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Wie Pflanzen fühlen

Ähnlich einem Bergsteiger müssen rankende Gewächse auf ihrem Weg nach oben einen Halt ertasten und prüfen, ehe sie sich dauerhaft verankern. Jetzt beginnen Forscher, diese mechanosensorische Spitzenleistung zu entschlüsseln.


Wenn jemand "empfindlich wie eine Mimose" ist, dann gilt er üblicherweise als berührungsscheu und übersensibel. Doch stimmt der Vergleich eigentlich? Tatsache ist: Auf jede noch so zarte Berührung klappt das sensible Gewächs seine Fiederblätter zusammen. Auf mechanische Reize, ob nun Zug, Druck oder anderes, spricht aber jede Pflanze an – nur meist nicht so auffällig wie die Mimose.

Mechanischen Kräften sind insbesondere die im Boden fest verwurzelten Arten zu allen Zeiten ihres Lebens ausgesetzt. Bereits der Durchtritt der Keimwurzel durch die Samenschale gerät zum Kraftakt. Erhebliche Mühe haben wachsende Wurzeln auch, weiter ins Erdreich vorzudringen. Und sobald sich der hochstrebende Sproß zum Licht erhebt, wird er ständig vom Wind bewegt und oft genug vom Sturm geschüttelt. Je heftiger nun die Beanspruchung ist, desto kräftiger und widerstandsfähiger entwickelt sich die Pflanze.

Dies kann jeder zu Hause in einem einfachen Experiment überprüfen. Man nehme zwei junge in Töpfen gezogene Bohnenpflänzchen und gebe ihnen einen völlig zugfreien, ungestörten Platz auf der Fensterbank. Nun braucht man bloß bei einem der beiden die fehlenden windbedingten Biegebewegungen durch Berührungsreize zu ersetzen: Massieren Sie dazu leicht den Stengelabschnitt oberhalb der kleinen Keimblätter während etwa einer Woche täglich viermal zehn Sekunden zwischen Daumen und Zeigefinger (es darf auch etwas länger sein). Die Unterschiede im Wuchs sind dann frappant: Hochgeschossen die ungestörte Pflanze, stämmig die behandelte gleichaltrige, die damit zweifelsohne besser an einen windexponierten Standort angepaßt wäre (siehe Kasten auf Seite 62 unten).

Pflanzen orientieren sich beim Wachstum zudem normalerweise am Schwerefeld der Erde. Weicht ihr Sproß nur um ein Grad von der Lotrechten ab, korrigieren viele schon den "Fehler": durch ausgleichendes Wachstum einer Seite. Ähnlich reagieren die Spitzen der Keimwurzeln.

Die Verquickung zwischen mechanischen Einflüssen und Regulation des Wachstums geht aber noch weiter, bis auf die Ebene einzelner Zellen. Bekanntlich umgeben sich pflanzliche Zellen – im Unterschied zu tierischen – mit einer Zellwand. Diese bleibt zunächst plastisch verformbar, verfestigt sich dann lokal und schließlich allseitig, so daß die Zelle nicht mehr größer werden kann, auch wenn sie ihren Innendruck, den sogenannten Turgor, erhöhte. Selbst welche endgültige Form eine Pflanzenzelle annimmt, ob sie beispielsweise mehr in die Breite oder stärker in die Länge wächst, wird über ein fein abgestimmtes Gegeneinander von Binnendruck und lokal variierender plastischer Verformbarkeit geregelt.

Berührungsempfindlicher als die menschliche Haut


Kurzum: Würde ein pflanzliches Individuum nicht auf mechanische Reize reagieren, könnte es sich nie angemessen entwickeln und an seinem jeweiligen Standort behaupten. Entsprechend verfügen alle Gewächse über eine fundamentale Mechanosensorik, von den Sonderausstattungen vieler Spezialisten wie der Mimose ganz zu schweigen (siehe Kasten auf Seite 62). Um die Signalkaskaden zu ermitteln, die von mechanischen Reizen – etwa dem Kontakt mit einem Objekt – ausgelöst werden, untersuchen Forscher bevorzugt solche Spezialisten.

