Wie stabil ist der Hängegletscher am Eiger?
Steigende Durchschnittstemperaturen und vermehrte Niederschläge aufgrund eines verstärkten Treibhauseffektes könnten bei steilen Gletschern gefährliche Eisabbrüche verursachen. Der Hängegletscher am Eiger wurde deshalb vermessen und auf dem Computer modelliert.
Daß gewaltige Eismassen von steilen, vergletscherten Bergflanken in den Alpen abbrechen kommt zwar nur selten vor, doch die Folgen können verheerend sein. So lösten sich im Spätsommer 1895 fünf Millionen Kubikmeter Eis vom Gipfel des Altels im Berner Oberland und begruben eine bewirtete Alm unter sich. Dabei kamen sechs Menschen ums Leben, und 158 Stück Großvieh wurden erschlagen. Beim 1500 Meter tiefen Sturz erzeugten die Gletschermassen eine Druckwelle, die Bäume knickte und sogar Kühe über Hunderte von Metern durch die Luft schleuderte.
Auch in jüngster Zeit gab es ähnliche Ereignisse. An der 55 Grad steilen Nordwand der Ebenen Fluh in den Berner Alpen riß im Jahre 1985 ein tropfenförmiger Hängegletscher ab und stürzte als Ganzes zu Tal. Vier Jahre später wurde ein großer Teil des harmlos scheinenden Glacier Supérieur de Coolidge am italienischen Monte Viso nach starken Regenfällen abgetrennt und verschüttete ein beliebtes Ausflugsziel; glücklicherweise geschah dies nachts, so daß niemand zu Schaden kam.
Zwar sind die wichtigsten Faktoren für die Disposition zu Eisstürzen prinzipiell bekannt; außer dem Gefälle spielen die Mächtigkeit des Gletschers, die Topographie seines Bettes und die Temperatur an seiner Basis eine wichtige Rolle. Dennoch läßt sich wegen des komplexen Wechselspiels dieser Einflußgrößen die Stabilität steiler Gletscher nur schwer beurteilen. Direkte Messungen auf dem Eis sind wegen der exponierten Lage nur in Ausnahmefällen möglich; auch Erfahrungswerte aus Beobachtungen fehlen weitgehend.
Messungen und Modellrechnungen
Vergrößert sich die Gefahr von Eisstürzen infolge lokaler Klimaänderungen, die im Zusammenhang mit der befürchteten globalen Erwärmung auftreten könnten? Dieser Frage galt ein Forschungsprojekt der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der Eidgenössischen-Technischen Hochschule Zürich; das Vorhaben war Teil des nationalen Forschungsprogramms "Klimaänderungen und Naturkatastrophen" des Schweizerischen Nationalfonds. Als Fallbeispiel diente ein typischer Hängegletscher in der Westflanke des Eigers im Berner Oberland, der sich in 3200 bis 3500 Metern Höhe über dem Meeresspiegel befindet (Bild 1).
Von uns kurz als Eigergletscher bezeichnet, liegt er gänzlich im Nährgebiet, in dem sich Schneeflocken zu Firnkörnern und diese zu Eis verdichten. Die steile Oberfläche von etwa 30 Grad erzeugt große Spannungsunterschiede im Eis und damit ein schnelles Fließen von den hinteren Partien zu einer Felskante, an der sich eine markante Abbruchfront ausgebildet hat. Ein wesentlicher Teil des Projektes galt deshalb auch der Sicherheit der Jungfraubahn bei einem – nach bisherigen Erfahrungen maximalen – Absturz von rund einer Million Kubikmeter Eis. Untersuchungen in Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung ergaben jedoch, daß die Anlagen der Bahn außerhalb des Gefahrenbereichs liegen. Skilifte und Bergwege könnten dagegen von größeren Eisabbrüchen beeinträchtigt werden.
In einer mehrtägigen Feldkampagne bestimmten wir im Frühjahr 1993 die für die Stabilität eines Hängegletschers maßgeblichen Parameter. Mit einem Eisradar, das die Laufzeit von am Gletscherbett reflektierten elektromagnetischen Pulsen mißt, wurde die Mächtigkeit entlang mehrerer Längs- und Querprofile untersucht. Außerdem schmolzen wir mit einem heißen Wasserstrahl sieben Löcher durch das bis zu 70 Meter tiefe Eis und ermittelten mit Thermistoren, die wir darin installierten, die Temperaturverteilung im Gletscher. Indem wir 15 Stangen als Referenzpunkte ins Eis bohrten und sie mehrmals im Abstand von drei Wochen mit einem Theodoliten vermaßen, konnten wir zugleich die Fließgeschwindigkeit an der Oberfläche bestimmen. Es war die erste derart eingehende Untersuchung auf einem Hängegletscher; wegen der exponierten Lage setzte sie allerdings beste Schnee- und Wetterverhältnisse voraus.
