enthält, dann wird aktives Enzym 1 frei. Das beweist zum einen, daß zur kompletten Faltung von Enzym 1 auch Cpn-10 benötigt wird; und zum anderen macht es deutlich, daß sich dieses Cpn-10 aus dem Verbund mit Cpn-60 und Substrat 2 gelöst haben muß.

In einem weiteren Experiment konnten die beiden Cpn-60-Ringe im Cpn-60/ Cpn-10-Komplex unterschieden werden, nachdem man ein Proteine abbauendes Enzym zugesetzt hatte, das nur die vom Deckel abgewandte Hältte der Faßdauben angriff, während die andere Hälfte durch die Bindung an den Deckel geschützt blieb. Aus diesen und ähnlichen Untersuchungen konnte man so schließlich erstmals ein genaueres Bild vom diskreten Wirken der Anstandsdame gewinnen (Bild 2).

Danach tritt das ungefaltete Substratprotein mit Cpn-60 vermutlich über hydrophobe (wassermeidende) Gruppen in Wechselwirkung. Diese liegen im fertig gefalteten Protein im Inneren und stabilisieren dessen Struktur durch Bildung eines hydrophoben Kerns; sie in der ungefalteten Kette daran zu hindern, wahllos in Kontakt miteinander zu treten und das Protein dadurch verklumpen zu lassen, ist gerade die Aufgabe des Chaperonins. Das neu ankommende Substratprotein trifft zunächst höchstwahrscheinlich auf einen Komplex aus Cpn-60, Cpn-10 (also auf ein Faß mit Deckel) und ADP und lagert sich daran an. Dadurch lokkert sich allerdings der Deckel, so daß er sich zusammen mit dem ADP ablöst. Dafür wird nun ATP gebunden. Dies erhöht wiederum die Affinität des Komplexes zum Deckel, der folglich erneut andockt und die Spaltung von ATP zu ADP auslöst. Dabei verdrängt er kurzzeitig das Substrat; dieses bleibt zwar in der Nähe oder sogar im Innenraum des Komplexes, erhält aber die Bewegungsfreiheit zum Ausführen jener Umordnungsvorgänge, durch die es letztlich den korrekt gefalteten Zustand erreicht. Entsteht bei diesem Rearrangement bereits ein fehlerfrei gefaltetes Protein, in dem keine hydrophoben Gruppen mehr nach außen zeigen, so wird es ganz entlassen, und die Reaktion ist abgeschlossen. Sind hingegen noch bindungsfähige hydrophobe Stellen zugänglich, lagert sich das Substrat erneut an Cpn-60 an, und der Zyklus beginnt von vorne.

Diese komplizierte Choreographie wird offenbar von der Spaltung des ATP synchronisiert: Der ADP-Komplex stößt den Deckel ab und lagert das Substrat
an; der ATP-Komplex dagegen entläßt das Substrat und bindet den Deckel wieder. Nach Meinung von Hartl und seinen Kollegen soll die ATP-Spaltung, die ihrerseits vom Deckel reguliert wird, dabei die Freisetzung des Substrats auslösen. In diesem Falle bleibt jedoch unklar, wann und warum das Substrat wieder gebunden wird. Als Alternative wäre denkbar, daß die ATP-Spaltung als Taktgeber eine bestimmte Faltungszeit vor gibt: Erst nachdem alle 14 gebundenen ATP-Moleküle gespalten sind, kann das Substrat wieder angelagert werden. Immerhin unterscheiden sich ATP- und ADP-Komplex so deutlich in der Struktur, daß man sie im Elektronenmikroskop auseinanderhalten kann – beim Übergang zwischen beiden werden die Untereinheiten, bezogen auf die Symmetrieachse des Komplexes, um ungefähr 10 Grad gekippt.

Anstandsdame oder Kupplerin?


Freilich steckt dieses Modell nur erst den Rahmen für ein tieferes Verständnis der Aktivität von Cpn-60 ab. So bleibt offen, ob sich das Chaperonin tatsächlich auf bloßes Festhalten und Loslassen beschränkt oder ob weitergehende Wechselwirkungen mit dem Substrat stattfinden. Derzeit ist der Anfinsen-Käfig ei-
ne populäre Modellvorstellung, benannt nach Christian B. Anfinsen (Chemie Nobelpreis 1972), der als erster die Proteinfaltung im Reagenzglas, ohne biologische Faktoren, untersucht hat. Demnach bietet Cpn-60 dem Substratprotein lediglich einen geschützten Raum, in dem es sich selbst spontan falten kann; insbesondere greift das Chaperonin nicht in dem Sinne in den Vorgang ein, daß es seinem Schützling eine bestimmte Form vorgäbe.

Auch die Annahme, daß Cpn-60 freiliegende hydrophobe Stellen erkenne, ist bisher noch nicht bewiesen. Ebensowenig weiß man, warum es bei seiner Hilfestellung soviel ATP verbraucht und ob das Substrat vielleicht zwischen den beiden Ringen hin- und hergereicht wird. Daß inzwischen mehrere Arbeitsgruppen Kristalle von Cpn-60 herstellen konnten läßt zwar darauf hoffen, daß in absehbarer Zeit – neuesten Gerüchten zufolge vielleicht sogar schon in diesem Jahr – hochaufgelöste Strukturdaten zur Verfügung stehen werden, mit deren Hilfe sich auch die Funktion leichter entschlüsseln ließe. Dennoch wird Cpn-60 noch für eine ganze Weile ein schwer zu lösendes Rätsel bleiben (um nicht zu sagen: ein Faß ohne Boden).


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1994, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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