Als ausgesprochen "kontaktfreudig" haben sich beispielsweise die Tausende von Pflanzenarten erwiesen, die kletternd oder sich windend an Stützen emporklimmen und sich daran verankern: mit umgestalteten Blättern, Sprossen, ja selbst Blütenständen oder – wie der Efeu – mit oberirdischen Wurzeln. Für diese Gewächse ist es überlebensnotwendig, einen geeigneten Halt zuverlässig zu erkennen; sonst würden sie am Boden verkümmern. Verblüffend ihre Leistungen: Die Ranken mancher Kletterspezialisten sind sogar weitaus berührungsempfindlicher als die menschliche Haut. Eine einmal ertastete Stütze können sie in wenigen Minuten umfassen; ihr rasches Wachstum wird auf den Berührreiz hin "einfach" in passender Weise umgelenkt. Was zwischen Reiz und Reaktion auf molekularer Basis geschieht, haben wir in unseren Forschungsarbeiten untersucht. Davon erhofften wir uns wertvolle Aufschlüsse darüber,

- wie Pflanzen Umwelteinflüsse in interne Signale umsetzen und

- wie diese dann die weitere Entwicklung steuern.

Was zunächst reine Grundlagenforschung zur Mechanosensorik schien, erhielt aber unerwartet auch einen praktischen Aspekt: Meine Mitarbeiter und ich stießen bei unseren Untersuchungen auf verblüffende Querverbindungen und Parallelen zu pflanzlichen Abwehrprozessen gegen Fraßfeinde und Krankheitserreger, mit denen sich Forscher anderer Institutionen befaßten. Dies wiederum eröffnet neue Perspektiven für einen biologischen Pflanzenschutz.

Bei der Untersuchung von Ranken konnten wir auf einer geradezu ehrwürdigen Tradition aufbauen. Bereits Charles Darwin (1809 – 1882) veröffentlichte 1875 eine Arbeit über "Die Bewegungen und Lebensweise der kletternden Pflanzen". Darin ging er auch der Frage nach, wie tastende Ranken sich um einen Halt schlingen. Die von Kürbisgewächsen (Cucurbitaceen) erwiesen sich als besonders geeignete Studienobjekte. Die Pflanzen dieser Familie, zu der auch Gurken und Melonen gehören, sind einfach zu ziehen, und ihre Ranken reagieren ausgesprochen rasch und hochempfindlich. Im ausgehenden 19. Jahrhundert haben dies dann insbesondere zwei führende Botaniker genutzt: Gottlieb Haberlandt (1854 – 1945) in Graz und später Berlin, Mitbegründer einer funktionellen Anatomie und Histologie der Pflanzen, sowie Wilhelm Pfeffer (1845 – 1920), zuletzt in Leipzig, Mitbegründer der modernen Pflanzenphysiologie. Dank ihrer Forschungen waren bereits vor mehr als hundert Jahren die sichtbaren Etappen der Rankenkrümmung bei Kontakt exakt beschrieben und die anatomischen Voraussetzungen im wesentlichen geklärt.

Was der Laie bei Kürbisgewächsen als Ranke ansieht, stellt in Wirklichkeit ein fadenförmig umgebildetes Blatt dar, das auf einem ebenso dünnen "Rankenträger" sitzt. Nur der dem Blatt entsprechende Teil – die Ranke selbst – ist berührungssensitiv und kann sich krümmen. Häufig, so beim eigentlichen Gartenkürbis, gabelt er sich. Einfacher zu untersuchen sind unverzweigte Ranken, wie die der Zaunrübe (Byronia dioica); dieses in Mitteleuropa heimische giftige Kürbisgewächs – eines unserer Hauptstudienobjekte – gedeiht als Unkraut an Heckensäumen, Zäunen und Wegrändern.

Ein relevanter Berührungsreiz für eine haltsuchende Ranke (sie führt tatsächlich Suchbewegungen aus) ist eine rauhe Oberfläche, über die sie hinweg streicht; glatte Flächen sowie bloßer Druckkontakt bleiben praktisch unwirksam. Der erste äußerlich sichtbare Reaktionsschritt ist die sogenannte Kontaktkrümmung, die buchstäblich dem Ergreifen der sich bietenden Gelegenheit dient und nur wenige Minuten dauert (Bildfolge auf Seite 61). Bei Fehlgriffen streckt die Rankenspitze sich wieder und wächst suchend weiter. Im Erfolgsfalle aber, wenn sie sich einmal fest um das Widerlager winden konnte, folgt nun die Phase der "freien Spiralisierung". Innerhalb von 24 bis 36 Stunden verwandelt sich dabei der zunächst straff wie ein Seil gespannte übrige Rankenabschnitt in eine Art hochelastische Schraubenfeder, die den Sproß sehr flexibel und zugleich außerordentlich stabil mit seinem neuen Halt verbindet.