Die Meßergebnisse bildeten die Grundlage für Modellrechnungen mit der Methode der finiten Elemente (Spektrum der Wissenschaft, März 1997, Seite 90); dabei wurden Fließlinien des Eises sowie die Temperatur- und Spannungsverteilung im Hängegletscher ermittelt (Bild 2). Aus der Simulation ergab sich unter anderem, daß das Eis an der Gletscherfront in 25 Metern Tiefe lediglich 15 Jahre alt ist und sein Alter am Gletscherbett auch nur einige hundert Jahre beträgt. Demnach erneuert sich die gesamte Eismasse ungewöhnlich schnell – was für die außerordentliche Dynamik von Hängegletschern spricht und nahelegt, daß sie rasch auf veränderte Umweltbedingungen reagieren können.
Die von uns in den drei Bohrlöchern gemessenen Eistemperaturen liegen ausnahmslos über der mittleren jährlichen Lufttemperatur von etwa minus sechs Grad Celsius. Der Grund dafür ist, daß beim Gefrieren von eingedrungenem Regen- und Schmelzwasser Wärme frei wird – desgleichen durch die Deformation des Eises beim Fließen. In einem großen Teil des Gletschers herrschen darum Temperaturen in der Nähe des Schmelzpunktes.
Der kälteste Bereich befindet sich am Gletscherbett dicht bei der Abbruchfront. Dies mag auf den ersten Blick erstaunen, läßt sich aber dadurch erklären, daß das Eis von der Front her abkühlt; denn die schattige Lage dort sorgt für besonders niedrige Temperaturen, und der steile, oft schneefreie Fels leitet die Kälte an die Gletscherbasis weiter. Dadurch ist das Eis im Bereich der Abbruchfront an den Untergrund angefroren, was wesentlich zur Stabilität des Gletschers beiträgt.
Die modellierte Spannungsverteilung zeigt Bereiche starken Zugs an der Oberfläche, an denen sich bevorzugt Risse bilden. Tatsächlich ist auf Luftbildern an diesen Stellen der Bergschrund zu sehen, und 50 Meter hinter der Abbruchkante befindet sich eine große Spalte.
Das Eis im angefrorenen Bereich nimmt derzeit Scherspannungen bis zu zwei bar auf – eine Belastung nahe der Bruchfestigkeit. Geriete der Eigergletscher in den hinteren Regionen ins Gleiten, nähme die Spannung an der Abbruchkante weiter zu. Ob die Eismasse dadurch instabil würde, hängt allerdings auch davon ab, wie stark sie an den seitlichen Rändern gestützt wird; dies ist bisher nicht bekannt.
Folgen eines verstärkten Treibhauseffekts
Trotz dieser Ungewißheiten versuchten wir abzuschätzen, wie sich eine zu erwartende Temperaturerhöhung auf den Eigergletscher auswirken würde. Dabei orientierten wir uns an zwei alternativen Klimaszenarien, die das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPGC) im Auftrag des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) entwickelt und 1990 publiziert hat; nach dem einen würde sich die globale Mitteltemperatur bis ins Jahr 2100 um zwei, nach dem anderen um vier Grad erhöhen. Wie unsere Modellierungen ergaben, ginge die angefrorene Fläche dadurch um 28 beziehungsweise 45 Prozent zurück. Damit wäre die Stabilität des Hängegletschers sehr wahrscheinlich gefährdet.
Zudem könnte bei einer Erwärmung mehr Regen- und Schmelzwasser anfallen. Dieses würde durch Spalten bis an das Gletscherbett vordringen und sich hinter den angefrorenen vorderen Partien aufstauen. Der Wasserdruck dürfte das Eis gleiten lassen, wodurch wiederum die Scherspannungen an der Front zunähmen. Könnte die Fließbewegung des Gletschers diese Belastung nicht schnell genug durch kleinere Abbrüche ausgleichen, würden vermutlich große Eismassen abrutschen, wie dies beim Glacier Supérieur de Coolidge geschehen ist.
Angesichts solcher Gefahren wird der Eigergletscher im Rahmen eines langfristigen Beobachtungsprogramms mit einer automatischen Kamera, jährlichen Luftaufnahmen und gelegentlichen Erkundungsflügen überwacht. Sofern sich ein größerer Eissturz abzeichnet, sind in Intervallen von einigen Tagen Bewegungsmessungen vorgesehen. Anhand der so ermittelten Beschleunigungskurve sollte sich das Ereignis dann auf plus/minus einen Tag genau vorhersagen lassen, so daß es möglich ist, rechtzeitig Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1997, Seite 21
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben