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Wissenschaft im Internet: Das Beziehungsnetz der Geschichte



Man lästere nicht voreilig über die Unfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Wissenschaftssystems. Wenn sich mehrere staatlich finanzierte Institute zusammentun, kommt manchmal etwas sehr Beeindruckendes dabei heraus. Diesmal sind es das Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik (ISST), das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin und das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (HdG) in Bonn; der Verein zur Förderung eines deutschen Forschungsnetzes (DFN-Verein) und indirekt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geben auch etwas dazu. Das Ergebnis heißt "Lebendiges virtuelles Museum Online" und ist unter www.dhm.de/lemo zu finden.

Allerdings ist die Softwaretechnik nicht das Bemerkenswerte an der Web-site. Man hat die Auswahl zwischen der klassischen (HTML-) und einer dreidimensionalen, vom Benutzer steuerbaren (VRML-)Präsentation – und tut gut da-ran, sich auf das Klassische zu beschränken. Die VRML-Designer bieten kaum mehr als ein paar mühsam mit Sinn beladene geometrische Formen; mehr hätte die Ladezeiten zu weit hochgetrieben. An Inhalten kommt auch nur das, was man einfacher in HTML zu sehen bekommt: Die Bedienung des VRML-Browsers ist gewöhnungsbedürftig.

Dagegen haben die Autoren der Website in der altehrwürdigen Philologie erstklassige Leistungen vollbracht. Thema ist die Geschichte Deutschlands von 1900 bis 2000, und dazu gibt es wahrhaftig viele Ereignisse, viele Geschichten handelnder Personen, viele Zusammenhänge zu erzählen. Die biedere Technik des Hyperlinks genügte, um unter den Teilen des Materials ein sehr dichtes, attraktives Beziehungsnetz zu knüpfen.

Kollektives Gedächtnis

Zum Eingang findet der Benutzer das vergangene Jahrhundert in die nahe liegenden Epochen aufgegliedert und zu jeder Epoche eine Auswahl an zusammenfassenden Essays angeboten. Zahlreiche Verweise führen in die reichlich gefüllte Materialkammer: Fast 3400 Einzelexponate (darunter zahlreiche Fotos und Plakate), 196 Dokumente (Reden, Gesetze, Verträge), 244 Hörbeispiele, 199 Videos und 236 Erinnerungen von Einzelpersonen ("kollektives Gedächtnis") bilden das Rohmaterial, das durch 100 Chroniken (eine für jedes Jahr) und 770 Biografien weiter erschlossen wird.

Die Zeithistoriker haben die heikle Aufgabe, das Leben noch aktiver Politiker und damit auch ihrer offiziellen Geldgeber zu beschreiben, mit Bravour gelöst. Das Wiedersehen mit dem Porträt manches Prominenten, als er noch weniger grau und faltig war, macht Freude. Dass die meisten Biografien 1999 enden und Bill Clinton noch nicht unter den Beschriebenen ist – man soll nicht zu viel verlangen.

Muss ein solches Projekt öffentlich-rechtlich sein? Nicht unbedingt. Die von dem amerikanischen Sender A&E TV betriebene Website www.HistoryChannel.com bietet nicht nur die letzten hundert Jahre, sondern die ganze Weltgeschichte, aus amerikanischer Perspektive. Das Material ist ähnlich reichhaltig und ebenso intensiv intern verknüpft; wegen der viel größeren Zeitspanne enthält es weniger Einzelheiten pro Jahr. Viel Werbung und ein kurzer Link zum eigenen Internet-Shop scheinen das anspruchsvolle Projekt zu finanzieren. Die Schwester-Website www.biography.com informiert einen ausreichend über Clinton; dass sie Helmut Kohl (mit Copyright 2001) noch für den deutschen Bundeskanzler hält – man soll nicht zu viel verlangen.

Gemessen an dem großen bunten amerikanischen Vorbild wirkt der deutsche Nachahmer www.weltchronik.de kläglich. Die betreibende Softwarefirma ICA-D (International Consultants Agency Deutschland) ist offensichtlich zu klein, um den erforderlichen Aufwand über den Werbeetat wegzustecken, und muss deswegen für ein deutlich magereres Angebot ziemlich penetrant beim Benutzer die Hand aufhalten.

Schade, dass es noch keinen allgemein verbreiteten, bequemen Mechanismus zur Bezahlung von Kleinbeträgen über das Internet gibt. So viel wie für eine SMS wäre man ja für ein Informationshäppchen zu zahlen bereit …

Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2002, Seite 113
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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