Mit den äußerlich sichtbaren Reaktionen gehen Veränderungen auf anatomischer Ebene einher. Eine sich spiralisierende Zaunrüben-Ranke stellt auf der Flanke, aus der sich die konkave Innenseite der Windungen bildet, ihr Längenwachstum ein. Zellen, die dicht unter der Oberfläche liegen, verdicken ihre Zellwand jeweils teilweise (derart verfestigte, aber dehnfähige Verbände bezeichnet man als Kollenchyme). Schließlich verholzen in einem etwas tiefer gelegenen Halbmond Gewebepartien.

Einige der molekularen Grundlagen dieser lange bekannten Reaktionen der Pflanzen auf einen mechanischen Reiz konnte ich mit meinem Team an der Ruhr-Universität Bochum ermitteln. So haben wir in entsprechend stimulierten Ranken eine charakteristische Abfolge biochemischer Veränderungen nachgewiesen, die sich den sichtbaren anatomischen Veränderungen zuordnen lassen (siehe Abbildung auf dieser Seite).

Ein Beispiel: Während sich das "Festigungsgewebe" ausbildet, steigt die Aktivität verschiedener Enzyme, darunter Peroxidasen, deutlich an. Sie werden zur Biosynthese von Lignin benötigt, einem der Hauptbestandteile von Holz. Zusätzlich können Peroxidasen, wie wir wußten, Prozesse in Gang setzen, die weitere Zellwandkomponenten, darunter Strukturproteine, miteinander vernetzen. Tatsächlich nahm vor Beginn der Lignifizierung die Menge an herauslösbarem Zellwandprotein ab. Und das wiederum durften wir dafür werten, daß mehr dieser Moleküle an ihrem angestammten Ort zurückgehalten wurden – wohl eben infolge von Vernetzungen. Mittels spezifischer Gewebefärbemethoden konnten wir schließlich die Peroxidasen, die auf den Reiz hin aktiv wurden, in de n Zellwänden ausmachen – und zwar genau in den Geweben, die sich zu Kollenchymen differenzieren.

Orchester der Enzyme


Derart tiefgreifende anatomische Veränderungen, wie die in der Ranke, benötigen zwangsläufig auch viel Energie. Wie wir feststellten, äußert sich dies auf biochemischer Ebene, beispielsweise darin, daß genau vor den Enzymarten, die der strukturellen Umgestaltung dienen, andere Biokatalysatoren in der Zellwand besonders aktiv werden, die Ressourcen mobilisieren. Dazu gehören Phosphatasen, die Phosphatgruppen zur Bildung von ATP (Adenosin-triphosphat) freisetzen, dem universellen Energieträger von Zellen. Vor allem aber treten Enzyme in Aktion, die Rohrzucker – er wird über die Leitbahnen aus den Photosynthese treibenden Blättern angeliefert – in Trauben- und Fruchtzucker zerlegen. Zellen können diese beiden kleineren Zuckermoleküle leicht aufnehmen und entweder zur Gewinnung von ATP veratmen, also gewissermaßen verbrennen, oder beispielsweise zum Aufbau wichtiger Gerüststoffe der Zellwand verwenden.

Die bislang erwähnten biochemischen Schritte stehen allerdings erst am Ende eines langen Prozesses der Signalverarbeitung, den wir hier rückwärts aufrollen. Früheste biochemische Veränderungen beobachteten wir schon Sekunden nach Einsetzen des mechanischen Reizes: Die Aktivität eines bestimmten Enzymkomplexes steigt, der die ersten Teilschritte der energieliefernden Atmungskette katalysiert; zudem werden verstärkt Proteine mit Phosphatgruppen bestückt. Mit dieser Maßnahme können Zellen eine Vielzahl von funktionswichtigen Proteinen rasch an- oder abschalten. Dem Pflanzenbiochemiker sagt dies, daß praktisch unmittelbar nach Berührung einer Ranke, sobald ihr mechanosensorischer Apparat ein Ausgangssignal erzeugt hat, dieses bereits mehrgleisig verarbeitet wird – mit tiefgreifenden Konsequenzen für die Zellaktivitäten.

