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Wissenschaft im Internet: Die Weltbibliothek der Mathematik



Am 12. und 13. April hat der Weltverband der Mathematiker (Internation-al Mathematical Union, IMU) ein Konzept namens "Math-Net" verabschiedet, das die Arbeit der Berufsmathematiker revolutionieren soll.

Die Revolution kommt auf sehr leisen Füßen daher. Erstens in der Form: Da die IMU ihren sehr autonomiebewussten Mitgliedern nichts vorschreiben kann noch will, äußert sie nichts weiter als eine sorgfältig formulierte Empfehlung. Zweitens im Inhalt: Jedes mathematische (Universitäts- oder Forschungs-)Institut möge seine ohnehin vorhandene Website mit einer standardisierten "Math-Net"-Seite anreichern ( www.math-net.org ). Dem Benutzer erscheint diese (zum Beispiel: http://web.mathematik.uni-freiburg.de/Math-Net/index_de.html ) als ein in geschmackvollem Blau gehaltenes Schränkchen mit einheitlich beschrifteten Schubladen für Mitarbeiter, Studenten, Veröffentlichungen und anderes. In diese Schubladen packt jedes Institut zunächst das, was es ohnehin zum jeweiligen Thema im Web bereithält, und das ist zurzeit noch sehr uneinheitlich. Zudem muss Math-Net, das aus einer deutschen Initiative hervorgegangen ist, sich noch verbreiten. Bisher hat in den USA erst eine einzige Institu-tion, die Duke-Universität in Durham (North Carolina), eine Math-Net-Seite.

Die standardisierte Form ist nicht in erster Linie für den Benutzer, sondern für ein automatisiertes Suchsystem wichtig. Über einen allgemeinen Server wären dadurch die Schätze jedes Instituts durch Eingabe eines Stichworts oder anderer Suchkriterien leicht auffindbar. Das Institut müsste nur die eigene Math-Net-Seite mit den richtigen Hilfsinformationen ("Metadaten") versehen.

Das funktioniert noch nicht bei der Personensuchmaschine "Persona Mathematica", weil die zugehörige Software, unbezahlt von IMU-Mitgliedern geschrieben wie alles, was zu Math-Net gehört, noch nicht fertig ist. Weit besser ist der Literaturservice MPRESS. Nach einer Vielzahl von Suchkriterien ist dort jede mathematische Arbeit, die auf einem Institutsserver lagert, auffindbar.

Damit ergreift die IMU eine neue Initiative zur Lösung eines immer drängenderen Problems: Wissenschaftliche Zeitschriften drohen unbezahlbar zu werden (Spektrum der Wissenschaft 3/1995, S. 39). Damit wären schon in wenigen Jahren die meisten wissenschaftlichen Arbeiten, mit Ausnahme der aktuellsten, faktisch unzugänglich.

Das Problem trifft alle Wissenschaften, aber die Mathematik verschärft: Ihre Literatur ist besonders unübersichtlich und zugleich besonders haltbar. Wenn ein Mathematiker den Anspruch seines Fachs, ewige Wahrheiten zu produzieren, erfüllt – und das kommt vor –, dann kommen seine Sätze zwar aus der Mode, aber gewinnen häufig zwanzig Jahre später in einem anderen Kontext Bedeutung.

Nur findet sie dann niemand mehr, denn an die Zeitschrift, in der damals die Ergebnisse veröffentlicht wurden, ist nicht heranzukommen – und an die elektronische Version auch nicht, denn niemand hat sich darum gekümmert, sie für die neueste Softwareversion lesbar zu machen. Zentralisierte Lösungen des Problems wie das Archiv www.arxiv.org für Preprints aus aller Welt sind auf lange Sicht stets von Abschaffung bedroht. Stattdessen will die IMU die große Last auf viele kleine Füße stützen: Homepage des Autors, allgemeines Archiv und elektronische Bestände der Zeitschriftenverlage; dies alles verbunden durch eine Struktur wie Math-Net.

Der Gesamtbestand der Literatur soll kostenlos verfügbar sein. Der zuständige Ausschuss der IMU, das "Committee on electronic information and communica-tion (CEIC)", legt in der Empfehlung "Best current practices" ( www.ceic.math.ca/ ) den wissenschaftlichen Zeitschriftenverlagen nahe, nach einer angemessenen Frist alle Artikel frei ins Netz zu stellen. Das Erschließen des Bestandes könne gleichwohl gebührenpflichtig sein.

Ein viel ehrgeizigeres Projekt hat John Ewing, der geschäftsführende Direktor der American Mathematical Society (AMS), auf den Weg gebracht: die gesamte mathematische Literatur der letzten 2000 Jahre digital verfügbar zu machen ( www.ams.org/ewing/Twenty_centuries.pdf ). Wenn jeder Mathematiker nur seine eigenen Werke aus der grauen vor-elektronischen Frühzeit einscanne und verfügbar mache, sei schon ein großer Teil der Arbeit getan. Der Rest sei mit öffentlichen Fördergeldern finanzierbar, und der Speicherplatzbedarf? Bescheidene 1000 Gigabyte. Beim gegenwärtigen Tempo des technischen Fortschritts passe in zehn Jahren alle Mathematik der Welt auf die Festplatte eines Laptops.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2002, Seite 115
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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