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Wir kurieren uns zu Tode. Die Zukunft der modernen Medizin


Glaubt man den Zahlen des Statistischen Bundesamtes, so sind die Deutschen ein Volk von Kranken: Jeder zehnte ist heute amtlich schwerbehindert, jeder fünfte psychisch krank und jeder dritte Opfer einer Allergie. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt liegen mehr als eine halbe Million Deutsche im Krankenhaus. Jeweils mehr als zehn Millionen haben einen überhöhten Blutdruck, werden von Rheuma geplagt oder klagen über Rückenschmerzen. Fünf Millionen leiden an Gallensteinen, vier Millionen haben Leberschäden, drei Millionen eine chronische Bronchitis, und mehr als eine Million sind von Krebs betroffen. Selbst die Kinder sind anscheinend alles andere als gesund: Alleine an Asthma leiden zehn Prozent derjenigen unter 14 Jahren.

Die Zahlenbeispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Und auch die Medien bestätigen Tag für Tag: Von AIDS bis Zahnweh gibt es anscheinend kaum eine Krankheit, für die nicht hohe Zuwachsraten zu melden sind. Gleichzeitig versickern im Gesundheitssystem immer höhere Anteile des Bruttosozialprodukts. Je nach Schätzung 300 bis 400 Milliarden Mark haben die Deutschen für ihr Gesundheitswesen im vergangenen Jahr aufgewendet, gegenüber 1970 eine Steigerung um mehr als das Fünffache. Offensichtlich sind sie nicht im gleichen Maße gesünder geworden.

Was sind die Ursachen dieser beängstigenden Diskrepanz? Ist die Medizin immer noch nicht ausreichend entwickelt? Fehlt es an noch besseren Operationsverfahren, Medikamenten oder schlicht an Personal? Oder ist es vielleicht genau umgekehrt? Haben wir eventuell schon zu viel des Guten und können damit nur nicht richtig umgehen? Ist das Übel in der Logik des deutschen Gesundheitssystems selbst begründet? Fragen von erheblicher politischer und volkswirtschaftlicher Bedeutung, die uns als Beitragszahler wie als potentielle Patienten sehr berühren.

Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Dortmund, kennt wie kaum ein anderer die zahlreichen Facetten des medizinisch-technischen Komplexes und ist mit der für sein Fach charakteristischen mathematisch-analytischen Denkweise prädestiniert, dem Problem wirklich auf den Grund zu gehen. Die Analyse ist so fundiert wie der Titel provokant. Da Krämer Fachkenntnis mit Witz und einer flotten Schreibweise zu kombinieren versteht, ist es nachgerade ein Genuß, das in fünf Kapitel gegliederte Buch zu lesen.

Der Autor weist nach, daß Anbieter und Nachfrager von Gesundheitsdienstleistungen ein handfestes materielles Interesse daran haben, den Krankheitsbegriff immer weiter auszudehnen, und dabei durch eine wohlmeinende, aber zielwidrige Sozialgesetzgebung noch unterstützt werden. Mit beißender Schärfe und plastischen Beispielrechnungen zeigt er das Grunddilemma des modernen Medizinbetriebs auf: Medizinischer Fortschritt, der dem einzelnen Kranken nützt, besonders wenn er ihn vor dem Tode bewahrt (also die individuelle Gesundheit fördert), hat zwangsläufig zur Folge, daß die Gesellschaft als Ganzes immer kränker wird und der finanzielle Aufwand für die Gesundheit überproportional ansteigt, weil die kollektive Gesundheit mit steigender Lebenserwartung abnimmt. Nicht trotz der modernen Medizin wird die Gesundheit der Bevölkerung im statistischen Durchschnitt immer schlechter, sondern weil die oft gescholtene Apparatemedizin so erfolgreich ist: eine Fortschrittsfalle, in der wir gefangen sind und die durch bloßes Lamentieren nicht beseitigt wird.

In einem weiteren Kapitel diskutiert Krämer das Problem der immer weiter klaffenden Schere zwischen dem medizinisch Möglichen und dem volkswirtschaftlich Zumutbaren oder Sinnvollen. Daß er den damit zusammenhängenden ethischen Fragen nicht ausweicht, sondern Möglichkeiten aufzeigt, wie künftig mit dem Dilemma umgegangen werden könnte, macht dieses Kapitel zu einem Kernstück des Buches.

Die wirklich bittere Erkenntnis ist, daß nicht ein Zuwenig, sondern ein Übermaß der guten Dinge das Hauptproblem des modernen Gesundheitswesens ist. Und das ist keine deutsche Spezialität. Besonderheiten unseres Sozialversicherungssystems, seine häufig zielwidrige Organisation und kontraproduktive Struktur, können zwar einen Teil des Dilemmas erklären, sind aber nicht die eigentlichen Ursachen der Misere. Kunstfehler, Kassenbetrug, Krankfeiern und Korruption sind deshalb eher Randsymptome, die von der Diagnose der eigentlichen Krankheit ablenken.

Fazit: "Wir kurieren uns zu Tode" von Walter Krämer ist eines der wenigen Bücher, die ich jedermann zu lesen empfehle. Es besticht durch überzeugende Logik und zeigt mit unerbittlicher Schärfe die Schwachstellen eines Systems auf, das uns in den letzten Jahren lieb und vor allen Dingen teuer geworden ist. Auch wenn der Autor keine konkreten Vorschläge für eine grundlegende Lösung anbietet, bleibt es sein Verdienst, aufgezeigt zu haben, daß die moderne Medizin in vielen Aspekten der Büchse der Pandora gleicht, die – einmal geöffnet – nie wieder verschlossen werden kann.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1994, Seite 138
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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