Eine davon betrifft offenbar das osmotische Gleichgewicht der Ranke. Es wird bestimmt durch die Konzentrationsverhältnisse von Wasser und gelösten Ionen beidseits einer zellulären Membran, nicht nur der äußeren; von ihnen hängt auch der Binnendruck einer Zelle ab. Fast sofort nach dem Kontakt mit einer Stütze steigt vorübergehend die Leistung von bestimmten Ionenpumpen an der Membran der "Vakuole", eines mit Zellsaft gefüllten Innenraums in pflanzlichen Zellen. Veränderte Ionenströme ermöglichen es letztlich der noch weichen Ranke, sich schnell, aber bei Bedarf reversibel einzukrümmen und somit probeweise eine kontaktierte Stütze zu umfassen. Man kann sich das so vorstellen: Auf einer Seite der Rankenspitze werden die Zellen "aufgepumpt", auf der anderen Seite wird dagegen Druck "abgelassen", so daß das Ganze sich krümmt.

Wie aber steuert die Ranke derart komplexe Abläufe, und wie arbeitet der eigentliche Wahrnehmungsapparat, der Mechanosensor selbst? Wichtige Teilaspekte ermittelten wir erst in den letzten Jahren genauer – Erkenntnisse mit erheblicher Tragweite, wie wir noch sehen werden. Unsere erste Frage war: Existiert ein innerer, pflanzeneigener Signalstoff, der als Output der Sensoren die Krümmung auslöst, dessen Gabe also ein vollkommener Ersatz für den Kontaktreiz wäre? Nach einigem Suchen im Gewebe wurden wir fündig – mit der Jasmonsäure, einer wasserlöslichen Substanz. Von ihr war zuvor lediglich bekannt, daß sie Alterungs- und Reifeprozesse auslöst, außerdem unspezifisch das Wachstum beispielsweise von Wurzeln hemmt. Für einen ultimativen Test wollten wir aber keine Lösung auftropfen, sondern einen berührungslos anwendbaren Ersatz. Dafür bot sich eine verwandte Verbindung – Methyljasmonat, der Hauptduftstoff des Jasmins – geradezu an. Der Trick mit dem Ersatzstoff funktionierte: Berührungsfreies Begasen mit Methyljasmonat löst an der Zaunrübe eine perfekte Rankenkrümmung samt nachfolgender Spiralisierung aus! Bereits Spuren, die ins Gewebe übertreten, genügen. Für ihren Nachweis haben wir eigens ein hochempfindliches immunologisches Testsystem auf der Basis eines sogenannten monoklonalen Antikörpers entwickelt. Mit ihm lassen sich noch 75 Gramm Methyljasmonat verteilt auf eine Milliarde Liter Wasser quantitativ erfassen – übrigens auch die Jasmonsäure, wenn wir sie zuvor im Gewebe chemisch entsprechend umwandeln. Doch wie das Leben so spielt: Zwar stellten die Ranken der Zaunrübe Jasmonsäure her, doch handelte es sich dabei nicht um den eigentlichen pflanzlichen Signalstoff.

Zu dem echten führte uns der Zufall. Noch während wir mit der Untersuchung dieser Frage beschäftigt waren, traf ich einen jungen Jenaer Mikrobiologen, Friedemann Greulich. Ihm war aufgefallen, daß ein Giftstoff des für manche Pflanzen schädlichen Bakteriums Pseudomonas syringae strukturell grob der Jasmonsäure ähnelt. Er stellte uns die als Coronatin bezeichnete Substanz zur Verfügung. Wir richteten eine Badelösung her und legten jeweils am Träger abgeschnittene Ranken äußerst vorsichtig hinein. Ihr Effekt auf die Ranken war verblüffend: Die Substanz erwies sich als über tausendfach wirksamer als Jasmonsäure und nahezu hundertfach wirksamer als Methyljasmonat. Dieser dramatische Unterschied ließ uns aber sofort zweifeln, daß die Wirkung allein auf der Ähnlichkeit zur Jasmonsäure beruht. Und tatsächlich: Als wir Coronatin chemisch in seine gröberen Komponenten zerlegten und den jasmonähnlichen Teil des Moleküls getrennt untersuchten, erwies er sich als biologisch weitgehend inaktiv.

Trotzdem hatten wir mit der bakteriellen Substanz schließlich doch den Schlüssel zur Identifizierung des eigentlichen pflanzlichen Signalstoffes in der Hand; denn eine genauer Vergleich mit verschiedenen Molekülen zeigte, daß Coronatin in seiner räumlichen Gestalt einer anderen Verbindung glich: der 12-oxo-Phytodiensäure, kurz 12-OPDA. Diese war bereits Anfang der achtziger Jahre als eine Zwischenstufe im Biosyntheseweg der Jasmonsäure erkannt worden – ein Verdienst von Brady Vick und Don C. Zimmerman am US-Department of Agriculture in Fargo (North Dakota). Die Substanz konnten wir inzwischen eindeutig in den Ranken nachweisen – übrigens auch in "massierten" Bohnenpflänzchen; sie kommt allerdings nur in winzigen Spuren vor. Von ihr führt die Signalkette zu Genen, die seit etwa zehn Jahren bekannt sind und nach mehrmaliger Berührung einer Pflanze anspringen. Der Weg dahin ist aber molekular noch zu klären.

Die menschliche Haut reagiert so empfindlich auf Berührungen, weil sie über spezielle Sinnesstrukturen verfügt. Wie sieht das bei der Pflanze aus? Das Rasterelektronenmikroskop enthüllt auf der Rankenoberfläche zelluläre Ausstülpungen (siehe Abbildung links oben), die Haberlandt bereits 1901 lichtmikroskopisch erkannt und als "Fühltüpfel" bezeichnet hatte. Allerdings können Pflanzen auch ohne solche Strukturen mechanische Kontaktreize wahrnehmen; die Ranken mancher Arten besitzen erst gar keine. Fühltüpfel wirken jedoch als extrem gute Reizverstärker: Die von uns untersuchten Ranken der Zaunrübe sind immerhin berührungsempfindlicher als die menschliche Haut! Bereits Pfeffer hat das mit einem Wollfädchen geprüft: Die Ranke reagierte noch auf "Streicheln" mit einem nur 0,00025 Milligramm schweren Fädchen, das auf unserer Haut keine Empfindungen auslöste.

Calcium-System der Fühltüpfel


Im Bereich ihrer Fühltüpfel ist die Zellwand dünner und über die Plasmamembran hinweg mit darunter liegenden Elementen des "Zellskeletts" verbunden. Dieses innere Gerüstsystem aus fädigen Molekülen weist unter den Tüpfeln eine charakteristische Anordnung auf. Nach unserer Vorstellung dient sie dazu, eine leichte Verformung, wie Kontaktreize sie hervorrufen, auf das sogenannte endoplasmatische Reticulum zu übertragen. Dieses weiträumige Zisternensystem speichert ebenfalls Calcium-Ionen. In Analogie zu anderen Sensorsystemen, vor allem auch bei Tieren, wird vermutlich daraufhin Calcium ins Zellplasma entlassen. Dies könnte das direkte Signal für regulatorische Enzyme sein, das Phosphorylierungsmuster von Proteinen und damit deren Funktionszustand zu ändern. Möglicherweise regt Calcium auch die Freisetzung von 12-OPDA an, wahrscheinlich aus den als Plastiden bezeichneten Organellen, die den Signalstoff herstellen. Dies stellt einstweilen noch eine Hypothese dar, der wir zur Zeit nachgehen. Klar ist jedenfalls, daß Calcium eine herausragende Rolle als unmittelbarer Signalüberträger spielt: Unterbinden wir mit geeigneten Hemmstoffen seine Transportwege, so reagiert die Ranke nicht mehr auf einen mechanischen Reiz, wohl aber noch auf 12-OPDA.

Unter Einsatz von Radio-Isotopen und hochempfindlichen elektrophysiologischen Verfahren haben meine Mitarbeiter Birgit Klüsener und Harald Liß bereits zwei beteiligte Proteine in der Membran der Calcium-Speicher identifiziert und eingehend untersucht. Das eine pumpt Calcium-Ionen gegen deren Konzentrationsgefälle in die Speicher zurück; das andere wirkt als Kanal mit Schleusentoren, die sich unter bestimmten Bedingungen öffnen und Calcium-Ionen sozusagen bergab ausströmen lassen. Eine Premiere: Bis dahin hatte noch niemand einen pflanzlichen Ionenkanal im endosplasmatischen Reticulum entdeckt.

