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Allgemeinwissen: Wissenschaft im Internet: Das anarchische Lexikon

Das Wissen der Welt in einem riesenhaften Gemeinschaftsprojekt zu sammeln: Dieses Ideal verfolgt die "Wikipedia" erstaunlich erfolgreich - mit den unvermeidlichen Einschränkungen.


Auf den ersten Blick scheint http://de.wikipedia.org/ ein Ort der organisierten Unverantwortlichkeit zu sein. Die Texte sehen zwar aus wie Lexikonartikel; aber jeder Nutzer kann sie nach Belieben verändern, umschreiben oder verunstalten. Allgemein heißt ein offenes Projekt dieser Art ein "Wiki" (polynesisch für "schnell"). Kein Beteiligter muss auch nur seinen Namen nennen, und niemand kann ein Recht an dem Ergebnis für sich beanspruchen. Wie soll aus dieser riesengroßen, anonymen Graffiti-Wand eine Enzyklopädie werden?

Der erstaunliche Befund: Es wird. "Wikipedia, the free encyclopedia", ist seit Januar 2001 online und enthält bereits jetzt mehr als 160000 (englischsprachige) Artikel. Täglich kommen ungefähr 2000 Änderungen oder Neueinträge dazu. Eine fünfstellige Zahl von Freiwilligen ("Wikipedians") häuft mehr oder weniger regelmäßig Wissenshäppchen an, dazu eine unbekannte Zahl von Gelegenheitsautoren. Mittlerweile ist die "Wikipedia" im Netz so bekannt und geschätzt, dass ihre Artikel bei der Suchmaschine "Google" häufig auf den vorderen Plätzen landen.

Stellen wir ihr dieselben Fragen wie der "Encyclopædia Britannica" (vergleiche meine Rezension in Spektrum der Wissenschaft 7/2003, S. 95) – schließlich soll das Online-Gesamtopus irgendwann diesem Standardwerk vergleichbar sein.

Schreibe für deine Feinde

Über Joschka Fischer wird man zutreffend und vor allem aktuell bis in die jüngste Vergangenheit informiert. Zu der Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling gibt es über den zweiten Vornamen hinaus eine Fülle von Informationen und einiges an Klatsch und Tratsch. Kann man dem trauen? Wahrscheinlich ja. Denn das Schreiben und Ergänzen von Artikeln findet unter den Augen der "Öffentlichkeit" statt. Jede Änderung löst eine Meldung unter "Recent changes" aus, und offensichtlich gibt es genügend Wikipedians, die regelmäßig diese Meldungen durchsehen. Sie sind es, die anstelle irgendwelcher Autoritäten die Qualität des Ganzen hochhalten.

Und die Gänse vom Kapitol, die anno dazumal das römische Reich retteten? Fehlanzeige. Dafür hat sich noch niemand erwärmen können. Das zeigt eine Grenze des Projekts: Aufgenommen wird nur, wofür wenigstens ein Mensch bereit ist, seine Zeit aufzuwenden. Am Themenspektrum merkt man, dass die "Wikipedia" überwiegend von Amerikanern geschrieben wird. Nicht englischsprachige Ableger wie der deutsche sind erst später gestartet worden und deswegen noch relativ klein. Und Exotisches aller Art findet hier eine große Spielwiese, von einer lehrbuchreifen Darstellung der eher abseitigen "surreal numbers" bis zu einer Wikipedia auf "plattdüütsch".

Bei aller Freiheit gibt es ausführlich formulierte Richtlinien. Die wichtigste ist "NPOV" wie "neutral point of view": Stelle nie eine Meinung als Tatsache dar; dass manche Leute eine Meinung haben, ist eine Tatsache, die du – höflich und mit sympathischer Grundeinstellung – darstellen darfst. "Schreibe für deine Feinde." Natürlich hilft diese Vorgabe nicht, den "edit war" zwischen Idealisten verschiedener Art zu vermeiden – im Einzelfall ist schon der Unterschied zwischen Tatsache und Meinung strittig. Aber der Krieg wird kanalisiert, in separaten Diskussionsseiten zu jedem Artikel – und überraschend häufig beigelegt. So kommen Glanzstücke zu Stande wie der Artikel über den in den USA heftig diskutierten Kreationismus. In dem Bemühen, allen Seiten gerecht zu werden, geraten solche Werke sehr lang; aber das fällt im Internet nicht unangenehm auf.

Irgendwo im Verborgenen hat auch die hochgehaltene Änderungsfreiheit ihre Grenzen. Allzu hartnäckigen Vandalen wird der Zugang verwehrt, einige Seiten wie die Eingangsseite sind gegen Änderungen gesperrt, und für den äußersten Notfall steht Jim Wales bereit, im Hauptberuf Betreiber einer kleinen Suchmaschine namens "Bomis", Mitinitiator und bisheriger Finanzier des Projekts. Er ist nach eigener Darstellung der "wohlwollende Diktator" der Wikipedia-Gemeinde, der sich das letzte Wort vorbehält.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2003, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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