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Wie wir das Leben nutzbar machten. Ursprung und Entwicklung der Biotechnologie

Aus dem Englischen
von Heike Mönkemann.
Vieweg, Wiesbaden 1995.
396 Seiten, DM 68,-.

Das Vorwort zur englischen Originalausgabe dieses Buches ("Uses of Life. A History of Biotechnology") benennt seinen wichtigsten Vorzug: Es zeichnet die schon Jahrtausende währende Geschichte der Biotechnologie in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität, in der Kontinuität ebenso wie in ihren Brüchen und Umwälzungen nach. Ausführlich schildert Robert Bud, Kurator am Science Museum in London, die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und besonders der letzten 50 Jahre. Aus heutiger Sicht haben sich in dieser Zeit die entscheidenden Umwälzungen zu einer der dynamischsten Technologien abgespielt. Buds Intention zielt auf die Darstellung von "Theorie, Praxis und öffentliche[r] Meinung"; daß er die jüngeren Kontroversen um Chancen und Risiken kritisch einbezieht, zählt zu den Vorzügen des Buches.

Überraschend belegt Bud den Ursprung des Wortes Biotechnologie um das Jahr 1920. Allerdings meinte der ungarische Schweinezucht-Industrielle Karl Ereky, der das Wort prägte, damit nicht eine technisch-wissenschaftliche Basis, wie schon 1913 S. Orla-Jensen, Professor für Biotechnologische Chemie in Dänemark, sie anstrebte.

Die bedeutenden und erfolgreichen Entwicklungen zur Herstellung von Glycerin und Hefe in Deutschland sowie von Aceton in England standen in engem Zusammenhang mit der Kriegsproduktion, besonders mit den Anstrengungen zur Gewinnung von synthetischem Kautschuk. Der russische Emigrant Chaim Weizmann (1874 bis 1952), später der erste Staatspräsident Israels, entwickelte ein Verfahren zur Herstellung von Aceton, das den Briten als Lösungsmittel bei der Sprengstoffherstellung diente; Winston Churchill (1874 bis 1965), damals Erster Lord der Admiralität, genehmigte 1915 den Bau einer entsprechenden Fabrik. Gegenüber der Darstellung der militärischen Ereignisse bleiben jedoch die wissenschaftlich-technischen Probleme und Fortschritte im Hintergrund.

Der Aufschwung der industriellen Fermentation in den zwanziger und dreißiger Jahren mit Bakterien und Hefen ist belegt an Produkten wie Alkohol, Milchsäure und Citronensäure. Einiges, so die Darstellungen zu Analogien zwischen Lebewesen und Techniken, erscheint eher als Abschweifung. Bedeutende Daten dagegen finden sich im nachfolgenden Kapitel 4: Das Massachusetts Institute of Technology in Cambridge und die Universität von Kalifornien in Los Angeles richteten Abteilungen für biologische Technik (1939) und biological engineering (1947) ein, die American Society of Mechanical Engineering gründete 1960 eine Arbeitsgruppe "Biotechnologie".

Der Durchbruch zur modernen Biotechnologie fand nach Bud in den vierziger bis sechziger Jahren statt. Die bedeutendsten Verfahren zur Penicillin-, Vitamin- und Aminosäuresynthese wurden entwickelt; Zeitschriften und eine akademische Ausbildung etablierten sich. Nach Mißerfolgen in England, später in der Tschechoslowakei und in Deutschland gelang es Anfang der vierziger Jahre – wiederum im Rahmen der Kriegswirtschaft – in den USA, Penicillin in großtechnischem Maßstab herzustellen. Zum einen hatten die beteiligten Mikrobiologen einen neuen hochproduktiven Stamm eines Schimmelpilzes entdeckt, zum anderen war es den Ingenieuren gelungen, sterile Bio-Reaktoren (Fermenter) für mehrere tausend Liter Inhalt zu konstruieren. Der Wert der Produktion erhöhte sich zwischen 1947 und 1955 trotz sinkender Preise von 100 Millionen auf 268 Millionen Dollar.

Hier wie an anderen Stellen verweist der Autor auf Literarisches: Graham Greene nutzte die Spannungen und Konflikte des Schwarzmarkts mit Penicillin als Hintergrund seines Romans "The Third Man". Trotz der Sprünge in der Kontinuität von Zeit und Themen läßt Bud damit das Faszinierende dieser Entwicklung lebendig werden.

Eine neue Klasse von Biokatalysatoren, die an Träger gebundenen Enzyme, machte zahlreiche weitere Umwandlungen nutzbar. Die in den fünfziger Jahren erarbeiteten theoretischen Grundlagen sind nicht nachgezeichnet, die ökonomischen Bedingungen sehr wohl: Dank hoher Zuckerpreise in den USA war es profitabel, unter hohem Aufwand eine Technik einzuführen, mit der man aus Mais mittels immobilisierter Glucoseisomerase preisgünstigen Glucose-Fructose-Sirup herstellt; er ersetzt etwa 40 Prozent des Rohrzuckers in den USA. Ein zweiter Erfolg war die Gewinnung halbsynthetischer Antibiotika mit erweitertem Wirkungsspektrum aus Penicillin mittels immobilisierter Penicillinamidase.

Ebenfalls in diese Zeit fiel die Gründung bedeutender Zeitschriften und akademischer Schulen. Elmer Gaden, Ingenieur beim Pharmahersteller Pfizer und als "Vater der amerikanischen Biotechnologie" gefeiert, gründete 1958 die Zeitschrift mit dem heutigen Namen "Biotechnology and Bioengineering"; sie formulierte den entscheidenden Anspruch des Fachs: die Integration der biologischen, überwiegend mikrobiologischen Arbeiten mit allen erforderlichen technischen Prozeßschritten, von Steriltechnik und Reinigungsoperationen bis hin zum Konzept des Bioreaktors.

Bei aller Aufbruchstimmung in den sechziger Jahren gab es auch Mißerfolge: Die kontinuierliche Fermentation konnte sich nicht durchsetzen, obwohl Universitäten und staatliche Forschungslaboratorien in England und der Tschechoslowakei sie in großem Stil erforschten und die britische Brauereiindustrie – auch Guinness – sie mit großem Aufwand einführte. Probleme der Sterilität, der Stabilität von Hochleistungsstämmen der eingesetzten Mikroorganismen und insbesondere des Geschmacks des Biers ließen sich nicht lösen.

Die zahlreichen fachlichen, industriellen und wirtschaftlichen Wechselwirkungen dieser dynamischen Periode schlagen sich im Text nieder. Hier hätten Vereinfachung und klare historische Linien die Lektüre erleichtert; sie bereitet aber dennoch großes Vergnügen.

In den siebziger Jahre erfuhr die Biotechnologie einen politisch motivierten Aufschwung. Schlagworte kennzeichnen diesen Trend: Grenzen des Wachstums, Ölkrise und Umweltschutz. Das japanische Handelsministerium MITI erklärte 1971 die Fachrichtung für strategisch bedeutsam, was sich unter anderem in der Gründung eines Instituts für life sciences der Mitsubishi Chemical Company äußerte. Unmittelbar darauf gab dann Deutschland laut Bud "die wissenschaftliche und politische Dimension" vor. Das damalige Bundesministerium für Forschung und Technologie formulierte in einer Studie 1970 ein Programm, das ab 1972 realisiert wurde. Im gleichen Jahr gab das Ministerium bei der Deutschen Gesellschaft für chemisches Apparatewesen (DECHEMA) eine programmatische Studie in Auftrag, deren Wirkung Bud sehr hoch einschätzt.

Nicht ganz deutlich wird der (in der Fachliteratur wohldokumentierte) Hintergrund, vor dem die Politik nach neuen Wachstumsmöglichkeiten und systematischen Förderstrategien suchte. Sie delegierte ihre Formulierung weitgehend an Industrie und Wissenschaft. Deren enges Zusammenspiel ermöglichte erst die umfangreiche und zugleich konkrete Planung von Forschung und Entwicklung. Die ungewöhnlich schnell gesteigerte staatliche Förderung, Ausrichtung und Ausbau der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung als Großforschungseinrichtung und die Gründung der European Federation of Biotechnology 1977 markieren, ebenso wie das rasante Wachstum der akademischen Forschung, die Dynamik dieser Periode.