Interessanterweise werden beide Proteine ihrerseits durch Calcium reguliert (siehe Abbildung links unten). Offensichtlich bilden Kanal und Pumpe einen "autonomen Calcium-Oszillator", angetrieben letztlich durch die Energie von ATP, denn ohne dieses energieliefernde Molekül ist die Pumpe nicht in Betrieb zu nehmen.

Ein derartiger Oszillationsmechanismus, bei Pflanzen bislang unbekannt, könnte durch seine rhythmische Aktivität eine Frequenzcodierung ermöglichen. Ein Reiz würde zum Beispiel einen Effekt auslösen, wenn die Oszillation eine bestimmte Frequenz aufweist, sonst nicht. Dann müßte allerdings auch ein Mechanismus existieren, mit dem die Frequenz moduliert werden kann.

Dies wäre eine für Pflanzen ganz neue Dimension von Sinnesleistungen. Wozu könnte sie dienen? Wie erwähnt unterscheiden Ranken von Kürbisgewächsen eine rauhe von einer glatten Oberfläche und reagieren auch nicht auf bloßen Druck. Ansonsten würde ja jeder auftreffende Regentropfen unerwünschte Reaktionen auslösen. Ein Lebewesen kann ein räumlich-zeitliches Muster aber nur dann wahrnehmen, wenn es die Reize zumindest entweder räumlich oder aber zeitlich aufzulösen vermag. Die flächige Anordnung der Fühltüpfel und ein innerer Oszillationsmechanismus würden sogar beides gleichzeitig erlauben.

Doch blieb noch unklar, auf welche Weise ein lokaler mechanischer Reiz, der für gewöhnlich an der Spitze der Ranke einwirkt, schließlich dem gesamten Organ mitgeteilt wird. Denn schon ein bis zwei Stunden nach dem Erstkontakt setzt auf praktisch voller Länge das ungleiche Wachstum der Flanken ein, das die Ranke in eine Art Schraubenfeder verwandelt. Erneut erlebten wir eine Überraschung. Zusammen mit dem Göttinger Botaniker Jörg Fromm setzte Birgit Klüsener Mikroelektroden in die Mitte und in die Basis junger Ranken ein. Reizten sie dann die Spitze, so pflanzten sich elektrische Potentialwellen – ähnlich denen in Nervenzellen, jedoch viel langsamer – bis an die Basis fort. Dies könnte der lange gesuchte Übertragungsmechanismus sein.

Die hier beschriebenen Mechanismen sind keineswegs Spezialleistungen besonders angepaßter Pflanzenarten. Alles deutet darauf hin, daß andere Arten ganz ähnlich auf verschiedene mechanische Einflüsse ansprechen. Bereits vor einigen Jahren wies beispielsweise Janet Braam von der Rice-Universität in Houston (Texas) nach, daß sich bei der Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) – einem Modellobjekt der pflanzlichen Molekularbiologie – nach Berührung das Muster der Genaktivitäten drastisch ändert. Die anspringenden Gene codieren interessanterweise zum einen Calcium-bindende Proteine wie Calmodulin, zum anderen Enzyme, die Moleküle der Zellwand vernetzen könnten. Dies fügt sich gut in das Mosaik unserer Erkenntnisse.

Wenig später gelang es dem Arbeitskreis von Anthony Trewavas an der Universität Edinburgh (Schottland), Tabakpflanzen mit einem bestimmten Gen der Meeresqualle Aequorea victoria auszustatten. Das Protein Aequorin, das die Pflanzenzellen dann erzeugen, wird – nach Umwandlung – zu einem Indikator für Calcium-Ionen. In deren Gegenwart emittiert es Licht, das sich mit sensitiven Photodetektoren erfassen läßt. Berührten die Forscher solche Pflanzen oder setzten sie einem Windzug aus, traten jeweils kurze Lichtblitze auf – Zeichen dafür, daß sich der Calcium-Spiegel in den mechanisch gereizten Zellen kurzfristig, aber drastisch erhöht hatte.

