Kreiselphysik: Wie funktioniert der Gyrotwister?
Ein neues Kreiselspielzeug kann durch geschickte Handbewegungen auf hohe Drehzahlen beschleunigt werden. Auf den ersten Blick scheint das physikalischen Gesetzen zu widersprechen.
Ein Paradox? Das neue Spielzeug wird in nur wenig verschiedenen Ausführungen unter den Handelsnamen »Powerball«, »Gyrotwister« oder »Rollerball« als Trimmgerät am Markt angeboten. Es besteht aus einem Gehäuse und einem darin beweglichen Kugelkreisel. Das Gehäuse, eine leichte Schale in Form einer dünnwandigen Hohlkugel, ist halbdurchsichtig und gestattet damit einen – wenn auch eingeschränkten – Blick auf den im Wesentlichen kugelförmigen schweren Kreiselkörper im Inneren.
Dieser hat eine Achse mit geringem Durchmesser, deren beide Enden in einer Nut auf der Innenseite des Gehäuses geführt sind. Die Nut verläuft auf einem Großkreis der Gehäusekugel. Sie ist ein wenig breiter als der Durchmesser der Achse, sodass sich Letztere in der Nut frei drehen oder auf ihren seitlichen Rändern abrollen kann. Der Kreisel selbst ist über ein kreisförmiges Loch im Gehäuse zugänglich, sodass man ihn mit einem flinken Daumen oder mit einer Schnur, die man ihm um den Bauch legt und dann ruckartig abzieht, auf Touren bringen kann.
Aber das ist nur der Anfang. Die Kunst besteht darin, den Kreisel auf noch weit höhere Drehzahlen zu beschleunigen, ohne ihn direkt zu berühren. Vielmehr geschieht der Antrieb allein dadurch, dass man das Gehäuse samt Inhalt geeignet in der Hand bewegt.
Wie kann das funktionieren? Alles, was Kreisel und Gehäuse miteinander verbindet, sind die beiden Punkte, in denen die Kreiselachse die Innenseite der Nut berührt. Kräfte, die man über diese Punkte übertragen kann, haben unvermeidlich die falsche Richtung; denn das von ihnen erzeugte Drehmoment steht senkrecht auf der Kreiselachse und kann daher allenfalls deren Richtung verändern, aber nicht die Rotation des Kreisels beschleunigen.
Zu diesem Ergebnis kamen wir jedenfalls unter Anwendung klassischer physikalischer Sätze an einem Spieleabend im Freundeskreis. Alle hatten zunächst vergeblich versucht, das Ding in Gang zu setzen, bis es schließlich doch gelang. Also hatten wir durch die Praxis die Theorie widerlegt. Wo steckt der Denkfehler?
Bewegungsformen des Kreisels: Wenn man das mit hoher Drehzahl surrende Spielgerät locker in der Hand hält, rotiert der Kreisel mit zeitlich unveränderter Achsenrichtung und nur langsam abnehmender Drehzahl. Die Wechselwirkung mit dem Gehäuse beschränkt sich auf eine geringe Reibung zwischen der Kreiselachse und einer (gleich bleibenden) Stelle der Führungsnut. Das ist die geläufige Bewegungsform des Kreisels: Die Drehachse lässt sich ohne weiteres parallel verschieben; aber ihre Orientierung im Raum zu verändern erfordert erheblichen Kraftaufwand – umso mehr, je schneller der Kreisel rotiert.
Zur Beschreibung der Rotation führt man eine vektorielle Größe namens Drehimpuls ein. Beim Kugelkreisel weist der Vektor in Richtung der momentanen Drehachse; was das Vorzeichen angeht: in die Richtung, in die eine handelsübliche (Rechts-)Schraube getrieben würde, wenn sie sich so drehte wie der Kreisel. Der Betrag des Drehimpulses ist in Spezialfällen, zu denen auch der Kugelkreisel gehört, gleich dem Produkt aus der Winkelgeschwindigkeit und dem so genannten Trägheitsmoment bezüglich der Drehachse; das Trägheitsmoment schließlich ist umso größer, je mehr Masse rotiert und je weiter sie von der Drehachse entfernt ist.
Allgemein gelten für den Drehimpuls analoge Sätze wie für den gewöhnlichen Impuls, der als Masse mal Geschwindigkeit definiert ist. Der Impuls eines bewegten Körpers bleibt erhalten, solange keine Kraft auf ihn einwirkt; entsprechend ändert sich der Drehimpuls eines rotierenden Körpers nur dadurch, dass ein Drehmoment auf ihn einwirkt. Die Änderung (zeitliche Ableitung) des Drehimpulses ist gleich dem Drehmoment: dI /dt = M oder dI = M dt.
Für Letzteres gibt es die Kurzdefinition »Kraftarm mal Kraft« ( M = L × F ). Allerdings bedeutet »mal« das Kreuzprodukt von Vektoren, das heißt: Der Vektor M steht senkrecht auf den Vektoren L und F , und sein Betrag (seine »Länge«) ist nur dann das Produkt der Beträge von L und F, wenn diese senkrecht aufeinander stehen; im Allgemeinen ist er kleiner.
Auf unseren ruhig vor sich hin rotierenden Kreisel wirken (fast) keine Drehmomente, weswegen der Drehimpuls nach Richtung und Betrag (annähernd) konstant bleibt. Und selbst wenn ein Drehmoment wirkt, dessen Vektor aber senkrecht auf dem Drehimpulsvektor steht, ändert sich nur dessen Richtung, nicht aber sein Betrag.