In Großbritannien dominierte hingegen die molekularbiologische Grundlagenforschung. Nur einzelne hervorragende Gruppen mit biotechnologischer Arbeitsrichtung wie die von Malcolm Lilly am University College in London gewannen internationale Anerkennung.

Noch 1983 wurde in einem Dokument der Europäischen Kommission, das eine "Community Strategy for European Biotechnology" formulierte, die Gentechnik kaum erwähnt – im Gegensatz zu den Tendenzen in den USA. Herbert Boyer und Stanley Cohen nutzten 1973 die zuvor von Werner Arber und anderen entdeckten Restriktionsenzyme für Klonierungsexperimente, die eine gezielte Übertragung einzelner genetischer Informationen zwischen Organismen ermöglichten (Spektrum der Wissenschaft, April 1980, Seite 64), und lösten damit eine Goldgräberstimmung aus. In den achtziger Jahren schossen Spekulationen über neue Heilmethoden und Produktionsverfahren ins Kraut. "DNS wird zu Gold", "die nächste industrielle Revolution" – so lauteten Schlagworte. Auch die Politik in den USA setzte auf hohen wirtschaftlichen Gewinn: Die National Institutes of Health (NIH) erhielten, so Bud, "gewaltige finanzielle Unterstützung", und das amerikanische Repräsentantenhaus erwartete strategische Vorteile für die heimische Industrie.

Bud stellt dieser Euphorie ausführlich die andere Seite gegenüber, die Sorge vieler Wissenschaftler über Gefahren durch genetisch veränderte Mikroorganismen, die Opposition der Öffentlichkeit und ein ungewöhnliches Folgeereignis: Auf der Konferenz von Asilomar (Kalifornien) im Februar 1975 wurden Chancen und Risiken der neuen Gentechnik öffentlich kontrovers diskutiert. Erstmals in der Wissenschaftsgeschichte gab es daraufhin in den USA eine Unterbrechung der Forschungsarbeiten – für 16 Monate, bis die NIH Richtlinien erarbeitet hatten, die den Befürchtungen und Besorgnissen Rechnung trugen.

In der Folge gelang die Gewinnung von Human-lnsulin und anderen neuen Produkten; Firmen wurden gegründet, deren spektakuläres Wachstum Spekulationen an der Wall Street beflügelte. Richtungsweisend war ein Bericht des Ausschusses für Technologiefolgenabschätzung (OTA) des US-Kongresses 1981, der das Marktpotential der Gentechnik auslotete: In Pharmazie, Lebensmittelherstellung, Landwirtschaft und Umwelttechnik stellte er glänzende Erfolge in Aussicht, während er den Risiken keine entscheidend hemmende Wirkung mehr zuschrieb.

Bud verfällt hier keineswegs der Euphorie, sondern zeigt nüchtern das Gewicht der wirtschaftlichen Faktoren auf. Gleichzeitig relativiert er die ökonomische Bedeutung der Biotechnologie: Selbst vier Milliarden Dollar Jahresumsatz 1991 mit gentechnisch hergestellten Produkten sind nur ein bescheidener Anteil am gesamten Pharma-Markt. Die Aussichten scheinen nach wie vor rosig zu sein; aber am Ende des Buches merkt Bud eher nachdenklich an, es sei "zu früh, die Ergebnisse der Debatten aus den achtziger Jahren zu protokollieren".

Die Qualität der Übersetzung schmälert das Vergnügen am Lesen. Vieles ist nicht adäquat formuliert, manches nur schwer nachvollziehbar. Besonders der Titel ist im Original treffender. Die Stärke des Buches liegt in der Fülle des Materials, der Recherche und der Details; darüber verschwimmen die Konturen und die großen Entwicklungslinien. Die Zusammenhänge erschließen sich deshalb nicht leicht, zumal der Autor zwischen Zeiten, Orten und Personen mit der Spontaneität eines faszinierten Historikers springt; die Spannung aber vermittelt er direkt und eindrucksvoll.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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