Neue Perspektiven für einen biologischen Pflanzenschutz


Auch wenn sich Wurzeln im Schwerefeld der Erde ausrichten, verändert sich ihr Calcium-Haushalt in bestimmter Weise. Im Bereich pflanzlicher Mechanosensitivität kristallisieren sich also immer deutlicher gemeinsame molekulare Grundlagen heraus.

Was vielleicht noch mehr verblüfft, sind die zahlreichen Parallelen zu pflanzlichen Abwehrreaktionen gegenüber Fraßfeinden und Krankheitserregern (siehe Diagramm auf Seite 65). Bereits kurz vor unserer Entdeckung der Jasmonsäure in Ranken wiesen Clarence Ryan von der Washington State University, in Pullman und sein Mitarbeiter Edward Farmer nach, daß die Substanz aus verwundetem Pflanzengewebe freigesetzt wird und als Signalüberträger fungiert. Etwa um die gleiche Zeit entdeckte die Arbeitsgruppe um Meinhart Zenk an der Universität München, daß Moleküle, die bei Pflanzen Abwehrmaßnahmen gegen Krankheitserreger auslösen, kultivierte pflanzliche Zellen veranlassen, erhebliche Mengen an Jasmonsäure abzugeben. Daraufhin bilden die Zellen eine Vielzahl niedermolekularer Schutzstoffe, beispielsweise toxische Alkaloide oder Phenole. Letztere entstehen bezeichnenderweise auch im Zuge der späten Reaktionen von Pflanzen auf mechanische Beanspruchung. Und wie dort werden Zellwände stärker vernetzt und durch Lignin verfestigt – als Barriere gegen das Vordringen von Krankheitserregern. Damit enden die Parallelen aber noch immer nicht. Wenn pflanzliche Abwehrprozesse in Gang kommen, sind beispielsweise unter anderem wieder Calcium-Ionen sowie Enzyme im Spiel, die andere Proteine mit Phosphatgruppen ausstatten und so deren Einsatzfähigkeit steuern.

Aus den zahlreichen molekularen Bezügen zur Mechanosensorik dürfen wir wohl ableiten, daß sich pflanzliche Abwehrstrategien gegen Fraßfeinde und Krankheitserreger aus dem fundamentalen mechanosensorischen System heraus entwickelt haben, das der Wachstumskontrolle dient. Eine genauere Analyse wird wahrscheinlich ergeben, daß Pflanzen an natürlichen Standorten, wo sie stärker mechanisch beansprucht sind, weniger leicht von Krankheitserregern und Insekten befallen werden als gleiche Pflanzen an geschützten Stand-orten, etwa in Gewächshaus- oder Zimmerkultur. Jedenfalls eröffnen diese vergleichenden Betrachtungen bereits neue Perspektiven für einen biologischen Pflanzenschutz.

Ein Vorschlag beispielsweise lautet, Pflanzen im Gewächshaus künstlich zu "bewinden", damit sie kompakter wachsen und resistenter werden. In einem Freilandversuch hat Jennifer Realer von der Universität von Kalifornien in Davis Tomatenpflanzen mit Methyljasmonat besprüht, an denen Raupen nagten. Wie sie im vergangenen Jahr berichtete, bildeten die Pflanzen daraufhin auch verstärkt flüchtige Stoffe, die parasitische Schlupfwespen anlocken und zwar doppelt so viele wie sonst. Diese Insekten legen ihre Eier in die Raupen ab. Die ausschlüpfenden Maden ernähren sich vom Gewebe der Raupen und schädigen sie. Solche Dreierbeziehungen nennt man tritrophe Interaktionen. Wir verstehen jetzt, warum diese Dinge zusammenhängen.

Literaturhinweise


The Pseudomonas Phytotoxin Coronatine Mimics Octadecanoid Signalling Molecules of Higher Plants. Von Elmar W. Weiler et al in: FEBS Letters, Bd. 345, S. 9–13 (1994).

Gadolinium-sensitive, Voltage dependent Calcium Release Channels in the Endoplasmatic Reticulum of a Higher Plant Mechanoreceptor Organ. Von Birgit Klüsener et al in: EMBO Journal, Bd. 14, Heft 12, S. 2708–2714 (1995).

Phytochemical Signals and Plant-Microbe Interactions. Von J.T. Romeo et al. (Hg.), Plenum Press, New York 1998.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2000, Seite 60
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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