Die antriebsfreie Präzession: Interessanter als die soeben beschriebene freie Rotation ist die Präzessionsbewegung. Halten wir zunächst das Gehäuse kräftig fest, sodass es sich überhaupt nicht mehr bewegt (was uns bei den starken auftretenden Kräften nur näherungsweise gelingen wird). Die Führungsnut im Gehäuse liegt dann unbeweglich im Raum fest. Dabei wandert (»präzediert«) die Kreiselachse langsam in dem Kreis, der ihr durch die Nut vorgegeben ist. Im Gegensatz zur freien Rotation reibt sie sich nicht an der Innenseite der Nut, sondern rollt ohne Schlupf an ihr ab , auf der einen Seite am »oberen« Nutrand, auf der anderen Seite am »unteren« (wobei die im Bild oben und unten eingezeichneten Nutränder beliebig im Raum liegen können).
Der Durchmesser des Gehäuses und damit auch des Nutrandes ist ungefähr fünfzigmal so groß wie der Durchmesser der Kreiselachse, dort wo sie auf dem Nutrand entlangläuft. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, dass die Achse sich an den äußersten Enden bis auf eine Dicke von etwa einem Millimeter verjüngt, während das gesamte Spielzeug ungefähr fünf Zentimeter Durchmesser hat. Wenn also der Kreisel fünfzig Umdrehungen vollführt hat, ist er genau einmal auf dem (inneren) Umfang des Gehäuses abgerollt: Präzessions- und Rotationsfrequenz verhalten sich wie die Radien von Kreiselachse und Gehäuse, in diesem Fall also wie 1 zu 50.
Kräfte können nur von den Nuträndern auf die beiden Kreiselachsenenden ausgeübt werden. Das Drehmoment dieser Kräfte ist senkrecht zur Kreiselachse gerichtet. Von der (materiellen) Kreiselachse zu unterscheiden ist die (unendlich dünne) momentane Drehachse, das heißt die gerade Linie, deren Punkte zum jeweiligen Zeitpunkt die Geschwindigkeit null haben. Sie ist gleich der Geraden durch die beiden Berührpunkte A und B und ändert sich im Allgemeinen mit der Zeit. Aber auch auf ihr und damit auf dem Drehimpulsvektor steht das durch die Nutränder erzeugte Drehmoment senkrecht; deswegen kann der Drehimpuls durch dieses Drehmoment nur in seiner Richtung geändert werden (was geschieht, denn der Kreisel präzediert ja), nicht aber in seinem Betrag. Insbesondere kann die Drehzahl, die ja dem Betrag des Drehimpulses proportional ist, nicht anwachsen.
Nach einer kurzen Zeit dt ist der Berührungspunkt A um ein kleines Stück auf dem oberen Kreis im Bild rechts oben vorgerückt, desgleichen der Berührungspunkt B auf dem unteren Kreis. Im Resultat durchläuft die momentane Rotationsachse, und damit auch der Drehimpulsvektor, einen – sehr flachen – Kegel mit der Kegelspitze im Schwerpunkt S.
In der Praxis kann man das Spielzeug kaum ganz starr festhalten. Wenn der Spieler den Reaktionskräften des Kreisels nur etwas federnd folgt, ohne ihn willentlich anzutreiben, wirkt seine Hand wie ein System von Schraubenfedern, in dem das Spielzeug aufgehängt ist. Kreisel und Federn können zwar Energie austauschen, etwa indem durch Kreiselkräfte eine Feder gespannt wird, die beim Entspannen die an sie übertragene Energie an den Kreisel zurückgibt. Aber dadurch kann die Gesamtenergie des Systems und damit die Drehzahl des Kreisels nicht zunehmen. Bei dieser Bewegung ist das Drehmoment stets senkrecht zum Drehimpuls gerichtet.
Antrieb: Will man dagegen den Kreisel auf höhere Touren bringen, muss man ihm Energie zuführen, das heißt Arbeit leisten. Arbeit ist »Kraft mal Weg«, genauer Kraft mal der Komponente des Weges in Richtung der Kraft. Wir können aber eine Kraft nur über den Berührpunkt von Kreiselachse und Nutrand ausüben, und das war bisher stets ein Punkt der momentanen Drehachse, das heißt ein Punkt, der sich – in diesem Moment – überhaupt nicht bewegt. Wo kein Weg ist, da hilft keine Kraft. Wir müssen also diese Identität von Berührpunkt und Drehachsenpunkt aufbrechen.
Das läuft darauf hinaus, dass wir den Berührpunkten eine von null verschiedene Geschwindigkeit erteilen müssen. Am effektivsten geht das, indem man dem Gehäuse die gleiche Präzessionsbewegung aufzwingt, wie sie sich bei der antriebsfreien Präzession ergeben würde, jedoch mit einer um 90 Grad vorauseilenden Phase. Dann bewegt sich nämlich bei der Weiterbewegung des Gehäuses der Kontaktpunkt A nach unten, das heißt in Richtung der wirkenden Kraft: Die auf den Kreisel übertragene Leistung ist von null verschieden. Die kinetische Energie des Kreisels, und damit seine Drehzahl, muss also zunehmen.
Das Spielzeug ist qualitativ verstanden, das Spiel ist aus!
© Artur Hahn
Der Kreisel: Ein Lieblingsspielzeug der klassischen Mechanik
Lange Fassung mit zahlreichen quantitativen Erläuterungen
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Literaturhinweis
Vorlesungen über Theoretische Physik. Bd. 1: Mechanik. Von Arnold Sommerfeld. Harri Deutsch, Frankfurt am Main 1994.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2003, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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